Christian Schuetz

CYTO-X


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Vater war noch immer zu keiner Antwort fähig, was sie freute. Überrumpeln konnte man ihn nur selten, schon gar nicht, wenn es um seine Arbeit ging. „Ich kann nicht nach Oslo fliegen! Sag mal, spinnst du? Und was soll ich ihr sagen, wenn sie wissen will, was ich schon herausgefunden habe?“

      Emma grinste nur. Ihr Vater war in der Defensive. Wann gab es das schon mal? Und gleich würde sie zum Todesstoß ansetzen! Nein, das war zu martialisch gedacht, aber ihr war klar geworden, dass ihr Vater dieses Abenteuer nicht alleine bestehen würde. Nur konnte sie ihren Plan nicht auf den Tisch legen, solange ihr Vater Herr der Lage war.

      „Keine Angst! Du musst nicht alleine gehen. Du wirst einen Assistenten mitnehmen.“

      „Ich dachte, du kommst mit! Was will ich mit Steffen? Ich hab ihn doch gerade erst mühsam abgewimmelt.“

      Emma sah ihm tief in die Augen. Sie zog nun alle Register ihrer Überredungskunst als Tochter. „Ich habe nächste Woche sieben Operationen, die ich nicht verschieben kann. Und ich meinte auch nicht Steffen! Du brauchst jemand, der ganz anders denkt als du oder ich oder Steffen. Eine andere Sichtweise und ein wenig detektivisches Feingefühl. Ich habe einen Bekannten, besser gesagt einen ehemaligen Patienten, der mir noch einen Gefallen schuldet. Der wird dich begleiten. Er heißt Erik. Du wirst ihn mögen!“

      Ob der Teufel sie zu dieser Idee getrieben hatte oder ihre Hormone oder doch eher ihr Verstand, das vermochte sie nicht zu beurteilen. Sie hatte seit Wochen nicht an Erik gedacht und heute bereits zweimal! Er war während der gesamten Diskussion irgendwie präsent geblieben, weil das hier genau sein Metier war, auf die eine oder andere Weise. Konnte sie ihm trauen? Er schuldete ihr sein Leben oder zumindest sein funktionierendes Gehirn. Er hatte ihr Einiges gebeichtet, was es ihr schwer machte, ihm zu vertrauen, aber im Kern war Erik trotz allem kein schlechter Mensch.

      Sie wusste, dass das alles etwas wacklig war. Sie hatte keine Ahnung, ob sie Erik so kurzfristig erreichen konnte. Sie hatte eine E-Mail-Adresse von ihm, mehr nicht, allerdings eine, von der er behauptet hatte, dass nur wenige sie kannten. Und er hatte gesagt, wenn sie ihn dort anschrieb, würde er sich innerhalb von zwei Stunden melden, wo auch immer auf der Welt er sich gerade aufhielt.

      „Ich kann das doch keinem Fremden anvertrauen“, unterbrach ihr Vater sie in ihren Gedanken. „Was macht der überhaupt beruflich?“

      Emma schenkte ihm die liebsten Kulleraugen, zu denen sie mit dreißig noch in der Lage war und dazu die Wahrheit: „Streng genommen, ist er ein Dieb.“

      4 - Erik

      Erik Zsolt hatte Emma etwa sechs Monate zuvor aufgesucht. Für ihn war Dr. Emma Brugger anfangs nur eine weitere Expertin auf dem Gebiet der Gehirnchirurgie. Genauer gesagt, die Nummer Drei auf seiner Liste. Die ersten beiden hatten ihm Operationen empfohlen, bei denen nicht sicher war, ob er anschließend noch seinen Namen würde schreiben können. Ein Risiko bestehe immer, bla bla bla ... Das war für ihn aber nie eine Option. Sein Gehirn war etwas Besonderes und er wollte keinen riskanten Eingriff, obwohl ihn seine Kopfschmerzen langsam um den Verstand brachten.

      Er saß in ihrem Sprechzimmer und wartete auf sie, allerdings ohne sich allzu große Hoffnungen zu machen. Zu ähnlich waren die beiden vorherigen Diagnosen und Heilungsvorschläge, als dass er nun etwas grundlegend Anderes erwarten konnte. Hauptsächlich, das musste er zugeben, war er auf diese junge Ärztin gespannt.

      Noch keine dreißig und schon so hoch angesehen? Er galt selbst als Wunderkind. Vielleicht würde ihn diese Frau besser verstehen können, als die beiden gereiften Herren, die ihm zuvor in den Kopf geschaut hatten. Trotzdem hätte er den Termin fast abgesagt. Er mochte es nicht, enttäuscht zu werden und diese Konsultation roch förmlich nach Enttäuschung.

      Die beiden Kliniken in Los Angeles und London, die Erik zuvor um Rat ersucht hatte, waren hochmodern ausgerüstet. Hier in Frankfurt hatte alles einen Look, der eher den Achtzigern entsprach. Eine Renovierung hätte nicht geschadet. Bis dahin hatte er natürlich keinen der Operationsräume gesehen, aber er kam viel in der Welt herum und wie diese Adresse die Nummer Drei auf seiner Liste werden konnte, war ihm schleierhaft.

      Aber dann kam alles doch ganz anders. Sie war ihm auf den ersten Blick sympathisch und alles an ihr war sehr zielgerichtet. Kein Drum-Herum-Gerede. „Tscholt? Spreche ich das so richtig aus?“

      „Ein wenig weicher, Dscholt und manche lassen das D auch gleich ganz stumm.“ Sie nickte und gab ihm zunächst eine Auflistung der Untersuchungsergebnisse, die sie vorliegen hatte und fragte, ob es seither neue Befunde oder Aufnahmen des Gehirns gäbe.

      Als er dies verneinte, stellte sie ihm eine sehr überraschende Frage: „Haben Sie besondere geistige Fähigkeiten? Visionen? Hellsichtigkeit?“

      Erik zuckte kurz zusammen und musste dann lachen. „O.K., ich mag es direkt! Aber ich hatte jetzt eher mit einem Vorschlag für eine OP gerechnet.“

      Er blickte sie etwas fragend an, die Augenbrauen hochgezogen und wartete auf ihre Erklärung.

      Emma schüttelte kurz den Kopf. „Nun, wenn ich Ihre Unterlagen einsehe, dann haben Sie den Vorschlag ja schon zweimal abgelehnt. Patterson in Los Angeles hat von Ihnen sogar eine schriftliche Erklärung verlangt, dass Sie die Operation ablehnen und Ihnen bewusst sei, dass sie vielleicht nur noch zwei bis drei Jahre zu leben hätten, was ich übrigens als etwas dramatisch empfinde, aber die Amis haben aus Gewohnheit immer schnell Angst, dass man sie verklagen könnte.“

      Sie blätterte ein wenig in den Papieren. „Auch in London gab es den gleichen Befund ... Entfernung des Tumors wurde vorgeschlagen ... Die merkwürdige Lage und Form des Gewebes wird zwar erwähnt, aber an einen etwas ausgefalleneren Befund hat sich keiner der Ärzte gewagt. Ich hätte die OP jetzt auch vorschlagen können, aber Sie hätten sie sicher zum dritten Mal abgelehnt.“

      „Und das veranlasst Sie zu dem alternativen Befund, dass meine Kopfschmerzen von einer Art übersinnlicher Wahrnehmung herrühren könnten?“, umschiffte er eine Antwort seinerseits ein zweites Mal. „Und was ist dann mit meinem Tumor? Ist der aufgrund irgendwelcher Fähigkeiten gewachsen?“

      Allerdings konnte er ihrem Blick entnehmen, dass sie sein ausweichendes Verhalten durchschaute und offensichtlich missbilligte. „Herr Zsolt, Sie weichen der Antwort aus. Aber Sie müssen auch nicht mehr antworten. Ich habe hier auf meinem Befundbogen bereits JA angekreuzt. Sie müssen nur noch beschreiben, welche Art von besonderer geistiger Fähigkeit bei Ihnen vorliegt.“

      Das war entwaffnend. Erik war aber froh, dass die beiden vorherigen Ärzte diesen Zusammenhang nicht vermutet hatten. Beide waren ihm auf Anhieb furchtbar unsympathisch gewesen, und es wäre ihm sicher schwer gefallen, sich einem von ihnen zu öffnen.

      Diese junge Ärztin hier mochte er aber. Ihr gutes Aussehen trug dazu natürlich bei, aber sie hatte etwas an sich, das ihn reizte, und er war darauf geschult, auf Kleinigkeiten zu achten. Sie spielte mit dem Kugelschreiber, griff immer mal wieder an eine ihrer Haarsträhnen und legte ab und zu den Nacken leicht zur Seite. Nicht viel, aber gerade so viel, dass Erik wusste, dass Dr. Emma Brugger auch ihn anziehend oder zumindest interessant fand. Trotzdem musste er vorsichtig sein und genau überlegen, wie viel er preisgeben würde.

      „Ich sehe keine Geister, ich kann keine Gegenstände mit meinen Gedanken bewegen, und ich habe auch keine Visionen von der Zukunft, aber ich habe eine Art hyper-analytische Wahrnehmung. Ich löse Probleme, die andere nicht lösen können. Ich kann mir optische Eindrücke sehr gut merken.“

      Erik überlegte, wie er es am besten angehen sollte, aber Emma hakte sofort nach: „Sie haben ein fotografisches Gedächtnis?“

      Erik schüttelte den Kopf. „Nein, ich wünschte manchmal, dem wäre so, aber es ist komplizierter. Sehen Sie, ich war früher ein sehr mittelmäßiger Schüler. Nein, stimmt nicht, sogar eher unterdurchschnittlich! Konzentrationsschwierigkeiten! Und auch im Basteln oder im Sport war ich nicht gut, weil ich leichte Störungen der Motorik hatte.

      Aber dann, ungefähr mit elf, fiel mir die Schule plötzlich leichter. Ich verstand,