Christian Schuetz

CYTO-X


Скачать книгу

als Reiseziel stimmen wohl, aber da bin ich etwas vorbelastet, von meinen eigenen Entdeckungen. Auch dass er die blutige Eskalation des Volksaufstands in der DDR verhindert haben soll, stimmt irgendwie nicht. Ich meine, da gab es Tote, zwischen fünfundfünfzig und fünfundsiebzig je nach Quelle, das ist schwer zu sagen, aber nach Staams Darstellung war das eher ein Krieg!“

      Emma schüttelte sich. „Von einem Krieg hat er nichts gesagt, nur von einer blutigen Eskalation war die Rede. Was meinst du mit Krieg?“

      Auch Brugger blickte verwundert. Er selbst war noch zu jung, um das damals mitbekommen zu haben, aber er kannte sicher den „Tag der Deutschen Einheit“ noch am 17. Juni anstelle des 3. Oktobers und in den Geschichtsbüchern wurde die unterschiedliche Anzahl an Opfern auch bestätigt.

      „Ich kann aus dem Neuro mittlerweile etwas mehr herauskitzeln, aber eben auch nicht alles. Das Ding hat die verschiedenen Abläufe von parallelen Realitäten abrufbereit. Also vor dem Eingriff in die Zeitlinie und nachher. Was ich da serviert bekomme, was mein Vater angeblich verhindert haben soll, ist ein Aufstand schwer bewaffneter Bürger. Und es soll darin geendet haben, dass die Sowjetunion Ostdeutschland für verloren erklärte und die Städte Leipzig, Dresden und Magdeburg mit Atomwaffen zerstört haben soll.“

      Brugger machte dicke Backen. Emma blickte ihn verständnislos an. Das artete in einer ziemlichen Zerstörungsorgie aus, was er ihnen da präsentierte. „Ruhig, ruhig. Das ist eine Realität, die bereits verhindert wurde! So, wie es aussieht, haben diese Zeitreisen wirklich etwas gebracht, auch wenn ich noch nicht alle möglichen Realitäten aus dem Gerät abrufen kann. Vielleicht haben sie genauso viel vermurkst, erlauben dem Neuro nur nicht, mir das zu verraten.“

      Brugger schüttelte sich. Dass ihm das Durchdenken verschiedener Realitäten widerstrebte, war ihm ins Gesicht geschrieben. Aber er hatte nun trotzdem einen Fehler in Eriks Ausführungen erkannt. „Erik, du zweifelst, dass dein Vater die Eskalation verhindert hat, aber ich für meinen Teil fände drei Atombomben schon ein wenig eskaliert. Und da wir alle drei wissen, dass diese drei Bomben nie abgeworfen wurden, dann würde ich sagen, hat dein Vater Erfolg gehabt, so wie Staam es beschrieben hat!“

      Erik sah ihn eine Weile an und nickte. „Du hast völlig Recht, Brugger! Ich sagte ja, dass ich auch nicht alles verstehe, und gerade hier hakt es echt aus bei mir. Ich glaube nur, nein, ich spüre ganz deutlich, dass mein Vater nicht gereist ist, um den Ablauf des Volksaufstands zu verändern. Erschieß mich ruhig, aber da stimmt einfach was nicht an Staams Ausführungen!“

      Erik und Brugger diskutierten noch recht ergebnislos, um das Problem mit dem 17. Juni herum. Emma hatte sich ausgeklinkt. Sie ließ sich noch einen schönen, starken Kaffee aus dem Automaten eingießen und hörte den beiden dann zu, wie sich ihre Diskussion weiter im Kreis drehte.

      Schließlich wartete sie bis eine kleine Lücke im Redeschwall entstand und fragte: „Also ist die Blutwäsche abgesagt? Habe ich das richtig verstanden?“

      Die beiden drehten den Kopf ruckartig zu ihr und riefen synchron und fast empört: „Nein!“

      Emma grunzte leicht abfällig, setzte sich wieder und schnitt sich noch ein Brötchen auf. Ihre Frage, ob sie das heute noch machen wollten, bejahten wiederum beide und sie beschloss recht zügig zum Haus ihrer Mutter zu fahren, weil das Dialysegerät noch gewartet werden musste.

      Allerdings musste sie sich dann doch noch dringend Luft machen: „Erik, du bist dir sicher, dass der Kerl dich anlügt. Wie kannst du dann diese Zeitreise ernsthaft durchführen?“

      „Weil ich trotz allem sicher bin, dass diese Katastrophen eintreten werden, wenn ich nicht reise und vor allem, dass Staam sich nicht damit abfinden würde, wenn ich nicht zu ihm käme.“

      „Mein Gott, wenn du nicht nach der Ermordung von Leif Magnussen zufällig auf den Sensoren aufgetaucht wärst, wüsste er gar nicht, dass es dich gibt. Ich glaube, du redest dir da was ein.“

      Erik senkte unheilvoll die Stimme. „Das war noch der letzte Punkt, den ich aufführen wollte.“

      Brugger schreckte hoch und schlug sich vor die Stirn. „Oh, mein Gott! Dauernd habe ich mir diese Fragen gestellt! Warum wurde Leif sechzehn Jahre vor dem Terrorakt getötet und nicht kurz davor? Diese ganze Aktion! Du denkst Staam hat den Jungen getötet, um dich aufzuspüren?“

      Erik nickte.

      26 - Oberstleutnant Petrow

      Brugger hatte kapiert, dass er zwar nicht der Auserkorene für diese Zeitreisen war, aber dass er eine sehr wichtige Rolle zu übernehmen hatte. So eine Art „Vater der Kompanie“, auch wenn die Kompanie sehr klein war mit Emma und Erik.

      Na ja, vielleicht kam Marit da auch noch zu seinen Verantwortlichkeiten hinzu. Sie hatte ein Recht darauf, zu erfahren, was wirklich passiert war. Oder sollte er das alles lieber nicht nochmals aufwühlen? Sollte er sie lieber dumm, aber glücklich sterben lassen. Glücklich war dabei auch relativ, wenn man ihre Verluste betrachtete. Brugger schob diese Überlegungen aber erst mal ganz nach hinten.

      Er hatte überhaupt erst an Marit Magnussen denken müssen, als die Spedition die Armeekiste anlieferte. Emma war vor gut einer Stunde zum Haus ihrer Mutter gefahren, um das Dialysegerät vorzubereiten. Erik und er hatten weiter diskutiert, allerdings ohne große Ergebnisse. Sie wollten gerade aufbrechen, als es plötzlich klingelte.

      Also verschoben sie die Abfahrt noch um ein paar Minuten und schauten zu, wie die beiden Packer die Kiste in Bruggers Appartement abstellten. So gut aus dem Weg wie es gerade ging, aber eine Dauerlösung würde das nicht sein. Gut, dass Emma schon weg war, sonst hätte sie gehört, wie die schwere Metallkiste über das Parkett geschoben wurde. Brugger strafte die Dummheit der Packer mit dem Entzug des Trinkgelds, das er vorher bereit gelegt hatte.

       Seid froh, dass Emma nicht hier war. Die hätte euch die Köpfe abgerissen!

      Danach konnte er sich wieder auf seine Hauptaufgaben konzentrieren. Er würde sich um Emma kümmern müssen. Das war sicher das Wichtigste momentan. Allein während der Diskussion beim Frühstück hatte er gesehen, wie sehr es sie mitnahm. Ihr persönlich wäre es sicher leichter gefallen, selbst auf die Reise zu gehen, was Brugger aber nie zugelassen hätte.

      Erik so ziehenlassen zu müssen und ihm vorher noch schnell giftgrünes Zeug in die Adern zu spülen, das machte sie sichtlich fertig. Brugger hatte ihr das angesehen, aber er kam einfach nicht dazu, sie mal zur Seite zu nehmen und zu drücken oder tröstende Worte zu finden, weil alles so Schlag auf Schlag gegangen war.

      Und da war auch noch sein zweiter Job: Für Erik ein ... ja, was sollte er eigentlich sein? Vaterersatz? Mentor? Assistent? Sogar der „Sidekick“ fiel ihm wieder ein. Erik hatte sich vorgenommen, das durchzuziehen. Aber war ihm überhaupt klar, was er da durchziehen wollte? Sein Neuro schien auf fast alles eine Antwort zu liefern, aber Brugger konnte die Gefahren darin deutlich sehen.

      Er hatte schon einige übermäßig selbstbewusste Studenten oder auch Doktoranden unter seinen Fittichen gehabt. Zögerliche Langweiler mochte er sicher auch nicht, aber die Selbstüberschätzung war in seinen Augen deutlich gefährlicher, als eine schüchterne Zurückhaltung. Erik war wohl kein überheblicher Typ, aber sobald das Neuro ins Spiel kam, entwickelte er eine Tendenz in diese Richtung.

      „Was ist das nun für ein idealer Ort, den du mir versprochen hast?“, fragte Erik, während Brugger ihn in seinem langweiligen Diesel-Kombi zum Haus von Karina fuhr.

      „Karinas Vater hat das Haus damals selbst gebaut. Und in die Bauphase fiel dann die Kubakrise. Nun, da er alles da hatte, Beton, Metall und was noch so alles nötig war, um ein Haus zu bauen, hat er in den Garten einen Bunker gebaut.“ Erik schaute ihm zu und erkannte, dass Bruggers Mundwinkel dabei langsam immer höher gingen.

      „Zumindest hat der alte Herr es gut gemeint, aber das, was er da gebaut hat, war natürlich alles andere als ein Atomschutzbunker!“

      Die Leute wussten damals wirklich nicht viel über die Wirkung einer nuklearen Waffe. Brugger erinnerte sich auch noch gut an die Filme, die man in