Anita Egger

Das schmutzige Mädchen


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den Eindruck, er wäre von seinen eigenen Worten nicht überzeugt. Nun war ich mir noch unsicherer als zuvor.

      „Ich verstehe nicht, weshalb er bei mir in der Wohnung war, mich zwingen wollte, meine Aussage zu revidieren.“, erklärte ich.

      „Er wollte eben verhindern, dass genau dies passiert, was jetzt geschehen ist, dass er im Gefängnis sitzt wegen seiner Taten. Er wollte den einzigen Zeugen, den es gibt, dazu bringen, für ihn auszusagen. Das ist ein ganz normales Verhalten, schließlich machen das die anderen Beteiligten auch alle so. Oder etwa nicht?“

      „Ja, sie wollen alle, dass ich für sie spreche. Ich soll das sagen, was für ihre Interessen das Beste ist.“, sprach ich, stand auf und stellte mich ans Fenster.

      Jetzt war irgendwie alles vorbei, der Kampf war aus. Im Grunde war es schrecklich, so verloren zu haben, doch hatte es auch etwas Gutes: Es gäbe dieses Gutachten nun nicht, ich würde funktionieren wie jeder es von mir verlangte, sie wären wieder zufrieden mit mir.

      Ich blieb wortlos am Fenster stehen, starrte auf die leere Straße unter mir. Nun war es Sommer, alles friedlich und ruhig, die Ereignisse vom Januar lagen schon weit in der Vergangenheit. Ich sollte diese verdammte zweite Verhandlung hinter mich bringen und dann meinem gewöhnlichen Leben weiter nachgehen. Die künstliche Welt wird mich wieder haben, ich werde leben wie ich soll, ganz normal, so muss es sein. Auch wenn mich diese Gedanken in eine Art Ruhe hüllten, so machten sie mich aber nicht richtig glücklich.

      Eine Träne bahnte sich gerade ihren Weg nach unten, da stand Koffner plötzlich hinter mir. In all meiner Wehmut hatte ich ganz vergessen, dass er hier war. Wie konnte ich nur vergessen, dass ein Bulle in meinem Wohnzimmer steht? Was ist bloß geworden aus mir?

      Jetzt fasste er mich auch noch an, nahm mich bei den Schultern, vermutlich um zu trösten.

      „Loslassen!“, sagte ich.

      Für den Bruchteil einer Sekunde sah ich vor Augen, wie er sich an der Ausgangstür dieser Wohnung zusammen mit mir auf den Boden warf, um mich vor Carsten Fischer zu schützen. Lächerlich! Seine Kollegen im Hintergrund hätten Fischer auch überwältigen können, ohne dass mir etwas passiert, wenn Koffner nicht da gewesen wäre. Er fühlte sich als Held, doch er war nur ein Bulle, ein Scheiß-Bulle.

      Er ließ mich los. „Entschuldige.“, sprach er, „ich wollte dir nur noch etwas sagen, bevor ich gehe: Ich meine, du solltest dich nicht für verrückt erklären lassen von den Menschen um dich herum. Was ich vor mir sehe, ist eine junge Frau mit sehr viel Mut, Ehrlichkeit und Rückgrat. Du kannst nichts dafür was dir passiert ist; lasse dich nicht aburteilen von den höher gestellten Personen um dich herum. Du bist auch wer, nicht nur die anderen.“

      „Ich? Für euch Polizisten bin ich doch immer nur der Abschaum, mit dem ihr euch herumschlagen müsst.“, sprach ich überzeugt.

      „Sieh die Polizei nicht als gesichtslose Übermacht. Für dich sehen sie alle gleich aus, wenn sie dich des Nachts betrunken aufgreifen. Da kommen die Männer mit der Uniform. Doch in jeder Uniform steckt auch ein Mensch mit einer eigenen Meinung, Schwächen und Stärken. Wenn du die Polizei nicht mehr als unüberwindliche Mauer sehen willst, dann achte auf ihre Schwächen, nicht auf ihre Stärken. Vor allem du hättest allen Grund dazu.“

      Mit diesen letzten verwirrenden Worten ließ er mich allein zurück, verschwand wieder aus meinem Leben. Sogar bei der zweiten Verhandlung war er nicht da.

      Ich bestätigte den Menschen um mich her eindeutig, dass Carsten Fischer mich im Winter überfallen hat, gemeinsam mit zwei weiteren Männern.

      Bei der zweiten Verhandlung war Fischer nicht anwesend. Es waren nur der Richter, die Anwälte und zwei Gerichtsdiener da, Wachen an der Tür. Sie wollten, dass ich mich nicht unter Druck gesetzt fühle, wenn mich so viele Leute sehen bei meiner Aussage. Doch das war nun egal, ich sagte ohnehin, was jeder wollte. Ich war wirklich ganz froh, dass ich Fischer nicht in die Augen blicken musste dabei.

      Danach war jeder glücklich, dass es vorbei war. Ich kehrte in meine künstliche Welt zurück, köpfte Lilien und Rosen für meine Kunden. Besonders gut war ich nicht darin, Schnittblumen zu Sträußen zusammen zu stellen. Irgendwie mochte ich die Arbeit mit dem Messer nicht. Mir war es lieber, lebendige Pflanzen zu pflegen, sie wachsen und gedeihen zu lassen unter meiner fürsorglichen Obhut. Wenn ich meine Pflanzen verkaufte, egal ob es junge Tomaten waren oder auch Moos-Röschen, so war ich immer stolz auf meine Zöglinge. Ich gab sie gerne in gute Hände. Man sieht es den Leuten an, ob sie gut sind zu Pflanzen oder ob sie das Gewächs nur als leblose Sache ansehen. Doch egal wie sie meine Zöglinge sehen, sie werden sie gut behandeln müssen, denn sonst erfüllen sie ihren Zweck nicht. Wenn meine Kunden wollen, dass die Pflanzen wachsen und gedeihen, so müssen sie sich um sie sorgen, ihnen bleibt keine Wahl. Ja, ich hatte mich identifiziert mit der Welt der Pflanzen. Die sind umso viel harmloser und friedlicher als die Menschen.

      Doch ich kam auch gut zurecht mit meinen Kolleginnen hier. Wir hatten nur einen einzigen Mann in der Gärtnerei, wie so oft: Der Chef.

      Der Chef war nett, doch ich hatte kaum zu tun mit ihm. Seine Frau, die Chefin Helga, war immer sehr geschäftig und kommandierte den ganzen Tag herum. Sie hatte alles fest unter ihrer Kontrolle. Es wäre oft nicht nötig gewesen, Anweisungen zu erteilen, manche Dinge funktionieren einfach so, doch es war schon gut, dass sie da war. Wenn sie fehlte, waren wir wie eine Herde ohne ihren Hirten.

      Die Herde bestand aus zwei Landschaftsgärtnerinnen, fünf Arbeiterinnen, mich mitgezählt und zwei Lehrlingen. Ich war mit meinen einundzwanzig Jahren die jüngste Arbeiterin, die anderen Frauen hatten alle schon Familie mit erwachsenen Kindern.

      Sie wussten sehr wohl was mir widerfahren war, hatten alles genau mitverfolgt, doch sie wagten es nicht, mich darauf anzusprechen. Die einzige Person, mit der ich darüber gesprochen hatte, war Jessi, doch die traf ich jetzt nicht mehr. Eine Haushaltshilfe war nicht mehr nötig, ich stand wieder auf eigenen Beinen.

      Natürlich hatte ich noch meinen Psychologen Christian, zu Dr. Huber ging ich nun nicht mehr. Christian versuchte immer noch mit mir zu erläutern, weshalb ich zwischenzeitlich vor Gericht bekannte, Carsten Fischer wäre nicht der Mann, der er sein sollte. Er bezeichnete diese Äußerung meinerseits im Angesicht des Hohen Gerichts als einen Schritt zurück in der Genesung meiner angegriffenen Psyche.

      Ich hätte sehr gerne die Sitzungen mit ihm ruhen lassen, doch er bestand immerzu darauf, dass ich zweimal die Woche bei ihm erschien. Er sagte, es sei ihm absolut wichtig, denn ich wäre noch nicht gesund.

      Ich gab also nach. Irgendwie tat es ja auch ganz gut mit jemandem zu reden.

      Als ich ihm sagte, dass ich mich schlecht fühle, weil Carsten Fischer zu zehn Jahren Haft ohne Bewährung verurteilt wurde, nur wegen mir, wurde Christian nahezu ungehalten.

      „Weißt du, weshalb er dieses Urteil bekommen hat? Wegen versuchter Vergewaltigung mit Todesfolge. Wenn du nicht wie durch ein Wunder entkommen wärst, dann hätte er dich grausam ermordet. Ist dir das klar? Warum hast du Mitleid mit jemandem, der dich grausam zu Tode foltern wollte?“, fragte er aufgeregt.

      „Und wenn er es tatsächlich nicht war?“, entgegnete ich.

      „Du weißt doch jetzt, dass er es war. Außerdem hat er dein Leben ein zweites Mal bedroht, oder etwa nicht? Auch in deiner Wohnung hat er dich verletzt.“

      „Dafür sitzt er aber nicht diese zehn Jahre.“

      „Was soll das, Christine? Wieso kommst du da nicht raus? Weshalb glaubst du immer noch an irreale Dinge frage ich mich? Sollte sich das nicht bald bessern, dann musst du wieder medizinisch behandelt werden, ist dir das klar?“

      Es klang wie eine Drohung. So hatte ich Christian noch nicht erlebt. Ging ihm tatsächlich die Geduld mit mir aus? Was war los mit ihm?

      Ich googelte ihn. Er war nirgendwo als Psychologe niedergelassen. Dann besah ich mir seine Visitenkarte. Hier stand „Dipl.-Psych. Christian Lange, Adresse, Handy-Nummer, Fax, Email, aber keine Hinweise bezüglich einer Praxis, auch keine Homepage.

      Wenn ich zu ihm ging, empfing er mich in einer normalen Wohnung.