Christian Schuetz

CYTO-X


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sich wiederum mit vollem Einsatz seiner Tochter widmen konnte. Der Einstieg dazu würde etwas schwierig werden, was ihre ersten Worte auch gleich bestätigten.

      „Wodka? Wirklich, Dad? Um kurz nach zwölf? Ist das für euch beide eigentlich alles ein großes Spiel, oder was?“ Die Stimme ging zum Ende hin so weit nach oben, dass es ihm in den Ohren weh tat und nicht nur in der Seele.

      Brugger ließ sie noch etwas schnauben, weil er wusste, wenn er ihr direkt etwas entgegen halten würde, dann wäre das Eskalationspotenzial nur noch größer. „Emma, das war ein symbolischer Trinkspruch. Erik dreht voll am Rad wegen der ganzen Sache und ich hab' ihn so wenigstens wieder zum Lachen gebracht. Ich weiß, dass es dir wegen all dem hier nicht gut geht, aber ich brauche dich, wenn wir Erik nicht verlieren wollen!“

      Damit war der Zorn auf ihn wie ausgeknipst. Die Worte waren vielleicht ein wenig manipulativ gewählt, aber nicht völlig unwahr. „Verlieren? Papa, was ist jetzt schon wieder los?“

      Brugger sagte erst mal nichts, sondern nahm sie einfach in den Arm. Sie musste selbst erst mal alles loswerden, was sie belastete und er hörte ihr einfach zu. Natürlich war das alles zu viel für sie. Sie hatten ihr alles im Schnelldurchlauf um die Ohren gehauen und ihr keine wirkliche Wahl gelassen, ob oder in welchem Umfang sie helfen würde. Nicht, dass Brugger sie dabei haben wollte!

      Auch das war ein notwendiges Übel, von dem ihn Erik überzeugt hatte. Emma war nun indirekt mitverantwortlich für die Abwehr der Katastrophen, die die Menschheit zu vernichten drohten. Und sie sollte diese Blutwäsche durchführen, damit Erik zu ausgerechnet dem Mann durch die Zeit reisen konnte, der ihn, wie er selbst so schön formuliert hatte, nach Strich und Faden verarschte. Das alles unter der Prämisse, dass es keine Alternative gab.

      Also wollte Brugger seiner Tochter eine sinnvolle Aufgabe geben, um sie von all diesen Problemen abzulenken und damit gleichzeitig ihr Potenzial nutzen. Deshalb erzählte er ihr, dass er sich Sorgen um Erik und sein suchtähnliches Verhalten in Bezug auf das Neuro machte. Er schilderte ihr die Anzeichen, die er bemerkt hatte und als Ärztin war er bei ihr da selbstverständlich an der richtigen Adresse.

      „Emma, ich weiß, es ist viel verlangt, aber wenn du dich so abweisend gibst, wie heute Morgen oder wenn du ihm zeigst, dass du resignierst und vielleicht nichts mehr von ihm wissen willst, dann treibst du ihn diesem Staam geradezu in die Arme. Verstehst du, was ich meine?“

      Emma war baff und schüttelte den Kopf. Sie wollte sich schon rechtfertigen, aber Brugger war schneller. „Dieser Junge ist kein schlechter Junge. Egal, was ich vor ein paar Tagen noch von ihm gehalten haben mag. Ich verstehe nicht alles, was er so mit seinem Leben angefangen hat, aber ich glaube, das, was ihm am meisten gefehlt hat in seinem Leben, sind wirkliche Bezugspersonen. Wir müssen uns wirklich ein wenig als seine Familie betrachten und ihn unterstützen.“

      Emmas Augen wurden langsam feucht. Brugger hatte die richtigen Knöpfe gedrückt, um sie in die Pflicht zu nehmen. Ihre Unterlippe bibberte schon leicht, als sie ihm antwortete. „Dad, du weißt, dass ich ihn mag. Aber das kann sein, dass er gleich“, sie schluchzte laut auf. „Dass er gleich für immer weg ist, wenn da irgendwas schiefgeht.“

      Brugger nahm sie in den Arm, damit sie sich wie früher an seiner Schulter ausweinen konnte. Er überlegte, wie lange das letzte Mal her war. Definitiv, bevor sie mit dem Studium begonnen hatte. Nein, da waren auch Tränen während der Scheidung geflossen! Und damit wurden auch bei ihm die Augen feucht.

      Nach ein paar Minuten hatten sich beide wieder beruhigt und Emma wollte wissen, was ihr Vater genau von ihr wollte. „Emma, sei mir nicht böse, aber du hast diesen Stur-Modus. Du hast ihm das gestern mit dem Geld nicht vorgeworfen, weil du ernsthaft an seine Mitschuld glaubst. Du warst auf das sauer, was du da gesehen hast. Weil sonst niemand da war, den du zur Rechenschaft hättest ziehen können, musste Erik dran glauben.“

      Emma hatte die Arme verschränkt und die Lippen aufeinander gepresst. Sie blickte zu Boden, wackelte leicht mit dem Kopf und zuckte ein wenig mit den Achseln. Bei Brugger wären fast wieder die Tränen gekommen, als er erkannte, dass er auch diese Geste des verschämten Schuldeingeständnisses lange nicht mehr gesehen hatte. Wahrscheinlich würde er auch in zwanzig Jahren noch das kleine Mädchen in ihr immer wieder entdecken.

      „Emma, ICH kann mit deinen Eigenarten umgehen, weil ich dich so viel länger kenne als er. Aber Erik weiß doch noch nicht, wie du tickst! Wenn das jetzt eine Alltagssituation wäre, würde ich sagen, dann muss er es eben lernen, aber dem Kerl geht extrem viel durch den Kopf und Vieles davon kommt aus diesem Drecks-Neuro. Ich will nicht, dass du dir alles gefallen lässt. Versteh mich da bloß nicht falsch! Aber ich glaube fest, dass DU sein Anker in dieser Realität oder Gegenwart bist.“

      Brugger sah, wie sie ihre Augen weit aufriss und überdachte, was er ihr da gerade um die Ohren gehauen hatte. „Realitätsanker!“ Das war ihm vorhin eingefallen, als er mit Erik in der Wohnung noch diskutiert hatte. Brugger war bewusst geworden, dass Emmas Reaktionen Erik schon ein wenig zugesetzt hatten. Erst schien Emma besorgt gewesen zu sein und hatte sich gesträubt, die Blutwäsche durchzuführen und dann war sie etwas gleichgültig kopfschüttelnd abgezogen.

      Für einen kurzen Moment hatte Brugger in Erik einen kleinen, allein gelassenen Jungen gesehen, der gerade dabei war, seine Freundin zu verlieren. Das war der Moment, in dem Brugger wusste, dass er handeln musste und dazu Emmas Unterstützung brauchen würde. Und diese forderte er nun ein.

      „Paps, was meinst du mit Anker? Meinst du, wenn ich mich mit ihm überwerfe, dann kommt er nicht zurück?“

      „Na ja, zurückkommen muss er ja automatisch, wenn diese Informationen alle stimmen. Die Frage ist nur, wie er seine Aufgaben danach angehen wird. Ich glaube, du kannst dafür sorgen, dass er nicht abdriftet und dass seine Motive anständig bleiben. Ich weiß auch nicht, wie ich das erklären soll. Wenn er mit seinem Neuro rummacht und es ihm all die Dinge erzählt, die sonst noch kein Mensch auf der Erde wissen kann, dann ist er danach so euphorisch.

      Gut! Derzeit frustriert es ihn auch noch oft. Aber wenn es diese Antwortsperren mal nicht mehr hat und ihm wirklich JEDE Frage beantwortet, dann kann er schnell überheblich oder gar größenwahnsinnig werden, wenn er nicht jemanden hat, der ihn auf dem Teppich hält. Meinst du nicht auch?“

      Emma nickte und schien seinen Überlegungen folgen und zustimmen zu können. „Und jetzt stell‘ dir bloß mal vor, wenn er zurückkommt und noch ein paar Spielsachen mehr dabei hat! Ich weiß es nicht sicher, aber ich denke, selbst eine Waffe ist da nicht ausgeschlossen. Vielleicht sogar wahrscheinlich, wenn man bedenkt, dass er da schon ein bisschen was zu erledigen haben wird. Kurz gesagt: Kommt er als Superheld oder als Superschurke zurück?“

      Emmas Augen funkelten. Diesmal aber nicht, weil die Tränen im Anflug waren, sondern weil er sie wohl überzeugt hatte. Ja, sie war ein großer Fan von diesen Comic-Verfilmungen und er hatte sein Abschlussargument bewusst aus diesem Jargon gewählt. Mit der Aufgabe, die er ihr in Aussicht stellte, blühte sein Mädchen wieder auf.

      Sie gab ihm schnell einen Kuss auf die Wange und sagte ihm im Gehen, dass die Maschine noch ungefähr eine Stunde brauchen würde. Er solle sich oben auf der Couch ausruhen, einen Film schauen und die Finger vom Wodka lassen. Und schon war sie weg.

      Das ging ja schnell, dachte Brugger.

      So konnte Brugger sich nun in aller Ruhe seiner anderen Aufgabe widmen. Er ging wieder hoch in die Küche und öffnete den Kühlschrank. Dort hinter dem Wodka hatte er etwas versteckt, von dessen Existenz Emma vorerst nichts wissen sollte. Ein Teil einer Art „Plan B“, den er sich ausgedacht hatte. Es leuchtete Neongrün aus dem Kühlschrank und Brugger entnahm den Container, weil der Kühlschrank nur als kurzfristiges Versteck hatte dienen sollen.

      Vorhin beim rituellen „Nastrowje“ für Petrow, hatte er Erik gefragt, ob er denn Kontrolle über den Behälter mit dem Cyto-X habe. Der wusste nicht genau, worauf er hinaus wollte und Brugger erklärte ihm, dass das Neuro nachher das Dialysegerät programmieren würde und dass man den Behälter einfach dort hinein legen müsste, wo das Blut gewaschen wurde. Die Öffnung der Membran um die Flüssigkeit herum würde das Neuro auch regeln.

      Brugger mochte