Daniela Hochstein

Daimonion


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wo die Häuser kleiner und ärmlicher wurden und die Sträßchen schmaler und schmutziger, fand ich dort noch immer reichlich Leben, wenn auch auf deutlich niedrigerem sozialen Niveau.

      An Nahrung jedenfalls würde es mir in dieser Stadt nicht mangeln, jedoch – wie ich schon fast befürchtete - an Gelegenheiten, diese möglichst unentdeckt zu mir zu nehmen... Aber ich war mir sicher, zu späterer Stunde würde sich auch dieses Problem rasch erledigen.

      Alles zusammen betrachtet, gefiel es mir an diesem Ort und ich entschied mich daher sehr schnell, vorerst hier zu bleiben und mir – am liebsten mittendrin und möglichst anonym - eine dauerhafte Bleibe einzurichten. Eine Aufgabe, die ich mir für die kommenden Abende auferlegte.

      Heute jedoch wollte ich mich einfach dem Treiben der Menschen hingeben und darin eintauchen wie in ein Bad nach einer langen, staubigen Reise. Allerdings musste ich zuvor noch dafür sorgen, dass mich dieses Eintauchen nicht am Ende Kopf und Kragen kosten würde, denn meinen Durst hatte ich noch nicht gestillt und auch wenn er jetzt noch nicht sehr drängte, so wollte ich es nicht darauf ankommen lassen.

      Also musste ein betrunkener Bettler, den ich schlafend in einer verlassenen Gosse fand, sein Leben für mich lassen. Glücklicherweise merkte er nicht viel davon, er schlief einfach weiter und würde nun lediglich nie wieder erwachen. Nebenbei war dies eine wunderbare Gelegenheit, meine gerade erst neu entdeckte Gabe direkt auszuprobieren. Denn ich war fest entschlossen, in meiner neuen Heimat keine Spuren zu hinterlassen, die sonst bloß wieder Anlass für Gerüchte über Dämonen oder Vampire gegeben und mir nur zu bald das Leben hier deutlich erschwert hätten.

      Bevor ich mir also die Mühe machte, die Leiche zu beseitigen – ich hätte sie entweder im Fluss versenkt oder irgendwo vergraben, allerdings mit der Schwierigkeit, sie zuerst unbemerkt bis dorthin transportieren zu müssen – biss ich mir nach einem kurzen Moment der Überwindung einmal kräftig auf die Zunge. Sofort schmeckte ich einen warmen, süßlichen Schwall daraus hervorschießen, der unmittelbar darauf einen imperativen Schluckreflex bei mir auslöste. Schließlich leckte ich mit meiner blutenden Zunge über die Bisswunden, die ich am Hals des Bettlers hinterlassen hatte, und beobachtete danach gebannt, was nun geschehen würde.

      Jedoch vergeblich, denn die Wunden blieben unverändert und unverkennbar. Es gab nicht den geringsten Hinweis darauf, dass sich daran in Kürze noch etwas ändern würde. Bei Toten schien meine Gabe also nicht zu wirken.

      Enttäuscht hockte ich vor dem verblichenen Bettler und stellte mich mit einem tiefen Seufzer schon auf eine mühselige Nacht ein, da geschah es: Die unheilvoll aufklaffende Bissspur, die meine Zähne in seine Haut geschlagen hatten, zog sich langsam von ihrem Rand her zusammen, bis sie sich bald vollständig geschlossen hatte, und ebenso verblasste die hiernach zurückgebliebene, rosige Narbe in Windeseile, sodass auch sie zuletzt spurlos verschwunden war. Verblüfft strich ich noch einmal mit meinen Fingern über die Stelle, die vorhin noch so wonnevoll geblutet hatte, doch auch zu tasten war dort nun nichts weiter mehr, als unversehrte, bloß von den Ausläufern eines Bartes behaarte Haut. Erleichtert atmete ich auf und nachdem ich noch einen Moment abgewartet hatte, als traute ich diesem Phänomen noch nicht recht, erhob ich mich zufrieden und ging meiner Wege, ohne mich noch weiter um den Leichnam zu scheren.

      Ein bestimmtes Ziel hatte ich dabei nicht vor Augen. Doch aus der Ferne wehte ein Konzert aus Geräuschen zu mir herüber, die mir menschliche Geselligkeit versprachen und von denen ich mich plötzlich magisch anzogen fühlte. Also folgte ich ihnen und gelangte auf diese Weise bald in ein Viertel, in dem es eine reiche Auswahl an engen Tavernen und kleinen Gasthäusern gab, welche sich gegenseitig ohne Zweifel scharfe Konkurrenz lieferten. Allerdings wohl nicht an einem warmen Frühlingsabend wie diesem, denn es waren genug Menschen unterwegs, dass keiner der Wirte um seinen Gewinn zu fürchten brauchte.

      Beschwingt ließ ich mich durch die, aus dutzenden Fenstern heraus erleuchteten Gassen treiben. Wie ein Verdurstender schwamm ich in einem See aus fröhlicher Musik, lautem Stimmengewirr und Gelächter, das aus den geöffneten Türen der Schänken zu mir hinaus drang.

      Anfangs genügte mir das noch. Aber bald schon, als der erste Hunger nach Lebendigkeit gestillt war, verspürte ich das unbändige Verlangen, in eines der Wirtshäuser hinein zu gehen, um dort dem ausgelassenen Treiben der Menschen noch ein Stück näher zu sein. Ganz willkürlich wählte ich mir daher eines von ihnen aus und steuerte geradewegs darauf zu. Vor dem Eingang zögerte ich zwar noch einen Augenblick, denn ich hatte noch keine Ahnung davon, wie sich eine derart große, beengte Menge von Menschen auf mich auswirken würde. Doch die beruhigende Tatsache, dass ich vorerst gesättigt war, ließ mich letztendlich das Wagnis eingehen und die einzige Stufe zu der Wirtschaft hinaufsteigen, um sie zu betreten.

      Als ich eintrat, schlug mir warme, verbrauchte Luft entgegen, geschwängert von einem Gemisch aus ranzigen, muffigen, wie auch würzigen, holzigen und schmackhaften Gerüchen, an deren Intensität sich meine empfindliche Nase erst einmal gewöhnen musste. Ich verharrte noch einen Moment im Eingangsbereich und ließ meinen Blick durch den kleinen, in schummriges Licht getauchten Raum schweifen.

      Überall, wo ich auch hinsah, waren Menschen. Sie standen an der Theke, saßen an den Tischen, redeten aufeinander ein, brüllten vor Lachen oder schunkelten und sangen zu der Musik, mit der ein Harmoniumspieler, der an einem Barhocker lehnte, für heitere Stimmung sorgte. Die Wirtin bahnte sich, beladen mit dampfenden Speisen, die sie geschickt auf ihren Unterarmen balancierte, ihren Weg durch die Reihen der kartenspielenden, biertrinkenden und scherzenden Männer.

      Ich stand da und war im Nu voller Begeisterung. Mein Herz sprang in meiner Brust, als wolle es gleich eifrig mittanzen und ein Kitzeln breitete sich in meiner Kehle aus, dass ich am liebsten laut gelacht hätte. Wie schön war es, fröhliche Menschen um sich zu haben und sich von ihrer Lebensfreude anstecken zu lassen! All die erdrückende Trübsal, die sich in den letzten Monaten in meiner Brust angesammelt, ja, sich bis in die letzte Pore meines Körpers festgesetzt hatte, löste sich auf einmal in fast kindliche Unbeschwertheit auf. Bald war ich so mit der Menge um mich herum verschmolzen, dass ich beinahe vergaß, was ich in Wirklichkeit war. Es kam sogar soweit, dass ich mir, sobald ich mich an einen freigewordenen Tisch gesetzt hatte, aus einer seltsamen Laune heraus ein Bier sowie, nach kurzem Zögern, auch noch eine Portion Bratkartoffeln bestellte.

      Seit meiner Verwandlung hatte ich noch kein einziges Mal probiert, etwas anderes zu mir zu nehmen als Blut, und auf einmal wunderte ich mich, warum ich bisher noch nicht einmal darüber nachgedacht hatte... Plötzlich war ich fast besessen von dem Wunsch, Bratkartoffeln mit einem Bier dazu zu essen, und während ich ungeduldig darauf wartete, dass die Wirtin mir die ersehnte Mahlzeit endlich servierte, versuchte ich angestrengt, mir den Geschmack wieder in Erinnerung zu rufen. Doch ich hatte ihn vergessen.

      Als dann das Gericht schließlich vor mir stand und mir sein in kleinen Wölkchen aufsteigender Duft verlockend um die Nase strich, erfüllte mich eine wohlige Vorfreude. Um den Geruch noch intensiver auszukosten, beugte ich mich über den Teller und sog genussvoll die Luft durch die Nase. Doch ich hatte den Atemzug noch nicht ganz zu Ende getan, da wurde meine Freude durch einen jähen Anfall von Übelkeit schlagartig wieder zunichte gemacht. Zunächst irritiert, doch dann zutiefst enttäuscht, schob ich das Essen ein Stück von mir fort.

      Sollte es das gewesen sein? Würde ich in meinem ganzen restlichen Leben – und wer wusste, wie lange das noch dauern würde – niemals mehr etwas anderes kosten dürfen als Blut? Waren all die Geschmäcker dieser Erde für mich nun tatsächlich unwiederbringlich verloren, während meine feine Nase sie jedoch in all ihren vielversprechenden Facetten zu durchdringen vermochte und sie mir auf einem silbernen Tablett präsentierte?

      Nein! Das wollte ich nicht einfach so hinnehmen!

      Fest entschlossen, das Essen - allen inneren Widerständen zum Trotz - zu probieren, zog ich den Teller wieder an mich heran, spießte einen Stapel Bratkartoffeln auf meine Gabel und hob sie an. Doch während die Speise durchaus noch in der Lage war, mir Appetit zu bereiten, solange sie sich in sicherer Entfernung zu mir befand, so nahm dieser nun rapide ab, je näher sie meinen Lippen kam. Als ich mir schließlich die Gabel mit den Bratkartoffeln in den Mund führte, musste ich dabei sogar die Luft anhalten, damit der Geruch mich nicht zuletzt davon abhielt, die Bewegung auch zu Ende zu bringen.