Christian Schuetz

CYTO-X


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Selbst ohne Spionage-Satellit und ohne marodierende Geheimagenten, war es immer noch möglich, dass ihn jemand beobachtete. Erik wusste genau, auf welches Verhalten von Personen er achten musste. Die „auffällig Unauffälligen“ waren für ein ungeschultes Auge schwer zu erkennen.

      Er hatte schon an CIA-Agenten und Israelis geübt, und da er sich Gesichter sehr gut merken konnte, war seine Beobachtungsgabe in kurzer Zeit richtig gut geworden. Probleme bereiteten ihm die Chinesen. Die sahen für ihn auf den ersten Blick alle gleich aus.

      Vor den Chinesen hatte er noch aus anderen Gründen immer den größten Respekt. Sie waren nach seiner Einschätzung einfach die besten in diesem Geschäft und aufgrund der politischen Struktur Chinas auch die gefährlichsten. Sein Anti-Spionage-Programm hatte mit chinesischen Agenten auch ab und zu so seine Probleme.

      Offiziell gab es drei verschiedene Geheimdienste in China, die sich untereinander bespitzelten. Jeder Dienst war in zwölf „Büros“ aufgeteilt, mit verschiedenen Zuständigkeiten. Es gab noch einen vierten Dienst, der ausschließlich mit der Überwachung der anderen drei Dienste beschäftigt war. Dies wurde aber selbst bei Organisationen, wie der CIA, oft nur als urbane Legende dargestellt Ein Kollege von Erik sammelte derzeit Beweise für den fünften Dienst in China.

      In Eriks Routine waren also asiatische Gesichter die ersten Ankerpunkte. Kein Chinese war weit und breit zu sehen, also atmete er tief durch und begann unauffällig über das Gelände der Uniklinik zu streifen. Er prägte sich im Vorbeigehen Gesichter ein und kam nach circa zwanzig Minuten „rein zufällig“ wieder an seinem Ausgangspunkt an. Niemand war seiner zufälligen Route „unauffällig“ gefolgt. Erik war sich sicher, dass niemand ihn beobachtete und beendete sein Ritual.

      Die Vorsicht hatte sich immer ausgezahlt. „Better safe, than sorry!“, wurde in der „Brain Factory“ immer gepredigt. Erik zuckte zusammen, als er sich selbst dabei ertappte, dass er den Namen verwendet hatte, wenn auch nur in Gedanken. „Wenn etwas keinen Namen hat, kann es darüber auch keine Akte geben!“, war noch so eine Weisheit. Im Widerspruch dazu, hatten alle seine Kollegen aber einen Decknamen, meist die alten Hacker-Namen aus den Neunzigern. Ganz ohne Namen ging es einfach nicht, und so hatte sich auch der Spitzname „Brain Factory“ irgendwann eingebürgert.

      Natürlich stellten sie keine Gehirne her, aber sie waren auch keine einfachen Diebe. Die meisten Ideen, die sie klauten, wurden von ihnen erst perfektioniert oder in die Tat umgesetzt. Erik selbst war oft an Universitäten oder Instituten und hatte sich ganze Tafelbilder an Gleichungen und Diagrammen gemerkt, bevor ein enttäuschter Forscher seine eigenen Ergüsse mit schmerzendem Blick wieder löschte, weil er damit nicht weiterkam oder dachte, er habe einen Fehler gemacht.

      Sie stahlen, aber entwickelten Ideen auch weiter. Und wenn sie Gedankengut oder Technik stahlen, dann bei denen, die es verdienten. Das war das Credo, das ihr Unternehmen über all die Jahre zusammengehalten hatte.

      Die Straßenbahn beförderte ihn direkt zum Vereinsheim des Golfclubs. Öffentliche Verkehrsmittel waren ein Segen für Existenzen wie ihn. Natürlich besaß er Autos, aber alle nur für seinen privaten Gebrauch, besonders für Spaßfahrten, und sie standen alle sauber verwahrt in den Garagen seiner Häuser. Wenn Erik beruflich unterwegs war, gab es nur öffentliche Transportmittel.

      Das hatte er sich auch für seine Arztbesuche im Zusammenhang mit seinem vermeintlichen Tumor vorgenommen. Nie in einem Fahrzeug reisen, das man mit seiner Person direkt in Verbindung bringen konnte, lautete sein Transport-Motto. Am häufigsten war er weltweit mit Straßenbahnen und U-Bahnen unterwegs.

      Auf diese Weise hatte er die Netzpläne von gut fünfzig Weltstädten auswendig gelernt. Auch das war unglaublich nützlich, falls er doch mal beschattet wurde, was ihm zugegebenermaßen erst ein einziges Mal passiert war; von einem privaten Sicherheitsunternehmen, das seine Identität kontrollieren wollte.

      Erik hatte seine Verfolger in der Londoner „Underground“ abgeschüttelt, und als er wusste, dass ihm dort keine echte Gefahr drohte, ließ er sich mit Genuss wieder weiter beschatten, um bei dieser Aktion seine Fähigkeiten zu trainieren. Er wäre bereit, falls ihm die „Feinde“ eines Tages nachstellen würden, hoffte aber, dass es dann nicht ausgerechnet die Chinesen wären.

      Als er das Vereinsheim betrat, wartete sie bereits in voller Golfmontur auf ihn. Statt des Arztkittels und den langen Hosen trug sie ein Poloshirt und einen Rock, der ihm zeigte, dass zu Emma auch sehr schöne Knie gehörten. Die Haare waren nun sehr akkurat zu einem langen Pferdeschwanz gebunden, unter dem das Schweißband ihres Sonnenhutes Halt fand. Fingerlose Handschuhe, farblich abgestimmte Golfschuhe und sogar passende Ohrringe rundeten das Bild nun ab.

      Sie hatte auf Erik nicht den Eindruck gemacht, als würde sie das Haus nicht ohne Style-Berater verlassen, aber jetzt war ihr Outfit einfach perfekt. Erik musste sich beherrschen, um nicht zu sehr auf ihre körperlichen Vorzüge anzusprechen.

      Sie drückte ihm den Griff des Dreirad-Trolleys in die Hand, auf dem ihre Golftasche fixiert war. Mit einem heftigen Ruck zog er ihn hinter sich her. Das Mistding war sehr unbeweglich und bockte richtig.

      „Der ist zum Schieben, Erik“, sagte sie leicht schmunzelnd. „Sie haben wohl wirklich noch nie Golf gespielt?“

      Erik zuckte mit den Achseln und ging um den Trolley herum, um ihn nun zu schieben. „Nur auf dem Rechner!“ Es war ihm natürlich aufgefallen, dass sie ihn mit Vornamen angesprochen hatte, was es sicher leichter machen würde, mit ihr entspannt über alles zu reden. Trotzdem war ihm etwas unwohl dabei.

      Er mochte bei Fremden die Distanz. Er scheute Vertrautheit und Intimität in seinem Leben, weil es durchaus sein konnte, dass er irgendwann von heute auf morgen untertauchen musste. Und wenn man sich niemand gegenüber erklären musste, umso besser! Seine Kollegen könnte er immer auf verschlüsselten Wegen kontaktieren, aber was wäre mit Freunden oder gar einer Romanze?

      Deshalb hatte sich sein Sexleben auch immer auf gutaussehende, aber dennoch recht oberflächliche Frauen konzentriert. Partygirls oder auch mal ein Model, das war sein Beuteschema. Sobald er allzu viel Intellekt in einer Frau entdeckte, suchte er das Weite. Aber von Emma wollte er, nein, brauchte er etwas anderes. Da konnte er nicht weglaufen. Andererseits spürte er sein wachsendes Interesse und das bei einer Frau, die er nun seit gerade mal drei Stunden kannte.

      Erik wollte sie beim ersten Abschlag nicht stören und wartete, bis sie ihm den Driver zurückgab, bevor er zu erklären begann, wie er denn zu seinem komplizierten Beruf gekommen war. Während sie dem Ball hinterher wanderten, erzählte er von seiner Zeit als Hacker, als noch nicht jeder Haushalt wie heute über Internet verfügte und nur wenige Profis eine Ahnung hatten, was Server oder Gateways waren.

      Damals war es für ihn und für andere Computer-Freaks ein wahrer Sport, in fremde Systeme einzudringen und Informationen zu entwenden. Die meisten Hacker ließen sich später von genau den Firmen anheuern, die sie zuvor infiltriert hatten, um dort sicherzustellen, dass solche Einbrüche sich nicht wiederholten.

      Erik hatte solche Angebote auch erhalten, da er aber kurz vor Erreichen der Volljährigkeit seine Mutter verloren hatte und als Alleinerbe nicht nur ein großes Haus, sondern auch einen ausreichend großen Batzen Geld sein Eigen nennen konnte, war er nie in Versuchung geraten, diese sichere Berufsvariante zu wählen.

      Er wollte lieber seinen Idealen treu bleiben. Das bedeutete, die großen Softwarefirmen, aber auch staatliche Institutionen verschiedener Länder, nicht vor Hackern zu beschützen, sondern sie weiter zu ärgern. Als Einzeltäter waren seine Mittel und Möglichkeiten allerdings stark eingeschränkt.

      Etwa drei Jahre lang nutzte er seine Fähigkeiten recht planlos für Datendiebstahl und Systemmanipulationen, studierte nebenher ein wenig Physik, Chemie und Mathematik. Allerdings hatte er keine Lust, etwas von der Pike auf zu lernen. Das war ihm zu langweilig. Da war er unterfordert, und wenn er nicht ausgelastet war, kamen die Kopfschmerzen.

      „Eines Tages“, begann er, „fand ich ein interessantes Netzwerk und drang dort ein. Dort stieß ich auf eine Datei namens Keyser. Das ist mein Hacker-Name. Ich hatte eigentlich noch keinen Alarm ausgelöst, also wollte ich bleiben und herausfinden, was eine Datei mit meinem Namen dort zu suchen hatte. Es begann