Thorsten Dürholt

Sommer auf dem Sonnenbergerhof


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sehr ruhig, fast schüchtern wirkte. Trotzdem war sie als Benediktinas Adjutantin die heimliche Kraft so manch einer Schandtat. Alise wusste, dass Lau retta bei weitem klüger und verschlagener war, als ihre großen, rehbraunen Augen vermuten ließen.

      Aus ihrer Position konnte sie das heimliche Gespräch der beiden Mädchen besser belauschen als die anderen Mädchen, die mit den Vorbereitungen auf ihr Picknick fast fertig waren. Deutlich hörte sie Benediktinas glockenhelle Stimme, die ihr immer wieder das Lob des Chorleiters des katholischen Jugendchores einbrachte.

      „Dieses Jahr muss es klappen, ich will ihn haben!“

       „Wir werden es schaffen, Tina“, antwortete Lauretta und Alise wunderte sich schon fast, dass sie dabei nicht salutierte. Noch bevor Alise gründlich darüber nachdenken konnte, wer wohl gemeint war, nahm das Gespräch weiter seinen Lauf.

      „Wir können es uns, auch gerade als Gemeinde, nicht leisten, dass beständig diese auswärtigen Feriengäste an unseren einheimischen Jungen kleben und müssen deutlich ein Zeichen setzten.“ „Stimmt“, antwortete Lauretta eifrig nickend. „Ich tue es ja nicht für mich“, fuhr Benediktina fort, „sondern zum Wohle der Gemeinde. Man könnte fast sagen, ich opfere mich dem Gemeinwohl.“ „Oh ja, das tust du stets“, schmeichelte sich ihre Speichelleckerin ein. „Wir brauchen unbedingt Unterstützung von deinem Cousin“, fuhr Benediktina fort. „ Marc-André ist ein wahrer Spezialist in manchen Dingen und du solltest versuchen, ihn für unsere kleine Affäre als Verbündeten zu gewinnen.“

      Schon beim Gedanken an Marc-André Büttelsbrunft, den missratenen Sohn des hiesigen Polizeichefs, Hauptkommissar Büttelsbrunft, zog sich Alises Magen zusam men. Dieser kleine, perverse Saboteur erzeugte stets ein Übelkeitsgefühl bei ihr.

      Was immer es für eine Intrige war, wenn sie zu solchen Verbündeten griffen, konnte das Ergebnis nur entsetzlich sein.

      „… aber du weißt, er wird dich aufgrund seiner eigenen Schwärmerei nicht wirklich darin unterstützen, Sunny zu deinem festen Freund zu machen, es sei denn, er hätte etwas davon.“ „Er braucht das Ziel der Mission nicht zu kennen, Hauptsache, er funktioniert.“ „Ich habe da eine Idee, wie wäre es, wenn wir ihm das Ganze als seinen eigenen Plan verkaufen?“ „Und wie soll das funktionieren?“, fragte Benediktina mit vor Aufregung roten Wangen.

      „Also, wenn ich ihm anbiete, im Austausch gegen einen Erlass eines Teils meiner Schulden bei ihm, natürlich nur als Vorwand, dich auf Sunny anzusetzen, damit du ihm mit deinem verführerischen Wesen vom diesjährigen Bandwettstreit beim Open-Air-Festival ablenkst, würde Marc-André sich wahrscheinlich voll reinhängen.“

      Alise bewunderte Laurettas Raffinesse. In der Tat war Sunny bekannterweise ein rotes Tuch für Marc-André, da seit seinem Rauswurf aus Sunnys Band und der Gründung seiner eigenen Truppe, Marc-André ständig bei dem jährlichem Fest unterlegen war, sodass er heimlich von einem Sieg über seinen ehemaligen Mit-Musiker träumte. Fast noch mehr verwunderte Alise jedoch Benediktinas plötzliches Interesse an Sunny.

      Gut, sie mochte Sunny auch, denn eigentlich jeder mochte den netten Kerl, aber sie hätte nicht gedacht, dass es die wilde Bestie auf dieses unschuldige Beutetier abgesehen haben könnte. Verwundert lauschte sie weiter.

      „… hast du auch dafür einen Plan, denn schließlich hängt er ja jeden Sommer mit diesem Großstadtcowboy rum?“ Abscheu spiegelte sich in Benediktinas Augen. Natürlich, denn letztes Jahr hatte Teddy der hochnäsigen Dame doch durchaus auf amüsante Weise seine Meinung gesagt, als die beiden auf dem Mittelaltermarkt eine unerfreuliche Begegnung hatten. Teddys Wortwitz war sie nicht gewachsen gewesen und für Alise, die durch Zufall Zeuge des Vorfalls geworden war, war er dadurch zu einem Highlight ihrer letzten Ferien geworden.

      „Nun, eine von uns muss ihn wohl ablenken, wahrscheinlich mit dem Einsatz von weiblichen Waffen“, erklärte Lauretta. „Da die anderen wohl nicht das nötige Potential haben, um dieser Aufgabe gewachsen zu sein, werde ich mich wohl opfern müssen.“ Sie seufzte tragisch und verdrehte die Augen, doch im Unterschied zu Benediktina erkannte Alise durchaus das raubtierhafte Lächeln, das kurz Laurettas Gesicht durchzuckte. Offensichtlich hatte sie eigene Pläne. Die anderen Mädchen riefen die beiden Verschwörerinnen zum Picknick und Alise suchte sich eine bessere Position, um auch den Rest der Gespräche zu belauschen.

      Obwohl es sie eigentlich nichts anging, wollte sie Sunny retten, schließlich war er ja der Fechtschüler ihres Vaters.

      Der Vollmond schickte seine silbernen Strahlen über das mitternächtliche Tal und die Sterne leuchteten hell am klaren Nachthimmel. Das ganze Tal war in Schlaf versunken und eine unwirkliche Ruhe hatte sich über die kleine Stadt Freudental gesenkt.

      Alise saß auf ihrer Lieblingsbank, die versteckt zwischen alten Rhododendren-Büschen auf der Ostseite des alten Friedhofs stand. Der süße, schwere Duft der blühenden Büsche berührte sie mit jedem Windzug des kühlen Nachtwindes.

      Sie hatte sich zum Nachdenken auf den uralten Teil des Friedhofs zurückgezogen, da sie die Ruhe und den Frieden dieses Ortes zu schätzen wusste. Zwischen den hohen Büschen und den Tannenhölzern gab es hier sehr alte Gräber mit prächtigen Grabsteinen, die mit steinernen Engeln oder anderen Insignien kunstfertig geschmückt waren und vom Reichtum der mittelalterlichen Handelsstadt zeugten. Trotz der dichten Bepflanzung schienen die Sterne hell auf die gepflegten Wege des Friedhofes und Alise brauchte in dieser Vollmondnacht kein weiteres Licht, als jenes, dass ihr Mutter Mond schenkte.

      Nachdenklich schaute sie zu den Sternen und betrachtete die unzähligen funkelnden Feuer des Nachthimmels. Sie kannte die Konstellationen von zumindest vier verschiedenen astrologischen Schulen und konnte über hundert Sternzeichen aus Dutzenden Kulturen identifizieren, doch waren astrologische Berechnungen für sie nur eine Fingerspielerei, denn sie hielt diese Form der Divination für recht unzuverlässig.

      Nachdem sie am frühen Abend nach Hause zurückgekehrt war, um das Abendessen für ihre Männer zuzubereiten, hatte sie sich auf einen Blick in die Geheimnisse der drei Nornen, den Wächterinnen über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, vorbereitet.

      Als sie das gemeinsame Abendessen mit ihren beiden Brüdern und ihrem Vater beendet hatte und die Küche wieder aufgeräumt gewesen war, hatte sie das alte Tarot-Deck ihrer Mutter benutz, doch ihre Lesung war verwirrend gewesen. Auch die alten druidischen Runensteine, die sie von ihren Urgroßvater geschenkt bekommen hatte, hatten kein Licht in die Angelegenheit bringen können. Kurzentschlossen hatte sie sich in ihre Lieblingskleidung, die schwarzen Hüftjeans und ein schwarzes, langärmliges Rollkragenshirt, gewandet und war zum Friedhof gewandert.

      Wie gewohnt war sie über die ihr bekannte Stelle der alten Mauer geklettert und hatte erst das Grab ihrer Mutter für eine kleine Zwiesprache besucht, bevor sie sich zu ihrem Lieblingsplatz wandte.

      Ihre Mutter war vor elf Jahren verstorben, noch bevor Alise in die Grundschule kam. Aber sie hatte das Gefühl, dass der Geist ihrer geliebten Mutter stets über sie wachte.

      Seit dem tragischen und auch mysteriösen Unfall, hatte ihr Vater die drei Kinder allein großgezogen und Alise hatte stückchenweise immer mehr die Organisation des chaotischen Männerhaushaltes übernommen.

      Sie kümmerte sich gerne um ihre beiden älteren Brüder und, obwohl der Ältere bereits aus dem Haus war und in Heidelberg Medizin, Psychologie und Philosophie studierte, kam er in den Semesterferien zurück nach Hause, um sich wieder ins familiäre Nest zu setzen. Stöhnend dachte Alise erneut an den riesigen Wäscheberg, den er ihr als "Mitbringsel" mitgebracht hatte.

      Zumindest half er ihrem Vater fleißig bei der Vorbereitung auf den großen Mittelaltermarkt und all die anderen Festlichkeiten, die der Sommer mit sich brachte. Auch ihr Vater war im Sommer schwer beschäftigt.

      Zwar gehörte er als emeritierter Professor der Archäologie nominell immer noch der Universität in der nahe gelegenen Großstadt an, aber seit er die Dorfschmiede sei nes Vaters nach dessen Tod übernommen hatte, war seine wissenschaftliche Arbeit eher der kunsthandwerklichen Form der experimentellen Archäologie zugewandt. Lediglich einmal in der Woche fuhr er in die Stadt, um Vorlesungen zu halten, Geschäfte