Ingo M. Schaefer

ARTIR - Krieger der Wahrheit


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über diesen Meeresriesen besaß. Ich erhielt Informationen, die ich ins Gedächtnis einbrannte, warum auch immer. Ich starb doch. Verlassen. Einsam. Im Belt. Eine Unterwasserwelt, geordnet, wie unsere.

      Ein Schrei in meinem Kopf riss mich aus meiner Starre. Ich wehrte mich, schüttelte Arm und Beine. Mein Kopf schien zu bersten. Nichts anderes konnte dieser weitere Schmerz bedeuten. Mit unvorstellbarer Geschwindigkeit schoss das Wesen nach oben - mit mir voran. Der fleischige Arm hob mich aus dem Wasser, das spürte ich, weil mein Mund automatisch nach Luft schnappte, und ließ mich los. Ein Bild, das sich der Vielarmer aus meinen verschütteten Erinnerungen länger angeschaut hatte, nahm ich mit. Ein Mann, eine Frau und ein zweiter Mann. Gefangen in denselben fleischigen Armen, denen ich jetzt entkam.

      Dann verschmolzen die Farben des Belts und des Himmels zu reinem Schwarz.

      3

      Sandboden weckte mich. Kleine Wellen schoben meinen schlaffen Körper vor und zogen ihn mit dem Sog wieder zurück. Ich öffnete die Augen und sah hinauf zu den zahllosen Sternen, die über mir leuchteten. Nach ihrem Stand verdrängte der kommende Tag bald diese Nacht. Ich bewegte die Finger. Es blieb bei kläglichen Versuchen. Der rechte Arm hing taub herunter. Die Beine schienen nicht auf Befehle zu hören. Ich wusste nicht, wo ich lag. An irgendeinem Strand am Belt. Nackt. Den linken Arm beugte ich ein wenig.

      Dieser Meeresgigant verschonte mich. Langsam begriff ich das unvorstellbare Überleben.

      Die Lichter am Himmel beruhigten mich. Sie führten mich damals bis zum Eis, aus dem verwirrenden Nordgebirge heraus, als Naveren mich jagten. In der Wüste orientierte ich mich an ihnen.

      Meine unkontrollierte Wut ließ mich gestern so weit schwimmen, dass ich in Lebensgefahr kam. Dadurch begegnete ich dem Meeresgiganten und durfte das Wertvollste sehen.

      Ein weißer Mann, eine gelborange Frau, dahinter verschwommen ein blauer Mann. Alle drei gefangen in fleischigen Armen. Das Tentakelwesen wählte dieses Bild aus meiner Erinnerung, die mir nicht mehr zugänglich sein sollte. Ich aber sah das jetzt. Das Wesen hielt mich mit den Erwachsenen vor langer Zeit gefangen.

      Ich kannte einfach die Wahrheit. Der weiße Mann und die Frau waren meine Eltern. Hatten sie überlebt, mich aber nirgendwo gefunden? Oder landeten sie an einem anderen unbekannten Strand und konnten nicht zurückkommen - zu mir. Ich suchte verzweifelt Erinnerungen, ein Bild, in dem wir gemeinsam frei kamen. Ich presste meine Lippen zusammen. Sie entkamen nicht. Sie starben, während ich weiterlebte.

      Ich befahl mich ins Jetzt. Wenn ich bedauerte, darüber verzweifelte und dann bemitleidete, starb ich.

      Mein rechter Arm schwebte nutzlos im Wasser. Die Fußzehen zwang ich sich zu biegen. Der funktionierende Arm drückte die Hand in den Sand, die sich darin verankerte. Ich stieß mein gesamtes Gewicht vom Boden ab in Richtung Ufer. Alle Zehen bewegten sich jetzt. Wieder stak der Arm in den Boden. Die Knie anziehen stellte ich mir vor. Die Beine blieben steif.

      Stück für Stück schob ich mich vor, war eine leichte Beute für scharfe Reißzähne. Die Krallenspuren meiner Navere weichten auf, aber bluteten nicht. Die Luft kühlte wie das Wasser. Nach langer Zeit besiegte der Tag die Nacht. Mit den ersten Sonnenstrahlen lag ich im trockenen Sand.

      Ich zwang mich hoch und klopfte meine Beine. Ich schlug die Faust auf die Schenkel und kniff, bis ich Schmerz empfand. Füße drehen, Knie anziehen, stets den Kopf in jede Richtung wenden. Schließlich hockte ich, stützte mich ab und stellte mich auf ein Bein, fiel um, wiederholte es. Der Körper gehorchte nur widerwillig. Schließlich stand ich auf zwei Beinen und torkelte vorwärts, fiel der Länge nach hin. Mühsames Aufstehen, Torkeln, Hinfallen, wieder und wieder, bis ich sicher einen Fuß vor den anderen setzte. Ich musste meine Taschen erreichen; die Naverenkratzer nochmal bespucken, wärmende Kleider brauchte ich und den durchsichtigen Stein, der mir in der aussichtslosesten Lage, in der ich jemals gesteckt hatte, Mut und Willen zurückgab. Den Strand kannte ich nicht. Nach wie vor hing der gefühllose Arm herunter wie ein Tau. Vor mir sah ich Häuser einer Stadt. Um nicht bemerkt zu werden, ließ ich mich sicherheitshalber zu Boden fallen und kroch vorwärts.

      Ich musste prüfen, ob dort Gurwass war, ob ich mich am richtigen Ufer nach vorne schob.

      4

      Gebauschte weiße Segel schoben einen dickbauchigen Viermaster in die Mitte des Belts. Der blaue Schiffsrumpf entfernte sich vom Land. Am Heck las ich GOVA in weißen Lettern. Wenn ich darüber nachdachte, besaßen alle Schiffe die weißen Zeichen. Aus welchem Hafen fuhren die Delmen? War es Gurwass, brauchte ich den Weg nur zurückzugehen; sollte es Harwass auf der anderen Seite des Belts sein, hatte ich ein Problem.

      Erleichtert sah ich den unbekannten Hafen.

      Die Sonne erschien und ich befand mich in Gefahr. Ich drehte mich um und lief, vielmehr humpelte ich zurück. Jäger des Meeres und des Landes mieden den Strand. Mit jenen aus der Luft sah das anders aus. Das Meer spülte oft zahme Fische oder Würmer an Land. Raubvögel verließen mit den ersten Sonnenstrahlen ihre Nester. Besonders die Sturzkrallen jagten gern einsame Zweibeiner wie mich. Jetzt lief ich nackt und wehrlos mit einem lahmen Arm um mein Leben. Die linke kältere Hand knetete die tauben rechten Finger, die warm waren. Überhaupt sah der Arm, bis auf ein rundes Brandloch, gesund und nicht abgestorben aus. Seit ich mich erinnern konnte, trug ich an den Beinen ebensolche sehr alte Narben.

      Bisher hatte ich vermieden meinen Dauerbegleiter zu berühren. Seine Härte drückte auf meine Haut, das war ich gewohnt, das konnte ich spüren, obwohl ich meinen Arm nicht bewegen konnte. Ich legte schließlich meine linke kalte Hand auf meinen Wurm. Er wärmte mich.

      Ein eigenartiges Gefühl durchströmte mich und ich öffnete vor Schreck die Hand. Seine Oberseite war weich, wurde aber sofort wieder hart. Ich blieb erschrocken stehen, musste mich zwingen, weiter zu laufen. Dafür hatte ich jetzt keine Zeit.

      Sieben bis acht Ledergreife flogen in meine Richtung. Sturzkrallen folgten. Ich rannte, wie ich konnte. Vor mir sah ich meine Taschen und nahm einen süßlichen Geruch wahr. Die Jäger näherten sich. Ich hörte ihr Kreischen. Sie hatten mich bemerkt. Der schrille Ton drang durch jede Faser meines Körpers. Ich spurtete weiter. Viele Schritte lagen zwischen mir und meiner Rettung. Erst jetzt sah ich den wimmelnden Teppich auf dem Wasser. Daher der Geruch. Meine Sachen lagen dort, wo der sprudelnde Belag in Kürze an Land schwappte. Die Würmer zappelten darin und lockten die Ledergreife und Sturzkrallen an.

      Ich hielt weiter mit der linken Hand den schlackernden, tauben Arm fest. Die fliegenden Jäger stürzten herab, einer zielte auf mich. Der Schatten verdunkelte meinen eigenen. Ich musste flotter sein als er, obwohl er größer wurde. Ich sprang wie ein Naveren. Da lag der Stock. Ich rollte mich über den Boden, griff das Langholz und drehte mich auf den Rücken. Das aufragende Ende kreiste. Das Kreischen zog meine Ohren zusammen, ein unerträglicher Ton, als zwei Flügel schnell schlagend den Sturz abfingen. Enttäuscht wandte er sich ab und folgte seinen Genossen, die über dem Wasser schwebend ihre Schnäbel genüsslich in die wimmelnde Masse stießen. Fast durchsichtige fingerdicke zappelnde Fäden verschwanden in den Schlünden. Ich musste auf der Stelle fort. Dieses Festessen lockte alle Fleischfresser an.

      Gierig schluckten die herab sausenden Ledergreife und Sturzkrallen die Würmer, füllten ihre Bäuche und taumelten bereits überfressen in der Luft. Die Doppelflossen dreier Schnapper zogen um die Fadenmasse ihre Bahn. Ein aufgerissenes Maul stieß aus dem Wasser, der Körper folgte und tänzelte mit der Schwanzflosse über den Wellen und schnappte sich einen unbeholfenen satten Ledergreif. Der Schrei verstummte abrupt, als beide unter Wasser verschwanden. Ich verlor keine Zeit. Mit der linken Hand stopfte ich die Taschen voll. Die Riemen zog ich über den Hals und lief mit dem Stock in der heilen Hand los. In sicherer Entfernung blieb ich stehen, holte Kleidung heraus und zog mich hektisch an, während ich weitere anfliegende Sturzkrallen sah und am Rande des Sandstreifens kleine schnüffelnde Nestres. Mein beschaulicher Strand verwandelte sich in eine Kampfzone. Die ersten Fäden schwappten ans Ufer und zappelten. Die Jäger des Bodens rannten herbei und fraßen sie. Naveren kamen hinzu und hatten mehr Interesse an der fliegenden Beute. Ich wandte mich ab, bevor