Thorsten Dürholt

Sommer auf dem Sonnenbergerhof


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um das Geheimnis der mittelalterlichen Waffenschmiedekunst oder des Kunstschmiedehandwerks zu erlernen.

      Im Sommer waren nur der Geselle, der Lehrling und ihre Brüder in der Schmiede tätig. Selten beschäftigte sich auch Alise in der Schmiede, denn ihr Vater sah nicht gerne zu, wenn ein „zartes Mädchen“ den Hammer schwang.

      Dennoch schätzte er ihre Handarbeiten, was die Gestaltung des Lederzubehörs, wie z.B. Messerscheiden anging und ihre Spielereien in der Kunst des Gold-und Silberschmiedehandwerks, mit dem sie Verzierungen für manche Produkte ihres Vaters fabrizierte und über das Jahr auch ein wenig Schmuck herstellte, der stets ihren Stand auf den diversen Festen um ein weiteres gutes Handwerksprodukt bereicherte.

      Neben einigen Kursen an der Volkshochschule, hatte sich Alise diese Handwerkskünste, wie so vieles, autodidaktisch aus verschiedenen Büchern und Dokumentationen beigebracht. Da ihr Vater seit dem Tod ihrer Mutter etwas exzentrisch geworden war, hatte er es lobend zur Kenntnis genommen, aber sich nicht über die seltsamen Talente seiner Tochter gewundert. Wahrscheinlich war er seltsame Hobbys und plötzliche neue Fähigkeiten auch hinreichend von ihren großen Brüdern gewohnt.

      In der Tat glaubte Alise, dass ihre Brüder erst, als sie mit Brüsten aus ihrem langem Auslandsaufenthalt zurückgekehrt war, erkannt hatten, dass sie ein Mädchen war, denn alle Mitglieder ihrer kleinen Familie trugen das charakteristische, dunkelrote Haar unbändig lang.

      Dank geschickter Pflege hatte sich Alise noch nie in ihrem Leben die Haare schneiden lassen und die langen, roten Locken fielen ihr, wenn sie es offen trug, bis weit über die Hüfte herunter. Doch zumeist trug sie einen nach französischer Art selbst geflochtenen Zopf, dessen Ende zwischen ihren Pobacken baumelte und gerade kurz genug war, dass sie nicht dauernd beim Setzen darauf achten musste. Offen waren ihre langen Locken und das dichte Haar wild und wirkten fast unbezähmbar.

      Der tägliche Zopf war ein Manifest von Alises eisernem Willen.

      Durch die Querelen ihrer Brüder, die beide eine extrem alberne Pubertät durchlebten, und Alises jungenhafte Art, wurden die argwöhnischen Vorurteile gegen einen alleinerziehenden Vater von allerlei Gerüchten untermalt.

      Je älter Alise wurde, umso mehr wurde sie zu einer Art Außenseiter. Ihr Hang zu dunkler Musik und schwarzer Kleidung bestätigte ihre Mitschüler und die anderen Gleichaltrigen umso mehr. Dazu passte auch, dass sie den Fehler gemacht hatte, ihre Intelligenz und ihr breitgefächertes Allgemeinwissen nicht zu verheimlichen. Sie hatte in der ganzen Stadt keine wirklichen Freunde.

      Ihren einzigen Freundeskreis traf sie einmal in der Woche, wenn sie freitags nach der Schule in die Großstadt fuhr und sich mit Anderen zu ihrem gemeinsamen Hobby traf. Streng trennte sie dieses „zweite Leben“ von ihrem Freudentaler Alltag und nur ihre Brüder, die sie in die Sze ne eingeführt hatten, wussten um ihr seltsames Hobby, welches bei keinem der Freudentaler Jugendlichen auf Verständnis gestoßen wäre.

      Doch alle diese Gedanken über ihr eigenes Dilemma halfen ihr nicht bei ihrem eigentlichen Problem. Wie sie Sunny vor der heimtückischen Benediktina retten konnte, war ihr noch ein Rätsel. Sie brauchte einen Plan, um sich unauffällig in Sunnys Nähe aufzuhalten. Zumindest brauchte diese Mission eine gute Ausrede. Plötzlich kam ihr eine zündende Idee.

      Da Sunny ja auf dem Sonnenberger Gestüt mitarbeitete, könnte sie ihn nach Reitstunden fragen. Zwar konnte Alise perfekt reiten, denn ihr Großonkel, der Olympiasieger im Modernen Fünfkampf, dem sogenannten Pentathlon war, hatte darauf bestanden, dass die Kunst des Reitens, genauso wie das Fechten und Savate, eine alte französische Kampfkunstart, genauso zur klassischen Ausbildung einer jungen Dame gehörte, wie einige andere interessante Künste und Alise hatte alles gelernt wie ein ausgetrockneter Schwamm Wasser aufnahm. Da diese Ausbildung jedoch im Chateau der Familie an der felsigen Küste der Normandie erfolgt war, wusste außerhalb ihrer Familie niemand vor Ort von ihren Kenntnissen.

      Reitstunden von Sunny wären eine gute Möglichkeit dessen Nähe zu suchen, ohne Argwohn zu erwecken. Nur in der Schmiede konnte sie das nicht mit ihm verabreden. Zwar war Sunny ein gern gesehener Gast in der kleinen Fechthalle hinter der Schmiede, die zum Anwesen gehörte, aber ihr Vater oder ihre Brüder könnten das in den falschen Hals bekommen und sowohl auf Spott, als auf den Versuch ihrer Brüder, sie zu verkuppeln, konnte sie verzichten.

      Es war sowieso nervig, dass ihre Brüder sie dauernd bedrängten, sich einen festen Freund zu suchen. Das war keine gute Idee.

      Plötzlich schoss ihr ein Gedanke durch den Kopf. Morgen würden sie doch mit dem Orchester der Freudentaler Musikschule für das Sommeranfangskonzert im Stadtgarten üben. Sunny war, genauso wie sie, in der ersten Garnitur dieser illustren Gruppe und obwohl ihre Plätze in der Aufstellung des Orchesters völlig unterschiedlich waren, denn Sunny war als erster Violinist ein Teil der Streicher und Alise saß mit ihrer Querflöte in der Bläsersektion, würde es dennoch eine Möglichkeit geben, ihn vor Ort anzusprechen.

      Sie hoffte, ihre jährliche Konkurrenz beim Kirchenfest würde ihn nicht abschrecken. Seit den letzten zwei Jahren buhlten sie als Konkurrenten um den ersten Platz des Nachwuchs-Kuchenbackwettbewerbs des sommerlichen Wohltätigkeitsfestes der Gemeinde. Da beide jeweils einmal mit ihrem Apfelkuchen gewonnen hatten, stand dieses Jahr die endgültige Entscheidung aus, wer der Apfelkuchenkönig des Tales wurde. Sie hatte zwar Sunny letztes Jahr als guten Verlierer erlebt, der sogar ausdrücklich ihren Apfelkuchen gelobt hatte und sich heimlich ein zweites Stück stibitzt hatte, aber man wusste ja nie. Sie musste es riskieren.

      Entschlossen stand sie auf. Zeit, nach Hause zu gehen, um sich noch einen Gute-Nacht-Tee nach eigenem Rezept zu brauen und dann ein wenig Ruhe zu suchen. Der Sommer würde viele Aufgaben für die entschlossene Alise bereithalten.

      Es war bereits nach zwei Uhr in der Nacht, als Alise mit ihrem frisch aufgebrühten Tee in ihrem gemütlichen Dachbodenzimmer saß. Über den Bildschirm ihres mittelgroßen Flachbildfernsehers flimmerte eine BBC-Reportage über das Leben der Niederrheinischen Flachland-Langhaar-Bonobos, deren Zuchtprogramm gerade in einem Zoo neu gestartet worden war. Sie saß währenddessen gemütlich in ihrem Chefsessel an ihrem Schreibtisch und beobachtete die drei Monitore. Während auf dem einen Monitor ihr Mail-Programm offenstand und sie mit der Vielzahl ihrer Brieffreunde, bzw. Online-Bekanntschaften in aller Welt kommunizierte, las sie auf dem zweiten Monitor den neuesten Teil ihrer Lieblingsromanserie als E-Book. Der Jüngere ihrer beiden Brüder, der ein Händchen für Informatik hatte, war so lieb gewesen, ihr ein eigenes E-Book-Leseprogramm zu entwickeln, was auf ihre Bedürfnisse eingestellt war und in einem, ihr angenehmen, Tempo den Text selbständig fließen ließ.

      Auf dem dritten Monitor war der Internetbrowser geöffnet und mehrere Reiter kündeten von ihrer fleißigen Recherche zu den verschiedensten Themen.

      Alises Gehirn war schon seit frühester Kindheit in der Lage, mehrere Informationen zeitgleich zu verarbeiten. Seit ihrer ausführlichen Beschäftigung mit der Theorie des Gedankenpalastes und dem Studium der Trainingsmethoden diverser Gedächtniskünstler konnte sie außerdem auch alles aufgenommene Wissen jederzeit wieder abrufen.

      Obwohl sie es selbst niemals so bezeichnen würde, fand ihr behandelnder Psychologe, dass sie ein eidetisches Gedächtnis besaß. Ihr Intelligenzquotient von 130 bestätigte ihre kognitive Begabung noch zusätzlich.

      Leider hatte ihre geistige Fähigkeit einen herben Haken, denn seit ihrer Kindheit litt sie an einer seltenen Form der Hyperaktivitätsstörung, die nicht nur ihr Gehirn in dauernder Aktivität hielt, sondern auch dafür sorgte, dass es an ein Wunder grenzte, wenn sie mal mehr als drei Stunden in der Nacht schlief.

      Da ihr Vater nicht an die wundersame Wirkung von Ritalin oder ähnlichen Substanzen glaubte, war er nicht der Empfehlung des Schulpsychologischen Dienstes gefolgt, Alise bei einem spezialisierten Psychiater „einstellen“ zu lassen, aber hatte ein Einsehen, dass sich sein Kind, auf dringendes Anraten der Grundschule, von dem örtlichen Psychologen untersuchen ließ und letztendlich dort in regelmäßige Behandlung ging.

      Seit ihrer Rückkehr vor zwei Jahren besuchte sie regelmäßig, zweimal pro Monat, eine Therapiesitzung bei Dr. Hasenstolz, ihrem Psychologen, der ihr half, Strategien zum Umgang mit ihrer besonderen