Ingo M. Schaefer

ARTIR - Krieger der Wahrheit


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      5

      Als ich dicke dornige Nadelbäume sah, bog ich nach links ab und verließ den Strand. Mit einem Arm dauerte es, bis ich sicher oben saß. Mit dem Mund öffnete ich einen Schleimzylinder und bestrich die Wunden, die endgültig kühl blieben. Jetzt heilten die Kratzer.

      Mein rechter Arm machte mir Sorgen. Mit einem gesunden Arm war ich in der Wildnis tot.

      Vorerst saß ich sicher auf einem Dorn. Um mich herum standen abwechselnd Nadel- und Laubbäume. Wie in Tawa und allen anderen Städten bildeten sie die fast undurchdringliche Grenze zwischen Stadt und Wildnis. Die Menschen setzten sie dicht, damit nistende Vögel nicht den Boden erreichen konnten. Schmackhafte Fleischlieferanten fehlten in der Dunkelheit dieses künstlichen Gürtels. Das kümmerte mich jetzt nicht.

      Ich musste mir das taube Stück Fleisch an der Schulter erklären.

      Bisher betrachtete ich uns Menschen als einzige denkende Wesen in meiner Welt. Jetzt musste ich erfahren, wie mühelos der Meeresriese unbekannte Erinnerungen lesen konnte. Unter der Meeresoberfläche herrschte eine Art, die auch die Kraft nutzte. Ich konnte mit dem Wesen kommunizieren, besaß einen Zugang zumindest zu dessen Bildern. Eins davon hielt ich fest, das dem ähnelte, welches der Vielarmer aus meiner Erinnerung ausgesucht hatte. Dieses Bild zeigte vier Menschen: drei Erwachsene und ein Kind in Tentakeln gefangen. Die drei Erwachsenen hingen schlaff in den Saugarmen, während das Kind die Arme und Beine von sich streckte, sich zu wehren schien. Mir missfiel, dass die anderen wie ergeben in den Armen hingen.

      Zwei Bilder, ein Moment.

      Das Wesen betrachtete mich, die Männer und die Frau.

      Ich sah zu meinem Vater und meiner Mutter. Der Mann im Hintergrund verschwamm undeutlich.

      Ein Schleier überzog beide Bilder, trübte sie. Ich wusste sofort, dass meine Eltern durch den Vielarmer starben. Ich hatte mich gewehrt wie letzten Abend und überlebt. Das Wesen schonte diejenigen, die leben wollten, dachte ich.

      Warum begehrten sie nicht auf? Sie kämpften nicht, auch nicht um ihren Sohn. Mochte die Erklärung gallig zu schlucken sein, eine andere zu suchen, verweigerte ich mir. Hätte ich die Bilder doch nie gesehen.

      Das Meerungeheuer riss mein Weltbild aus der Verankerung. Wie hatte ich, ein zerbrechlicher Mensch, überhaupt eine Verbindung mit dem Giganten aufbauen können? Was sagten die Delmen, wenn ich ihnen das Wesen beschrieb? Delmen, die Herren der Meere, ha. Jetzt kannte ich die Wahrheit. Die Tiefe duldete sie nur.

      Mein Arm? Nach wie vor sah er unverletzt aus, blieb weiterhin aber unbeweglich. Der Kontakt zwischen DAL und dem Fangarm löste die Erschütterung aus und machte den Arm nutzlos.

      Mein Armreif? Seit der Verbindung begleitete mich der Schmerz. Ich erfuhr, dass Erwachsene meine Arme und Beine packten, nachdem Oxba vergeblich den zappelnden Wurm um mein Gelenk wickelte. Der Fleischfaden wollte nicht. Die drei wandten ihre Gesichter ab, damit ich sie nicht sah, niemals wiedererkannte. Oxba hielt das Band fest umklammert, bis das weiche Band unter Zwang sich mit mir verband und sofort versteifte.

      Am Ende sah ich die anderen sich ordentlich verwandeln, wie sie in die Nischen gingen.

      Alle und besonders meine damaligen Freunde wandten sich von mir ab, als ich nach der Verwandlung jeden überragte. Ich fragte mich, was ich falsch gemacht hatte. Niemand sprach mit mir.

      Ich stürzte oft ins Meer, ohne zu sterben. Stets spülte die Tiefe meinen Körper an Land wie einen unwillkommenen Gast. Das Wasser wollte mich auch nicht.

      Jetzt lebte das Armband, schmiegte sich an meine Haut. Der Kontakt mit dem Riesen musste dafür verantwortlich sein. Der Sucherhort entließ mich damals unwissend. Woher kamen DALs? Was waren sie? Jeder Mensch außer Kinder trug einen am Handgelenk.

      Weil er mit mir unzufrieden war, machte er meine Verwandlung zunichte und mich zum Vertriebenen. Das vermutete ich. Jetzt klang das falsch. Oxbas Staunen über den harten Ring säte Zweifel. Der Loxmen kam zu mir, hatte Angst vor mir, dachte, ich könnte kräfftern. Als er feststellte, dass ich einen Steinring trug, erkannte er einen Zusammenhang, ohne mir etwas zu sagen. Er änderte sein Verhalten und verließ mich.

      Kräffterte man mit DAL? Der Kontakt erschütterte das Wasser. Ein Zusammenstoß unterschiedlicher Kräfte lähmten sowohl mich als auch den Armowass. Ich gab ihm diesen Namen aufgrund der zahllosen Arme. Ich löste mich als erster von der Starre. Das erklärte, warum die Tentakel mich anfangs nicht fassen konnten. Sie hatten mein magisches Armband gespürt. Ich fand keinen anderen Grund.

      Mit der DAL-Verschmelzung verlor ich die Erinnerungen an meine Kindheit. Gut, das geschah allen. Etwas musste falsch gelaufen sein, weil die Verbindung schmerzte und ich nicht kräfftern konnte. Hatte das mit der unbekannten Abstammung zu tun, die Oxba erwähnt hatte? Meine Machtlosigkeit entsetzte ihn. Demnach hoffte er darauf, dass ich kräfftern könne. Er und andere warteten auf mich. Gehörte er zu jenen, über die beide Brüder auf der Klippe sprachen? Für die ich eine Hoffnung sein sollte? Hoffnung wofür? Arbeitete Oxba mit der Schlame zusammen? Schickte Caraschla eine Botschaft, die jeder Stadtmensch verstand, nur ich nicht?

      Welche meiner Fragen sollte dieses unermessliche Land retten? Ich hatte eine Unzahl im Kopf. Wollte das Land, wollten die Menschen überhaupt gerettet werden? Vor was? Ging es der Schlame nur um Menschen? Bestand ihr Balidan aus der Welt der Menschen innerhalb der Gürtel? Die Antworten musste ich bei ihr suchen, wenn ich sie hören wollte. Bisher zeigte mir niemand, dass er von-was-auch-immer befreit werden wollte. Die Sorgen oder Probleme der Gruppen kannte ich nicht.

      In Gurwass wollte ich alles dafür tun, damit sie mich aufnahmen.

      Kapitel 4

      Ich widerstand dem Hunger mit knurrendem Magen. Meinen Proviant rationierte ich, solange der Arm schlaff blieb. Das nächste Essen erlaubte ich mir morgen früh.

      Mit Zähnen und linker Hand knotete ich mein zweites Hemd um den Hals zu einer Schlinge und zog den Arm hinein. Er schlackerte nicht mehr. Weich und warm. Etwas wärmte meinen zuvor kalten linken Arm. Mein lebender Armreif schmiegte sich an die Haut. Keine Klaue, keine Schmerzen.

      Als es dämmerte und der Abend den Tag verdrängte, befestigte ich eine volle Tasche im Nadelbaum, die ich im Notfall mit dem Stock erreichen konnte. In den anderen Beutel stopfte ich etwas Proviant und einen fast leeren Zylinder mit Naverenspeichel, falls ich in Kontakt mit einer Vomenkralle kam. Diesmal entschied ich, den Stock mitzunehmen. Erstmals betrat ich eine Stadt nachts. Ich näherte mich über den Sandstreifen und wartete vor der Bucht und den ersten Gebäuden auf die Nacht.

      Die Sterne am schwarzen Himmel leuchteten hell.

      Ein hundert Meter ausladendes Pflasterband trennte Kai und die gepflegten Häuser. Eine Gasse hinter diesen Gebäuden umlief parallel zum Kai die gesamte Bucht. Ich stand vor dem mit Holzbohlen befestigten Weg und sah in die Gasse.

      2

      Aus den Häusern drangen die Geräusche einer Stadt. Die Bauwerke rechts gehörten Delmen, links standen Loxmenhäuser, gebaut wie die Menschen, durch imposante Säulen gestützt, ragten sie in die Höhe. Die Delmenhäuser glichen sich, bildeten eine Einheit. Jedes Loxmenhaus war anders und unterschied sich von den anderen in Feinheiten.

      Städte wiesen reine Gruppen-Viertel oder gemischte Viertel auf. Hafenstädte wie Gurwass, Plawass oder Harwass oder ein kleiner Ort wie Tawa zeigten dem Meer oder Belt die wellenförmigen Delmenhäuser. Deren Lage stand fest - am Kai. Die Delmen formten ihre Gebäude nach dem Bild brechender Wellen. Haus um Haus verbanden sie zu einer Reihe. Die vier ineinander verschachtelten Dächer eines Hauses stellten die Wellenspitze dar, nur eben dem Wasser zugewandt. Hinter der Wellenreihe ordneten sich die anderen Viertel. Jeder Ort, jede Stadt spielte mit den Farben und Formen. Gelbgrün für Loxmen, blau für Delmen, violett für Lumen, grasgrün für Allmen, braun für Dacmen, gelborange für Pfermen, rot für Schlamen und schwarz für Vomen. Sah man ein gelboranges Haus, hieß das, Pfermen wohnten hier. Ich konnte nicht sagen, warum