Ingo M. Schaefer

ARTIR - Krieger der Wahrheit


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Die rote Schlame sah mich seltsam an. Sie schien etwas in mir zu suchen. Plötzlich erkannte sie etwas und fasste sich mit den Händen ins Gesicht, während sie weinend zu Boden sank und kniete.

      „Du lebst“, freute sich die Schlame. Sie barg ihr Gesicht wieder in den Händen und weinte mehr. Die Stille war vollkommen.

      „Ist er ein...?“, hörte ich ein Flüstern oben an den Fenstern.

      „Still!“ Ebenfalls ein Flüstern, aber ich blickte in die Gesichter, die diese Worte aussprachen. Sie sahen mich durch Angst erweiterte Augen an. Nicht wenige Hände zitterten, wie Oxbas am Strand. Fürchteten sie mich, den Kraftlosen?

      Je näher die alte Delme mir kam, um so mehr schien sie gegen eine Kraft zu kämpfen.

      Zum ersten Mal in meinem Leben bewirkte ich etwas. Ich war nützlich. Die Wahrheit rettete die Unschuldigen. Ich half und blieb unverletzt. Nahmen sie mich auf? Ich wollte bei ihnen bleiben, zu ihnen gehören.

      7

      Sedara stand vor mir, mit zitternden Händen strich sie mir sanft über die Wange. Ihre Tränen beachtete sie nicht.

      „Es tut mir so leid“, bat Sedara, dann ergriff der Zauber auch sie. Eisige Ablehnung. Ihre Augen wurden abwesend, wie Vomias, wie Menschenaugen in allen anderen Städten. Sie kämpfte dagegen an. „Artir, du musst gehen! Sofort!“ Sie winkte Arden und Sardengo heran. „Oschla, Boxren und ihr beide! Geleitet diesen Mann sofort aus der Stadt! Rasch! Wenn er nicht gehen will, tragt ihn, aber fügt ihm kein Leid, keine Schmerzen zu und - sprecht nicht mit ihm! Er fürchtet den Tod nicht. Den haben sie nie gefürchtet.“

      Sedara trat zurück, drehte sich um und ging, ohne mich anzusehen. An ihre Stelle traten sofort die Genannten. Oschla war die Schlame am Boden. Sie wischte sich die Augen trocken, aber folgte der Aufforderung der alten Delme, sah mich nicht mehr an.

      Ich hatte mich gut gefühlt. Ich tat das Richtige, als ob ich dies schon immer gekonnt hätte. Ich konnte die Wahrheit bis zum Ende sagen. Bisher war es bei Versuchen geblieben, weil jene, die ich zu überführen gedachte, sich mit Waffen und Kraft wehrten. Heute siegte die Wahrheit. Mein erster Sieg. Bitter. Hatte ich mich vorher alleine gefühlt, so kam jetzt die endgültige Einsamkeit.

      Ich erstarrte und war sprachlos, verletzt, zu verunsichert, um wütend zu sein. Ich verhinderte ein Verbrechen, klärte dazu einen fatalen Irrtum auf. Gurwass antwortete mit Ausschluss. Das war schlimmer, schmerzhafter als jede Folter und alle Verletzungen, die ich bisher ertragen musste. Diese mit Tränen angereicherte Vertreibung durchbohrte mein Herz.

      8

      Zwei gingen hinter mir, Sardengo und der Loxmen. Arden und Oschla hielten neben mir mühsam Schritt. Wir verließen die Stadt und gingen durch den Pflanzengürtel. Menschen aller Farben sammelten diverse Früchte ein. Sie unterbrachen die Arbeiten und sahen unserer kleinen Prozession hinterher. Dann widmeten sie sich wieder den Nährstofflieferanten.

      Mittlerweile hatten meine Begleiter Schwierigkeiten mitzuhalten. Ich bewegte längere Beine. Ich entschied, dass dies deren Problem war. Mit meinem tauben Arm in der Schlinge wollte ich warten, um den Nadelbaumgürtel zu verlassen, andererseits wollte ich diese zweifelhafte Gesellschaft umgehend loswerden.

      Arden und Oschla, das sah ich aus den Augenwinkeln, drehten ihre Köpfe öfter in meine Richtung. Ihre Neugier schien sie platzen zu lassen. Der Ring aus Bäumen kam rasch näher. Ledergreife nisteten dort und stiegen in die Lüfte auf, entfernten sich von der Stadt. Ich sah sie mit Sorge. Um diese Zeit im Grasland stand ich ganz oben auf deren Wunschliste. Jemand war wohl meinen Blicken gefolgt und keuchte leicht, begriff, wie mein Leben aussah.

      Ohne ein Wort ging ich voran in das trübe Licht inmitten der hölzernen Riesen. Ein kleiner geschlängelter Pfad führte durch das Dickicht. Körbe und Kisten wurden hier nicht transportiert, fiel mir auf. Am Ende grenzte ein Saum dicht stehender Nadelbäume die Wildnis aus. Ich ging weiter und spürte, dass die anderen stehen blieben.

      Ich drehte mich zu ihnen um. Sie standen verloren da, aber mein Mitgefühl hatte Gurwass in den Belt gespült.

      „Ich danke für die Eskorte. Ich werde die Menschen aus Gurwass als jene in Erinnerung behalten, die einen Morgengruß nicht erwidern.“

      Ich drehte mich um, überschritt die Grenze und verschwand zwischen den Gräsern. Ich ließ mich sofort am Boden nieder und hantierte mit meiner Tasche, um mich mit Spucke einzureiben. Der Geruch würde mich vor Naveren schützen, bis ich zu meiner Tasche kam. Ich stülpte die Kapuze über mein Haar und ging gebückt weiter. Die vier entließen mich am südlichsten Punkt der Stadt. Ich sah das Südgebirge, dass sich über den gesamten Horizont erstreckte. Der Anblick lockte mich sehr.

      Kapitel 6

      Umgehend suchte ich meine Tasche. Das dauerte länger als gedacht. Ich konnte mich nicht entsinnen, Nadelbäume wachsen zu sehen. Meine Tasche hing höher als am Abend zuvor.

      Mein nutzloser Arm zwang mich, auf dem Ast zu schlafen. Halbschlaf war ich gewohnt. Meine Ohren schalteten sich nie ab.

      Mich zog etwas in die Berge, je öfter ich die weiß bedeckten Felsriesen sah. Die Stadt Sliber wollte ich nicht mehr sehen. Ich betrachtete sie als Nest voller Dacmen und Vomen.

      Zuerst musste mein rechter Arm heilen. Abwarten und hungern. Erst der Arm, dann der Proviant, dann der Transport. Aber wie?

      Nach meinen Erfahrungen im Nordgebirge schien das Südgebirge mindestens zehnmal breiter und unendlich lang. Die vorderen Bergspitzen löcherten bereits die hoch vorbeiziehenden Wolken. Höhere Berge dahinter konnte ich nur erahnen.

      Im Norden überlebte ich Schneestürme und schnell wechselnde Wetterlagen. Für das Südgebirge erwartete ich schlimmere, größere Gefahren.

      Ich hatte alles versucht, um Anschluss bei den Menschen zu finden. Sie wollten mich nicht. Mochte Oxba freundlich gewesen sein, ich war uninteressant für ihn, weil ich nicht kräfftern konnte. Mochten Männer und Frauen aus mir unbekannten Gründen geweint haben, als sie mich davon schickten, oder eine Schlame mir einen Stein senden. Das alles war ohne Bedeutung für mich, wie die Zeit, wenn man entschieden hat.

      „Zeit ist unbedeutend, wenn Entscheidung alles ist.“

      Diesen Satz lernt man im Sucherhort zuerst auswendig. Die Weisen verabschieden jeden mit diesem Satz aus dem Hort.

      Meine Entscheidung stand aus. Auch wenn ich niemandem etwas bedeutete, so konnte ich das von mir nicht behaupten. Die Menschen in Gurwass waren mir nicht egal. Selbst die Vomen in Tawa kümmerten mich.

      Ich hielt meinen Kurs. Die Entscheidung fiel auf dem höchsten weißen Berg, den ich sehen konnte.

      2

      Drei Tage und Nächte auf dem Ast mussten vergehen, bis der rechte Daumen erstmals zuckte. Am Tag darauf folgten die Finger und schließlich der Arm. Ich verließ den sicheren Ast und eilte zum Strand. Wasser! Zuerst schwerfällig mit gewissen Schmerzen, dann mit zunehmender Bewegung taten beide Arme wieder ihre gewohnte Arbeit. Jetzt konnte ich mich wieder riechen. Zurück auf dem Ast entschied ich mich. Wut war die Mutter meiner Entscheidung. Mir war alles egal, wenn ich nur weg kam. So schnell wie möglich da hinauf – ohne zu gehen. Zu Fuß dauerte der Weg Wochen, vielleicht Monate. Ich wollte einen schnelleren, eigentlich den schnellsten Transport, den ich kannte.

      Eine Schwarzfeder zwingen mich zu tragen.

      Den Armowass überlebte ich. Die Menschen in Balidan und die Wildnis konnten mich nicht töten. Was konnte mir nach alldem noch ein Vogel antun? Ich musste einfach auf diesen einen weißen Gipfel, den ich sah, der Sehnsüchte in mir weckte, die ich nicht verstand.

      Mehr als die Ahnung eines Plans hatte ich nicht. Zuerst musste ich essen und dann für Vögel jagen.

      Der heiße Mittag