Anita Egger

Das schmutzige Mädchen


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wurde die Zeichnung, die ich angefertigt hatte, mit einem Beamer an die Wand geworfen. Ich musste erklären, dass ich selbst das Bild gezeichnet hatte und weshalb. Bisher hatte ich nur Rede und Antwort gestanden, antwortete auf alle Fragen des Richters oder des Staatsanwalts mit 'ja'.

      Später war der Anwalt des Angeklagten an der Reihe mich zu befragen. Er zweifelte erst an, dass das Bild aus meiner Hand stammt, da ich ja nicht professionell zeichnen kann. Dann stellte er fest, dass es zu dunkel gewesen sein musste, um den Mann auf winterlicher Straße wirklich erkennen zu können. Danach versuchte er mir zu entlocken, woher ich den Mann auf dem Bild wirklich zu kennen glaubte, ohne Erfolg.

      Ich log nicht, mit keinem Wort, ich sagte bei allem die Wahrheit, man fragte mich nur nach den Fakten. Es war einfach hier zu sprechen, sie machten es mir alle leicht, sogar der Anwalt des Angeklagten.

      Zuletzt aber fragte mich plötzlich der alte Richter etwas, das mich in Unruhe versetzte:

      „Nur noch ganz kurz Frau Mertens, wir wollen Sie ja nicht länger festhalten als nötig, aber bevor Sie gehen, müssen Sie mir bitte noch eine Frage völlig ehrlich beantworten. Lassen Sie sich ruhig Zeit mit der Antwort, das ist jetzt sehr wichtig“.

      Ich blickte etwas eingeschüchtert in diese faltigen, weisen Augen. Der Mann sah streng aus und müde, doch er hatte eine Ausstrahlung wie der liebe Gott, der Richter zwischen Gut und Böse. Er sprach:

      „Sind Sie der Ansicht, dass der Angeklagte, der hier auf seinem Stuhl vor Ihnen sitzt, der Mann ist, der Sie am 24.01.2010 in München Mitte, Nähe Isar-Brücke, überfallen hat, gemeinsam mit zwei weiteren Männern, Ihnen die Kleider vom Leib gerissen hat, die Unversehrtheit Ihres Körpers derart massiv bedroht hat, dass Sie sich gezwungen sahen, sich durch einen Sprung von der Brücke ins eiskalte Wasser vor seinen Übergriffen zu bewahren? Ist er es oder ist er es nicht?“

      Die Augen des Richters nahmen mich in die Mangel, der Mann hatte meine Unsicherheit von Anfang an bemerkt. Er wusste sehr gut, dass ich unter dem Einfluss der Menschen um mich her stand, im Grunde nicht fähig war, eine eigene Meinung kund zu tun. Doch vielleicht jetzt, nach dieser Frage.

      Ich wich seinem Blick aus.

      „Lassen Sie sich ruhig Zeit“, wiederholte er sich.

      Christian hatte meinen Arm an sich genommen, wollte mir helfen das durchzustehen. Dann fühlte ich einen angsterfüllten Blick auf mir ruhen, starrte in Richtung des Blickes, zu Carsten Fischer. Er schwitzte, seine Augen bettelten mich an. Was würde er bekommen, wenn ich jetzt sagte, dass er es war? Lebenslänglich? Was würde er bekommen, wenn ich sagte, dass er es nicht war? Sein Leben lag in meiner Hand. Doch hatte nicht auch meines schon in seiner Hand gelegen? Er hätte mich nicht verschont damals. Wenn er frei kommt nach seiner Haftstrafe, wird er Rache nehmen. Wenn er nur wegen des Überfalls in meiner Wohnung verurteilt wird, dann kommt er sogar sehr bald wieder raus. Hatte ich Angst vor ihm? Würde mich Koffner dann wieder schützen? Am liebsten hätte ich Koffner nun gefragt, ob er mich schützt, sorgte ich nun dafür, dass Fischer verschont wird.

      Ich blickte in Koffners Augen. Er hätte mir nun gerne etwas gesagt, doch das ging nicht. Sein schwarzer Konfirmanden-Anzug war nicht mehr ganz neu, auf seinem Hemdkragen lag ein sanfter Grau-Stich. Ich wusste irgendwie, was er mir so dringend hätte sagen wollen.

      Ich aber tat es nicht für ihn, nicht für Fischer, ich tat es, weil ich ein Mensch bin, der nicht mit der Polizei zusammenarbeitet, der nicht der Ansicht ist, Strafe hätte etwas mit Gerechtigkeit zu tun, ich sagte:

      „Ich glaube nicht, dass Carsten Fischer der Mann ist, der mich am 24.1.2010 in München an der Isar-Brücke überfallen hat.“

      Sofort gab es ein entsetztes Stimmen-Wirr-Warr. Alle redeten auf mich ein, gaben entsetzte Töne von sich.

      Die Augen des Angeklagten rissen auf, der Richter schloss die Augen, Koffner starrte mich überrascht an, Christian und mein Vater riefen laut dazwischen, ich würde das gleich wieder zurücknehmen.

      Der Richter mahnte zur Ruhe.

      „Sind Sie sich sicher?“, fragte er mich.

      „Nein“, antwortete ich, „ich bin mir nicht sicher, dass er es nicht ist. Aber Sie haben mich gefragt, was ich glaube und ich glaube, dass er es nicht ist.“

      Dann kamen Fragen über Fragen der beiden Anwälte, die Verhandlung eskalierte.

      Christian und Dr. Huber schafften es schließlich, eine Vertagung zu beantragen. Es müsse erst geprüft werden, ob ich psychisch überhaupt in der Lage bin, eine derartige Aussage zu machen.

      Als ich das Gebäude verließ, fühlte ich mich besser: Die meisten Anwesenden waren entsetzt über mein Verhalten, doch nicht alle, für einen Mann jedenfalls waren meine Worte ein Weg aus der Finsternis.

      Die Welt war gegen mich, man redete auf mich ein, bearbeitete mich, bereitete mich auf den nächsten Verhandlungstag vor. Mein Problem war nicht, dass ich nicht fähig war, mich durchzusetzen, mein Problem war die Gratwanderung im Umgang mit der Psychiatrie. Mein Psychiater wollte ein Gutachten erwirken, aus dem hervorging, dass ich nicht in der Lage war, eine Aussage zu den Geschehnissen zu treffen. Das Gutachten sollte mir meine Stimme nehmen, meine Zeugenaussage als ungültig zählen lassen.

      Ich wollte nicht, dass es ein derartiges Gutachten gibt, doch wie sollte ich mich wehren? Für einen Anwalt hatte ich kein Geld, mein näheres Umfeld war gegen mich. Alle, meine Familie, die Ärzte, die Polizei und sogar Jessi, meine Haushälterin, die einzige Freundin, die ich derzeit hatte, waren alle auf der Seite der Staatsanwaltschaft. Sie drängten mich dazu, Carsten Fischer mit meiner Aussage dingfest zu machen, dann gäbe es auch dieses Gutachten nicht.

      Es war verrückt, sie hatten Recht: Wenn ich klein beigeben würde, dann würden die Ärzte dieses Gutachten gar nicht erst erstellen, denn dann brauchten sie es nicht für die Gerichtsverhandlung.

      Was sollte ich also tun? Ich war vernarrt darin, nicht mehr als Verrückte dazustehen. Außerdem war ich vernarrt darin, bei meiner Aussage zu bleiben. Mittlerweile war ich einigermaßen selbst davon überzeugt, dass Carsten Fischer nicht der Mann ist, der mir diesen Überfall im Winter angetan hat.

      Ich rief Koffner an. Er stimmte sofort zu, sich mit mir zu treffen. Eine halbe Stunde später stand er bei mir vor der Tür, ich ließ ihn ein und bat ihn im Wohnzimmer Platz zu nehmen.

      „Ich bin neugierig, weshalb brauchst du mich jetzt doch?“, fragte er provokant.

      Damit hatte ich nicht gerechnet, dass er feindselig war. Ich hätte gedacht, er wäre auf meiner Seite, er könnte mir helfen, mit all den anderen Menschen fertig zu werden. Ich hätte heulen können nach diesem ersten Satz aus seinem Mund.

      „Was wolltest du mir sagen über Carsten Fischer?“

      „Du wirst wohl deine Aussage wieder revidieren, oder?“, entgegnete er.

      „Nein, werde ich nicht. Aber ich denke, man wird es so kommen lassen, dass die Aussage entweder ungültig ist oder revidiert wird.“

      „Ach deshalb brauchst du mich jetzt?“, fragte er.

      „Ich will nur wissen, ob es etwas gibt, das du über Carsten Fischer weißt, das ich noch nicht weiß. Du sagtest doch, er konnte mich im Januar nicht überfallen haben, weil er zu der Zeit in USA im Knast saß. Weshalb kommt das bei der Verhandlung eigentlich nicht zur Sprache? Das würde ihn doch sehr entlasten, absolut quasi.“

      Er lachte verächtlich auf. „Genau das wollte ich dir immerzu sagen, doch du hast mir keine Chance dazu gegeben: Das Alibi war gekauft, es ist ein falsches Alibi. Fischer hatte seinen Aufenthalt in München zum fraglichen Zeitpunkt.“

      „Was?!“, ich starrte ihm entsetzt in die Augen, „aber dann...“, ich sprach nicht weiter.

      Ich sah das Gesicht meines Angreifers vor mir, das Gewaltverlangen in seinen Augen. Dann dachte ich an Carsten Fischer in meiner Wohnung mit dem Messer in der Hand. Ich sah sein Gesicht als er mich im Gefängnis nach einer Zigarette fragte.

      „Er ist es, Christine, du hast dich ganz umsonst für ihn eingesetzt.“,