Daniela Hochstein

Daimonion


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an, begleitet von dem ewig geduldigen Schlaf, und kam dem Wahnsinn letztendlich zuvor.

      Dafür aber trieb mich der Irrsinn umso gnadenloser in der folgenden Nacht.

      Ich schlug die Augen auf und war nicht mehr ich selbst. Wie eine ausgehungerte Bestie sprang ich auf, kletterte in Windeseile aus der Grotte heraus und rannte in die Nacht hinaus, auf der besessenen Suche nach Menschenblut. Meine ohnehin schon empfindlichen Sinne übernahmen dazu die Führung mit übernatürlicher Schärfe. Von dem puren Instinkt eines Raubtiers gesteuert, spürte ich meine Opfer auf und fiel über sie her. Dabei machte ich keine Unterschiede zwischen ihnen. Jeder Mensch, der leichtsinnig genug war, sich nach Einbruch der Dunkelheit noch außerhalb der Stadtmauern herumzutreiben, war mir recht. Ich habe dabei keine klare Erinnerung an irgendwelche Einzelheiten. Ich weiß nicht einmal, wie viele Menschen ich in jener Nacht tötete - oder sollte ich besser sagen: abschlachtete?

      Aber irgendwann hörte es dann endlich auf. Die Bestie war satt. Mein Verstand klarte auf, wie der Himmel nach einem schweren Gewitter, und nun durfte ich mir die Reste dessen betrachten, was ich angerichtet hatte.

      Ich schaute mich um, als wäre ich gerade erst aus einem schlafwandlerischen Albtraum erwacht und war entsetzt über das, was ich vor mir erblickte.

      Vor mir lagen drei grausam zugerichtete Leichen von Menschen, die dem äußeren Anschein nach – oder dem, was noch davon übrig war - keine bösen Absichten oder Gedanken gehabt hatten, als sie unglücklicherweise meinen Weg kreuzten. Ich hingegen war mit ihnen in meinem Blutrausch nicht zimperlich umgegangen. Einem Mann hatte ich die Kehle so zerfetzt, dass der Kopf abgerissen neben seinem Körper lag. Einem weiteren Mann hatte ich, wie es aussah, sämtliche Knochen, einschließlich des Genicks gebrochen. Er lag schneeweiß und völlig verdreht am Boden. Die Dritte im Bunde war eine Frau. Ihr hatte ich den Brustkorb auf und das Herz herausgerissen, welches nun, bloß noch ein schlaffes Häuflein Fleisch, leergesaugt neben ihr lag.

      Dieser grauenvolle Anblick war genug dessen, was ich ertragen konnte. Abrupt wandte ich mich von dem Zeugnis meiner unzweifelhaften Grausamkeit ab und schaute erschüttert hinauf zu den Sternen.

      `Was, Gott, hast du mir angetan?´, flüsterte ich zunächst fassungslos, doch dann packte mich plötzlich eine noch nie gekannte Wut. Ich ballte meine Hände zu Fäusten und schrie in den Himmel: `Verdammt, was hast du nur aus mir gemacht?´

      Ich schrie diese Worte so laut, dass mir die Kehle brannte, aber meine Stimme verhallte bloß ungehört in der alles überdeckenden Dunkelheit. Eine Antwort bekam ich nicht. Allein eine der mir bereits bekannten Fledermäuse hing an einem Ast und schaute mich stumm an.

      `Siehst du das?´, herrschte ich in Ermangelung eines Schuldigen nun sie an und zeigte mit meinem Finger auf das Schlachtfeld hinter mir. `Siehst du, was ihr aus mir gemacht habt? Sieh dir das an! IHR HABT MIR DAS ANGETAN!´ Und weil ich nicht wusste, wohin mit meinem rachesüchtigen Zorn, bückte ich mich, griff nach einem faustgroßen Stein und schleuderte ihn mit meiner ganzen Kraft nach ihr. Doch sie blieb bloß stoisch an ihrem Platz, als wüsste sie bereits, dass der Stein sie verfehlen würde. Er prallte letztlich mit einem lauten Knall an dem Baumstamm ab, wo er eine tiefe Kerbe hinterließ, und schoss raschelnd ins Gebüsch, in dem er nichtsnutzig verschwand. Überschäumend vor Wut stürmte ich davon. Ich rannte einfach drauf los, ohne zu wissen, wohin. Ich rannte, so schnell ich konnte, in der Hoffnung dieses elende Szenario damit hinter mir lassen zu können. Ich rannte und rannte, durch den Wald, über Wiesen und Felder. Ich rannte solange, bis ich mich auf einmal vor dem Anwesen meiner Eltern wieder fand.

      Überrascht blickte ich auf. Ich hatte gar nicht vorgehabt, hier her zu kommen, denn ich wollte nicht, dass meine Familie erfuhr, welch abscheuliches Wesen aus mir geworden war. Noch viel weniger wollte ich sie in Gefahr bringen. Und doch, nach dem größten Unheil, das ich angerichtet hatte, war ich, ohne es zu bemerken, nach Hause gerannt.

      Nach Hause... Wie sehr fehlte mir mein zu Hause! Nun stand ich davor, und doch schien es für mich unerreichbar fern zu sein. So gerne wollte ich bei meiner Familie sein, und doch durfte ich mich ihr unter keinen Umständen zeigen.

      Suchend schaute ich mich daher nach einem nah gelegenen Unterschlupf um, in dem ich mich verkriechen und wenigstens der Illusion hingeben konnte, daheim zu sein! Aber wo konnte ich mich vor der Sonne schützen, ohne entdeckt zu werden?

      Mein Blick fiel auf den kleinen, längst nicht mehr benutzten Friedhof, der einstmals unseren Vorfahren als Grabstätte gedient hatte. Er lag etwas abseits des Haupthauses, am Rand eines kleinen Wäldchens, umgeben von hochgewachsenen Sträuchern, die schon lange nicht mehr zurecht geschnitten worden waren. Dort – das wusste ich noch von meinen Streifzügen mit Elisabeth aus Kindertagen - gab es eine kleine versteckte Gruft, die damals noch gut erhalten gewesen war. Seit Jahren war ich nun nicht mehr dort gewesen und ich war mir nicht sicher, ob sie überhaupt noch existierte.

      Lautlos eilte ich zu dem Friedhof hinüber, wobei ich darauf achtete, mich nach Möglichkeit von Schatten zu Schatten zu hangeln, um nicht zufällig gesehen zu werden. Dort angekommen, fand ich die Gruft in der Tat noch unversehrt vor, obgleich die Dornensträucher den Eingang mittlerweile unpassierbar gemacht hatten. Aufgeregt griff ich mit der bloßen Hand nach dem Gestrüpp und riss es zur Seite, um mir Zugang zu verschaffen. Die Dornen stachen mir dabei zwar in das Fleisch meiner Hände und hinterließen dort blutige Wunden, doch innerhalb von wenigen Augenblicken schlossen sie sich wieder und Schmerzen spürte ich immer bloß für einen kurzen Moment.

      Bald schon erkannte ich den schmalen Spalt, den eine schwere steinerne Platte von dem Eingang übrig gelassen hatte. Damals, als wir noch kleine Kinder waren, hatte uns dieser Spalt ausgereicht, um uns hindurchzuzwängen. Jetzt aber war ich zu groß dafür. Daher griff ich mit den Fingern hinein und zog die Platte zur Seite. Einem gewöhnlichen Menschen wäre das wohl kaum alleine gelungen. Aber für mich war es zu meiner eigenen Verblüffung ein Kinderspiel.

      Sobald die Öffnung groß genug war, duckte ich mich und trat ein. Drinnen konnte ich wieder aufrecht stehen und als ich mich umblickte, stellte ich zufrieden fest, dass der Platz für mich ausreichen würde, obwohl mir der Innenraum größer in Erinnerung geblieben war. Aber es sollte ja nichts weiter sein als eine Schlafstätte. Also schob ich die Steinplatte wieder vor den Eingang und schloss mich in der Gruft ein, welche hiernach absolut dunkel war. Natürlich konnte ich trotzdem noch ausreichend sehen, aber von außen drang kein Lichtstrahl herein, was bedeutete, dass ich hier auch vor der Sonne keine Furcht zu haben brauchte.

      Die Mitte der Gruft wurde von einem Sarkophag aus Marmor ausgefüllt. Auf dem Deckel war unser Familienwappen eingemeißelt, ein von einem Schwert gekreuztes Eichenblatt. Unter dem Wappen befanden sich Name und Daten des Verstorbenen, die mir allerdings nicht viel sagten. Sein Tod lag bereits zu lange zurück, als dass er in der Erinnerung unserer Familie noch präsent gewesen wäre.

      Nachdenklich betrachtete ich den Sarg. Was wäre, wenn am Tage doch noch ein winziger Sonnenstrahl durch eine kleine, in der Nacht leicht zu übersehende Lücke im Gestein herein gelangen würde? Wäre in diesem Fall ein zusätzlicher Schutz nicht doch besser?

      Kurz entschlossen hob ich schließlich den schweren Marmordeckel an und schob ihn etwas zur Seite, um skeptisch in den Sarg hinein zu lugen. Wie erwartet, fand ich darin die kläglichen Reste meines Vorfahren, wobei von diesem nun vielmehr bloß Staub und ein paar vereinzelte Knochen übrig geblieben waren. Dennoch war mir etwas mulmig zumute, als ich den Sarg noch ein Stück weiter öffnete und schließlich mit einem durchaus beachtlichen Maß an Überwindung begann, die Überreste mit meinen bloßen Händen herauszuschaufeln. Als ich dabei meine Finger zum ersten Mal in die mehlig, fettige Masse grub, überkam mich unwillkürlich ein plötzlicher Brechreiz, den ich nur mit Mühe unterdrücken konnte und der mich dazu zwang, meinen Plan noch einmal grundlegend zu überdenken. Zuletzt aber führte ich mir meine Taten aus den letzten Nächten vor Augen und kam zu dem Schluss, dass ich mir den Luxus des Ekels derzeit wohl kaum erlauben konnte. Und so fuhr ich denn fort, meinen Ururgroßvater Schub für Schub aus seiner letzten Ruhestätte heraus zu expedieren. Da ich mich allerdings dennoch nicht mit dem Gedanken anfreunden konnte, die sterblichen Überreste meines Vorfahren einfach auf den Boden zu werfen und womöglich auch noch darauf herum zu trampeln, öffnete ich noch einmal die Gruft, um sie schließlich