Thorsten Dürholt

Sommer auf dem Sonnenbergerhof


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Doktor ging. Die Folge war, dass die Gerüchte über ihre angeblichen Geisteskrankheiten immer wieder neu und in den seltsamsten Formen die Runde in der kleinen Stadt machten. Selbst ihre Lehrer, die es besser wissen sollten, waren häufig skeptisch gegenüber ihrer geistigen Verfassung. Alise hatte sich daran gewöhnt, eine Außenseiterin zu sein.

      Von ihrer Großmutter hatte sie ein gutes Tee-Rezept erhalten, das sie mit den von ihr herangezogenen Kräutern aus dem eigenen Garten zubereitete. Der Tee schenkte ihr die innerliche Ruhe und Gelassenheit, um sich nicht dauernd geistig selbst zu überholen. Für den Notfall fertigte sie regelmäßig leckere Kekse mit einer leicht abgewandelten Mischung der Rezeptur an, um diese für Notfälle bereit zu halten, wenn sie zum Beispiel in der Schule war.

      Sie schwor auf das uralte Familienrezept und selbst ihre Brüder und ihr Vater profitierten davon. Da alle drei ihrer Männer leider rauchten, hatte sich Alise angewöhnt, für die ganze Bande regelmäßig eine größere Portion eines guten Tabaks aus biologischen Fair-Trade-Quellen zu erwerben, den sie über einen Importladen in der Großstadt bezog. Statt diesen chemisch zu imprägnieren und zu parfümieren, verfeinerte sie ihn selber mit einer Variante der guten Kräutermischung und einigen zusätzlichen Bestandteilen, um ihre Männer zumindest zum Teil vor den negativen Auswirkungen des Rauchens zu schützen.

      Sie machte sich zwar ein wenig Sorgen, da das Studium ihres großen Bruders scheinbar so stressig war, dass seine Bestellungen an Keksen und Tabakmischungen sich extrem erhöht hatten, aber wenigstens zuhause schien sich sein Konsum wieder zu normalisieren.

      Auch ein paar ihrer Nachhilfeschüler hatten zur Beruhigung und Unterstützung vor bedeutsamen Prüfungen mal einen Keks zum probieren bekommen und einigen schien dies auch zu helfen.

      Seit sie vor einem Jahr begonnen hatte, Nachhilfeunterricht in Englisch und Französisch für ein paar Oberstufenschüler zu geben, hatte sich die Zahl ihrer Nachhilfeschüler bereits verdoppelt und fast alle von ihnen hatten nicht nur signifikant ihre Noten verbessert, sondern spendeten auch regelmäßig in ihren Backfond im Austausch gegen einige der leckeren Kekse. Natürlich blieben diese Nachhilfestunden geheim, denn sie wollte den Oberstufenschülern die Peinlichkeit ersparen, dass jemand her ausfand, wer ihr Nachhilfelehrer war und dass eine Mittelstufenschülerin sie zu Bestnoten trieb.

      Sie war auch heimlich stolz darauf, dass zwei ihrer Schützlinge es geschafft hatten, sich durch ihre magischen Kekse von einer beginnenden Drogensucht zu kurieren.

      Beide hatten sich vorher durch Marc-André, der wohl der heimliche Drogenbaron des Proberaumzentrums beim Freudentaler Jugendhaus war, zu dem Konsum von sogenannten „Leichten“ Drogen überreden lassen und mit ihm in den Pausen gemeinsam sogenannte „Joints“ geraucht.

      Marc-André wollte damit die Oberstufenschüler, deren Band ebenfalls im Proberaumzentrum des Jugendamtes spielte, auf seine Seite ziehen, nicht nur um seine miesen Drogen zu verkaufen. Zum Glück wusste er noch nicht, dass es Alise war, die ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht hatte.

      Sie hatte nicht genug Beweise, dass Marc-André dort mit Drogen handelte, sonst hätte sie bereits die dortigen Erzieher eingeweiht, aber die Vermutung lag nahe, da schon sein älterer Bruder aus diesem Grund ein Hausverbot bekommen hatte. Nur der Umstand, dass der Vater der beiden halbkriminellen Vollidioten der hiesige Amtsstellenleiter der Polizei war, hatte Ernsthafteres verhindert.

      Indes war sowohl ihre Nachhilfestunden-Kasse, als auch ihr Backfond zu ansehnlichen Höhen gestiegen und hatten sich zu einer guten Quelle ihres Einkommens gemausert.

      Nachdem sie die letzten Reste ihres Tees genossen hatte, beschloss sie während der letzten Stunden der Nacht, bevor ihr Bett sie rief, sich dem Anmalen von klei nen Plastikfiguren zu widmen. Sie holte die Plastikboxen mit dem Material aus ihrem Schrank und schloss den Browser, um die Seite mit den Vorlagen zu öffnen. Mittlerweile lief eine Dokumentation über Ratten in der Londoner Kanalisation im Fernsehen, was ausgezeichnet passte, denn die Figuren waren einige Zentimeter große Darstellungen von kriegerischen, anthropomorphen, also vermenschlichten, Ratten, die sie für den größeren ihrer Brüder kunstvoll bemalen wollte, denn in einigen Tagen wollte er bei einem Spieletreffen in einem Jugendzentrum in der Großstadt diese Figuren bei einem Table-Top-Turnier benutzen.

      Dieses Spiel war eine Art Brettspiel, bei dem die Spieler ihre fantastischen Armeen auf kunstvoll gebauten Schlachtfeldern gegeneinander antreten ließen. Ein ziemliches „Nerd“-Hobby, aber Alise freute sich, dass ihr Bruder sich mit seinen alten Freunden aus der Gegend zu diesem Anlass traf.

      Wahrscheinlich würde sie ihn begleiten, denn im Gegensatz zum jüngeren ihrer Brüder, der nur am heimatlichen PC spielte und ausschließlich zu großen Computerspielemessen fuhr, mochte sie es, wenn man sich zum Spielen an einem Tisch traf.

      Es war weit nach vier Uhr, als sie alles an Elektronik herunterfuhr, aufräumte und sich dann ihrer Kleidung entledigte, um sich in ihr Bett zu kuscheln. Hätte sie von den komischen Träumen gewusst, hätte sie auf ihren Schlaftrunk verzichtet und lieber die Nacht mit anderen Dingen verbracht. Hätte sie gar von den prophetischen Bestandteilen gewusst, hätte sie noch zusätzlich eine Kanne Tee für den Morgen vorbereitet.

      Trotz seltsamer Träume erwachte sie pünktlich wie ein Uhrwerk zu ihrer gewohnten Stunde und begann gleich mit ihrer Morgenroutine. Um den Tag gut zu beginnen, benutzte sie eine massageähnliche Entspannungstechnik an sich und ging nach ihrem anschließenden morgendlichen Sportprogramm unter die Dusche.

      Die Träume hatten sie so verwirrt, dass sie unter der Dusche ebenfalls zu einigen hilfreichen Entspannungstechniken griff, bevor sie sich in ihr kuscheliges großes Handtuch gehüllt auf ihr Bett setzte und sich ihrer Haarpflege annahm. Um ihre Erfolgschancen bei der Mission zu erhöhen, beschloss sie, ein wenig Make-Up aufzutragen und unterstrich ihre smaragdgrünen Augen gekonnt mit einem Hauch ihres selbstgemachten Eyeliners.

      Zu der gut sitzenden, schwarzen Hüftjeans entschied sie sich für ihr Lieblings-T-Shirt. Zwar war das schwarze T-Shirt mit dem in schwarz-weiß gehaltenen Aufdruck aus einer ihrer Lieblings-Graphic Novels – sie hasste es, wenn bei dieser Form der Kunst von Comics gesprochen wurde – schon recht ausgewaschen und eigentlich war es auch schon fast zu eng, aber es war halt ihr Glücks-Oberteil.

      Sie entschloss sich, ihr Palästinensertuch als Halstuch mitzunehmen, welches mit ätherischen Ölen präpariert war, die zu einer positiveren Wahrnehmung der Trägerin verleiten sollten, denn Alise konnte jede Hilfe gebrauchen.

      Sie beschloss, ihre Umhängetasche und ihren Flötenkoffer schon mit in den Flur zu nehmen, als sie sanft die Treppe hinunterglitt, um das Frühstück für ihre Familie vorzubereiten. Spannende Erwartung kribbelte in ihrem Bauch und sie war gleichzeitig nervös und voller Vorfreude auf die heutige Orchesterprobe.

      Das Spiel hatte begonnen.

      Fröhlich begrüßte eine Gruppe Spatzen mit lautem Gezwitscher die morgendliche Stadt. Die Sonne schickte die ersten warmen Strahlen in die engen, verschlafenen Gassen der mittelalterlich anmutenden Innenstadt von Freudental.

      Die Fassaden der alten Häuser waren liebevoll restauriert und nur die eine oder andere unauffällige Reminiszenz an die moderne Welt erinnerte an die wirkliche Zeit, die das mittelalterliche Städtchen scheinbar verschlafen hatte. Der größte Teil der Freudentaler Innenstadt bestand aus kopfsteingepflasterten, kleinen Gassen, die nur für Fußgänger erlaubt waren.

      Es gab zahlreiche Geschäfte in den alten Gassen, doch der größte Teil des hiesigen Einzelhandels war eindeutig auf die Ströme der neugierigen Touristen abgestimmt, die Freudental zu den jeweiligen Zeiten heimsuchten und Geld in die Kasse der Kommune spülten. Auch die reichhaltige Gaststätten- und Kneipenkultur war eindeutig für Gäste aus den Großstädten aus aller Welt zugeschnitten.

      Die Tourismus-, aber auch die Veranstaltungsbranche waren die wichtigsten Wirtschaftsfaktoren der Region rund um die Gemeinde Freudental und fast sämtliche funktionalen Bauernhöfe der Gegend hatten sich auf biologischen Anbau umgestellt, um ihre guten „hausgemachten“ Produkte an die vielen Besucher zu absolut überzogenen Preisen zu verkaufen.

      Der Sommer war die Hauptgeschäftszeit der