Christian Schuetz

CYTO-X


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um nicht von einem Amokläufer mit Automatikgewehr erschossen zu werden.

      Brugger war aber noch nicht bei der Pointe angekommen. „Karinas Vater hat dann, nachdem alles vorbei war, einen kleinen Schuppen direkt über dem Bunker errichtet, weil er nicht wollte, dass seine Tochter sich Sorgen machte. Als dann in den Achtzigern The Day After lief und der Atomkrieg praktisch vor der Tür stand für einige, da wollte er den Bunker von einer Spezialfirma warten lassen.

      Wir waren da gerade frisch verheiratet und ich hab' dem alten Herrn geholfen das kleine Häuschen abzubauen. Der hat echt nur ein Loch gegraben, fünfzig Zentimeter dicke Betonwände eingelassen und oben drauf eine Tür, die allerdings aus Metall, dummerweise ohne luftdichte Versiegelung. Ich hab' ihm noch gesagt, dass das kein echter Atomschutzbunker wäre, aber ich war für ihn nur der neunmalkluge junge Herr Physiker.

      Dann kam der Experte und fragte meinen Schwiegervater, ob er den Mann verklagt hätte, der ihm einen Kartoffelkeller als Atomschutzbunker untergejubelt hatte. Er hat Karinas Vater angeboten, ihm einen komplett neuen Bunker zu bauen, aber das wollte mein Schwiegervater dann auch nicht mehr.“ Brugger gluckste schon eine Weile während der Erzählung und Erik schmunzelte begleitend.

      „Also, langer Rede gar kein Sinn! Den Bunker gibt es natürlich noch. Der Schuppen steht wieder drüber, aber man kann nun direkt aus dem Häuschen in den Bunker steigen. Ich glaube sogar, dass er komplett leergeräumt ist. Wenn das mal kein ideales Plätzchen ist, dann weiß ich auch nicht!“

      Brugger hatte aber noch etwas zu erzählen. Erik schaut ihn erwartungsvoll an.

      „Der Tag, an dem wir uns über den alten Herrn so lustig gemacht haben, war der 26. September 1983. Sagt dir das was, Erik?“

      Er schaute ihn eine Weile an und nickte dann: „Oberstleutnant Stanislaw Jewgrafowitsch Petrow!“

      Brugger nickte anerkennend. „Respekt! Also die beiden Vornamen hätte ich jetzt nicht mehr gewusst, aber kannst du dir diesen Zufall vorstellen? Dass wir uns über meinen Schwiegervater lustig gemacht haben wegen seinem Bunker, während fünfzig Kilometer südlich von Moskau ein Offizier der Sowjetarmee den Dritten Weltkrieg verhindert hat?“

      Oberstleutnant Petrow war an besagtem Tag der diensthabende Offizier im Serpuchow-15-Bunker nahe Moskau, als das Warnsystem eine einzelne anfliegende amerikanische Atomrakete meldete. Petrow hatte gemäß der Strategie der UdSSR die Order, im Falle eines solchen Angriffs einen mit allen Mitteln geführten atomaren Gegenschlag zu befehlen.

      Petrow vermutete aber sofort einen Fehlalarm, da der Angriff mit einer einzigen Rakete völlig sinnlos erschien. Dann aber folgte eine zweite Rakete. Dann eine dritte, eine vierte und eine fünfte. Während im Bunker der Druck auf ihn wuchs, entschied Petrow weiterhin, dass es ein Fehlalarm sein musste, weil auch mit fünf Raketen so ein Angriff keinen Sinn machen würde.

      Das satellitengestützte Frühwarnsystem der UdSSR hatte damals Sonnenreflexionen auf Wolken in Montana, nahe der Abschussrampen der Interkontinentalraketen, als Raketenstarts gedeutet. Hätte sich Petrow an seine strategischen Befehle gehalten, wäre es wohl zu einem Atomkrieg zwischen der UdSSR und den USA gekommen.

      Brugger sah den leeren, leicht verträumten Blick bei Erik und hatte plötzlich einen furchtbaren Verdacht. „Sag' jetzt bloß nicht DAS!“

      Erik zuckte zusammen. Er wusste im ersten Moment nicht, was Brugger gemeint hatte, aber dann verstand er es und musste lachen. „Keine Panik! Das war kein Eingriff der Zeitpolizei!“

      Aber kaum hatte Erik es ausgesprochen, da kam er selbst ins Grübeln. Die kurze Nachfrage an sein Neuro wurde mit dem bekannten Verweis auf eine fehlende Autorisierung abgelehnt, dabei hatte er gedacht, diese Zeiten wären seit den Enthüllungen durch Staam vorbei.

      „Also doch nicht so sicher, was?“, kam es prompt vom Professor. „Wo hast du eigentlich das Neuro versteckt?“ Sonst lag es beim Autofahren immer auf der Mittelkonsole, schön in Reichweite, aber diesmal Fehlanzeige!

      Erik zeigte leicht verlegen auf seinen Kopf, aber da war auch nichts zu sehen. Brugger schaute nochmal hin und plötzlich konnte er das nun durchsichtige Stirnband erkennen.

      „Wie bitte? Einen neuen Trick gelernt?“

      „Na ja, ich dachte mir vorhin, dass du sicher wieder einen Anfall kriegst, wenn ich mit dem Ding auf dem Kopf zu dir ins Auto steige. Und schon war der Wunsch da, dass es schön wäre, wenn es sich unsichtbar machen könnte.“

      „Und diesen Wunsch hat es dir natürlich sofort erfüllt!“

      Erik fühlte sich ein wenig schuldig und nickte, aber er wollte während der Fahrt noch ein paar Fragen zum Zeitsprung, zum Rat und zum Turm der Wissenschaften klären, aber dann war ihnen Oberstleutnant Petrow dazwischengekommen.

      „Richtig unsichtbar ist das nicht. Wenn man es so auf einen Tisch legt, dann sieht man die Ränder deutlich wabern. Ist eher eine hochgradige Durchsichtigkeit.“

      Brugger war tatsächlich sauer. Nicht nur, dass er es aufgesetzt hatte, sondern auch noch getarnt! Das war ein weiteres klassisches Suchtverhalten und somit für ihn nicht akzeptabel. Das Problem war nur, dass Brugger jetzt neugierig war, was das Neuro zu Petrow zu berichten hatte. „Also dann! Was war nun mit Petrow? Doch ein Fall für die Zeitpolizei?“

      Erik zuckte resigniert mit den Achseln und seufzte dabei leise. „Weißt du, Brugger, das ist langsam frustrierend. Ich dachte nach der Show von Staam bekäme ich Zugriff auf alle Ereignisse, die für die Korrektur der Zeit relevant wären. Aber ich kriege echt nur die Events, die Staam erwähnt hat. Da allerdings jede Menge Details. Könnte dir sämtliche Epidemien und Pandemien auflisten, inklusive Erreger, Heilmittel, Ausbruch und Opferzahlen.

      Aber wenn ich nach Petrow frage oder nach anderen Ereignissen, dann kommt nur wieder, dass ich keine Autorisation dafür hätte. Insofern kann ich weder bestätigen noch ausschließen, dass bei Petrow eingegriffen worden wäre. Ich hatte sogar gehofft, dass mein Vater da was damit zu tun gehabt hätte.“

      „Gibt es irgendwelche Anhaltspunkte?“

      „Na ja, ich bin 1980 geboren. Kurz danach muss er verschwunden sein. Wäre gut möglich, dass er uns verlassen hat, um im Jahr 1983 in der UdSSR eine Katastrophe zu verhindern. Aber das ist nur ein Bauchgefühl. Oder sogar eher Wunschdenken!“

      Er sank sichtbar auf dem Beifahrersitz in sich zusammen. Sein neues Spielzeug ließ ihn immer wieder im Stich, besonders wenn in ihm Hoffnung aufkeimte, Spuren zu seinem Vater zu finden.

      Brugger parkte seinen Wagen neben dem von Emma. Neben ihm saß ein geknickter zukünftiger Zeitreisender. Da war sie wieder seine Aufgabe als Vater der Kompanie! Musste diese Rolle ausgerechnet ihm zufallen, wo er doch nun wirklich nicht der Geduldigste und Einfühlsamste war? Irgendwie sollte wohl keinem von ihnen eine Comfort-Zone gegönnt sein in dieser Angelegenheit.

      „Erik! Schaff dir nicht noch mehr Probleme, als du eh schon hast! Versuch nicht in jedes Ereignis der Geschichte eine mögliche Verwicklung dieser Leute aus der Zukunft zu interpretieren! Das macht dich sonst früher oder später kaputt, krank oder sogar verrückt. Solange du nichts Gegenteiliges erfährst, bleibt Petrow einfach unser persönlicher Held, okay?“

      Erik nickte und schüttelte sich. „Weißt du was, Brugger? Ich glaube, ich könnt' mal wieder einen Wodka vertragen!“

      Brugger hob den Zeigefinger und sagte: „Ich weiß genau, wo Karina das Zeug für Notfälle versteckt!“

      Etwa zehn Minuten später, Emma hatte gerade den zweiten Wartungsdurchlauf des Dialysegeräts gestartet, schallte ein lauter zweistimmiger Ruf durch Karina Bruggers Haus: „Nastrowje, Stanislaw Jewgrafowitsch Petrow!“

      27 - Streicheleinheiten

      Brugger schlich in den Keller des Hauses. Dort stand das Dialysegerät. Emma blickte ihn mit strengen Augen an. Natürlich hatte sie den übertrieben lauten Trinkspruch gehört, natürlich wusste sie, dass dazu Wodka getrunken worden war und natürlich roch sie den auch an ihm,