Anita Egger

Das schmutzige Mädchen


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vom Sessel zu nehmen, fasste ich ihn am Arm an, sah ihm ins Gesicht.

      „Du wirst mich doch weiter schützen vor dem Mann, der mich bedroht, oder?“, fragte ich hilflos.

      „Der sitzt hinter Gittern, wie soll er dich noch bedrohen?“, entgegnete er zornig.

      Ich hatte mich umsonst bemüht, weshalb sollte Koffner mir auch helfen wollen, wenn er nicht von seinen Vorgesetzten dazu beauftragt wurde? Für ihn war der Auftrag abgeschlossen. Auch wenn die Wahrheit anders aussah, wenn es tatsächlich noch jemanden gab, der mir an den Kragen will, Koffner hatte nicht mehr den Auftrag mich zu schützen.

      Mir blieb also die Angst vor dem Mann am Telefon. Und mir blieb die Frage, wer er wirklich war. Was mir zudem noch blieb, war das schlechte Gewissen, dass der falsche Mann hinter Gittern saß. Carsten Fischer büßte die Strafe für ein Verbrechen ab, das er nicht begangen hatte, ein Verbrechen an mir.

      Als ich einen weiteren Anruf bekam mit einer Drohung, dass noch etwas offen stünde zwischen uns beiden, da sah ich dieses Gesicht vor mir. Zunächst fing ich wieder an, das Bild von dem Mann erneut zu zeichnen. Als ich mein Werk betrachtete, fiel mir auf, dass auch dieses Bild wieder sehr genau getroffen war. Weshalb konnte ich dieses Gesicht so gut malen? Ich sollte es wohl nicht vergessen, das Gesicht, das nicht zu Carsten Fischer gehört, obwohl es ihm so ähnlich war.

      Nach dem nächsten Anruf, die Worte wurden immer bedrohlicher, fasste ich einen Entschluss: Ich musste selbst der Sache auf den Grund gehen.

      Was ich zunächst tat, war es, einen Termin mit Christian Lange zu vereinbaren. Die Therapie war seit einigen Wochen beendet, doch er stimmte einem Treffen zu. Er empfing mich privat, nicht in seiner Praxis, wie er es nannte. Als ich ihn danach fragte, sagte er, die Praxis ziehe um, zwischenzeitlich pausieren die Therapie-Sitzungen mit seinen Patienten.

      „Und deinen Patienten macht das nichts aus? Wie lange müssen sie denn warten, bis sie ihre Therapie fortsetzen können?“, wollte ich wissen.

      „Sie müssen einige Wochen warten, warum fragst du mich das?“, entgegnete er.

      „Ich bin deine einzige Patientin gewesen, nicht wahr? Gib 's zu!“, meinte ich.

      „Wie kommst du nur darauf?“, meinte er.

      „Du stehst mit deiner Praxis nicht im Internet, nirgendwo bist du als Psychologe registriert. Da stimmt doch was nicht!“, erklärte ich energisch.

      „Weißt du was ich denke? Du hast immer noch ein Problem! Deine Neigung zu denken, man täuscht dich, verfolgt dich, hat sich gegen dich verschworen, allgemein als Verfolgungswahn bekannt, hat sich eher verschlimmert als verbessert. Wir hätten die Therapie nicht schon so früh beenden dürfen.“

      „Ach?“, entgegnete ich, „dann setzen wir sie doch fort.“

      „Meine Praxis ist im Augenblick geschlossen, das weißt du doch. Eben hatte ich dir das gesagt. Kannst du dich nicht daran erinnern?“, fragte er besorgt.

      „Ich könnte doch hierher kommen, um die Therapie fortzusetzen“, schlug ich vor.

      „Das geht nicht, Christine. Aber die Idee ist auf alle Fälle gut. Ich werde zusehen, dich an einen Kollegen zu überweisen.“

      „Und wenn ich zu dir wollte und zu sonst keinem?“, meinte ich.

      „Das willst du doch gar nicht. Du willst irgendetwas anderes damit beweisen, bist feindselig mir gegenüber. Was ist los?“

      „Also gut, sprechen wir offen: Ich denke, ich könnte dich gar nicht mehr konsultieren, weil du kein Psychologe bist. Du warst nur da, um meine Aussage vor Gericht in eine bestimmte Richtung zu lenken. Es sollte Carsten Fischer als der Täter vor Gericht erkannt werden, damit es nicht aufkommt, wer der wahre Täter ist.“

      „Du brauchst unbedingt Hilfe“, meinte er mit runzelnder Stirn und schrieb etwas auf einen Block.

      „Ja, die bräuchte ich, um mich vor dem Täter schützen zu können, doch die bekomme ich nicht, weil jeder, inklusive der Polizei, aus irgendeinem unerfindlichen Grund dazu gezwungen ist, an der Wahrheit vorbei zu denken.“

      Wir verabschiedeten uns sehr unfreundlich im Streit. Er sagte, Dr. Huber wird sich bei mir melden. Er drohte mir sogar mit einem Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik, natürlich unter dem Vorwand, es wäre jetzt das Beste für mich.

      Ich hatte ein wenig Angst, er könnte es erwirken, dass ich gegen meinen Willen eingewiesen werde. Wen hatte ich denn noch, der auf meiner Seite wäre, der zu mir hält? Niemanden! Immer mehr sah ich mich einer feindlichen Welt gegenüber, die mich eingekreist hat.

      Als ich von Christian mit dem Nahverkehr nach Hause fuhr, was es 22:00 Uhr. Das mag sehr spät sein für einen Termin beim Psychologen, doch im Grunde war es nicht allzu spät, um abends nach Hause zu kommen. Mit einer Belästigung betrunkener Männer in der Nacht sollte man um diese Uhrzeit noch nicht zu rechnen haben.

      Es passierte aber etwas: Gerade als ich an der Brücke vorbeikam, in der ich in dieser schrecklichen Winternacht in den Tod gesprungen war, hörte ich etwas von hinten auf mich zu kommen.

      Ich drehte mich um, es war niemand hier, ich war ganz allein. In den Häusern auf der anderen Seite des Flusses brannte kein Licht, alles schlief. Es war seltsam unheimlich. Weshalb war es unheimlich?

      Da war es wieder: Das Gefühl, das man hat, wenn das Leben bedroht wird; das Gefühl, welches ich hatte als ich in diesen Fluss sprang; ich hatte es zum allerersten Mal als ich sieben Jahre alt war.

      Weshalb, verdammt hatte ich jetzt in der harmlosen Stille dieses Gefühl?

      Plötzlich wurde ich von hinten gepackt. Mit einem Ruck, drückten starke Männerarme schmerzhaft meinen Bauch zusammen und schnürten mir dann mit einem Tuch die Luft ab. Man zwang mich in die Knie. Es war schrecklich, ich zitterte am ganzen Leib. Was passierte nur schon wieder?

      Ich versuchte durch Ziehen an dem Tuch um meinen Hals, meine Atemluft wieder zu erlangen, strampelte, schlug um mich, kämpfte den alten Kampf ums Überleben. Auch bei diesem Überfall fühlte ich die Bedrohung meines Lebens als etwas unsagbar Grausames.

      Doch plötzlich, wie aus dem Nichts, war die Polizei da. Ein Auto mit Blaulicht und Sirene verscheuchte meinen Angreifer. Zwei Mann sprangen aus dem Wagen, dann fuhr das Auto weiter, um die Verfolgung aufzunehmen.

      Ich kauerte am Boden und rang noch immer nach Luft.

      „Wie geht es Ihnen?“, fragte einer der Männer, beugte sich hinunter zu mir, versuchte mich niederzulegen, um Erste Hilfe zu leisten.

      Der andere Mann rief über Funk einen Krankenwagen herbei, ich erkannte seine Stimme sofort: Es war Dieter Koffner.

      So seltsam es doch war, dass er so schnell zur Stelle war, obwohl er behauptet hatte, er müsse mich nicht mehr schützen, ich verschwendete keinen Gedanken daran. Ich war einfach nur froh, dass er da war.

      Ich wünschte mir tatsächlich, dass er mich nach Hause bringen würde, er stellte meine Sicherheit dar. Der Schrecken über die Geschehnisse saß mir in allen Gliedern. Ich konnte mich kaum auf Beinen halten, deshalb klammerte ich an seinem Arm fest.

      „Der Krankenwagen ist gleich da“, sagte er.

      „Nein“, meinte ich nur, ich konnte kaum sprechen.

      Ich hatte eine Art Schock-Zustand, der mit sich brachte, dass ich alles um mich her fürchtete. Ich konnte es mir nicht vorstellen, in einem Krankenwaren zu sein, weggebracht zu werden. Ich konnte mir gar keinen Ort mehr vorstellen, in dem ich sicher wäre. Ich fuhr entsetzt zusammen, als der Sanitäter meinen Kopf anhob. Koffner hielt mich fest. Weshalb war er eigentlich noch hier?

      Wieder dasselbe Theater: Ich weigerte mich, in den Krankenwagen zu steigen, Koffner überredete mich.

      „Du bist im Krankenhaus jetzt sicherer aufgehoben“, sprach er.

      „Weshalb warst du so schnell hier?“, fragte ich ihn als er mich am nächsten Tag an meinem Bett besuchte, Blumen in der Hand.

      „Es