Kursanzeige. Er konnte es nicht fassen, der Kurs seiner Aktie stieg von Minute zu Minute steil nach oben, innerhalb weniger Stunden hatte der Kurs das Fünffache, wenig später das Achtfache des Ausgabepreises erreicht. Wie einem Kind blieb ihm quasi der ‚Mund offen stehen‘. Noch während er auf die Anzeigetafel blickte, hielten ihm Reporter des Fernsehens und der internationalen Presse die Mikrofone hin und baten ihn um Kommentare. Schnell hatte er sich gefasst, sein Körper straffte sich, das Burschikose verschwand langsam. Er strahlte gut gelaunt, voller Energie in die Kameras, mit originellen Wendungen fütterte er die Medienmaschine: „Ja, das ist ein fulminanter Börsenstart. Dieser großartige Erfolg hat uns nicht wie aus heiterem Himmel überrascht, schon im Vorfeld stellten wir ein großes Interesse der Anleger fest, an unserem Wachstum teilhaben zu wollen. Dieses Vertrauen spornt uns an, wir werden alle unsere Kraft, Energie und unseren Einfallsreichtum in die Forschung und Entwicklung neuer Produkte stecken. Auf unserem traditionellen Sektor werden wir unsere Marktposition als international führender Spezialist ausbauen und auf der Überholspur mit hohem Tempo davonziehen. Unsere spezielle Informatik-Erfahrung wenden wir auf verschiedenen Gebieten an: biotechnologische Messtechnik, Biosensoren, Bilderkennung. Gemeinsam mit unserer Schwesterfirma haben wir einen neuartigen Test zum frühzeitigen Erkennen der Alzheimer Krankheit in der Entwicklung. Vorerst mit einem winzigen Teststreifen, später mit einem Protein-Chip und einem kleinen, etwa streichholzschachtelgroßen Gerät wird man in wenigen Minuten feststellen können, ob sich im Körper schädliche Eiweißbruchstücke befinden, die vielleicht diese Krankheit auslösen können. Das soll eine Weltneuheit werden.“
Eine Schar von Reportern drängte sich um ihn. Jeder versuchte, durch die Gruppe sein Mikrofon an den Held des Tages zu schieben, um Informationen aus erster Hand zu erhaschen:
„Wie sind die Umsatzerwartungen dieser neuen Analysenmethode?“
„Schon heute dämmern allein in Deutschland etwa eine Million Menschen mit Defiziten im Kopf dahin, und es werden von Jahr zu Jahr mehr. Die Testmethode werden nicht nur medizinische Einrichtungen anwenden, jeder wird sich selbst inspizieren können. Es sind also hohe Umsätze in Sicht.“
„Wird die neue Testmethode dazu beitragen, die Häufigkeit der Erkrankung an Alzheimer einzudämmen?“, wurde Beckstein gefragt.
„Man kann zwar die Krankheit nicht heilen, aber zeitig mit der Verabreichung von Medikamenten beginnen, um das kritische Stadium der Krankheit, in dem sich die Verwüstungen im Kopf stärker bemerkbar machen, weit hinauszuschieben.“
Immer mehr Reporter – vom europäischen, vom amerikanischen, vom japanischen Kontinent - gruppierten sich um den Jungunternehmer. Fragen über Fragen wurden gestellt. Er verbreitete seine Visionen, beschrieb seine Luftschlösser. Er meisterte die Kunst, mit wenig Substanz großen Eindruck zu machen, sehr gut. Er wechselte vom Deutsch in astreines Geschäftsenglisch. Die Medienvertreter verlangten Informationen zum Unternehmen, zu den Produkten, zu Vorhaben, zur Geschäftsstrategie und Zukunft. Beckstein war wie noch nie so in seinem Element, Bilder seiner Einbildung, seiner Fantasie mit Umrissen, mit Farbe, mit gewisser optischer Täuschung zu versehen. Sein unkonventioneller, ansprechender, salopper, witziger Redestrom wollte nicht enden, nie kam er ins Stocken, er wechselte die Themen, verband sie geschickt miteinander. Er spielte auf seinen weltumspannenden Brettern, für ihn war es Schauspiel höchster Vollendung.
Unter die Medienvertreter hatte sich auch Sergej Mautner, ein Russlanddeutscher, gemischt. Während einer kurzen Pause fragte er den Protagonisten des Tages, wie sich die Belegschaftsstärke entwickeln werde.
„Natürlich stellen wir hochqualifizierte Kräfte ein.“
Mautner verwickelte den abseitsstehenden Dalheim, den Vice President, in ein Gespräch, saugte Informationen über die Arbeitsatmosphäre in der Firma, über das Management, über Handelsbeziehungen, Steigerungsraten und anderes aus ihm heraus. Über Mautners Gesicht huschte ein leichtes Lächeln, eine innere Aufbruchsstimmung, eine Gier bohrte in ihm.
Der Börsenneuling wurde umgarnt wie ein Popstar. Beschwatzte hier ein Mann die Medien? Oder stachelten ihn die Medien an? Die Medien reizten seine schillernde Lebensgeschichte, seine Jugendlichkeit, seine Wendigkeit, seine Schlagfertigkeit und gleichzeitig seinen Charme. Er beherrschte die Inszenierung. Er beendete die Vorstellung, in dem er auf die Symbolfigur der Börse, auf die Skulptur des Börsenbullens stieg und ihn an den Hörnern packte. Mehrere Fernsehkameras von Anstalten aus aller Welt waren auf ihn gerichtet. Der Bulle mit seinem erhobenen Kopf, die Körperlast auf die Vorderbeine stützend, symbolisierte Optimismus, steigende Kurse, Hoffnung, Aufschwung. Beckstein wollte den Anlegern seines Wertpapiers die Aussicht nach lang anhaltender Hausse, nach rasantem Steigen des Kurses des Wertpapiers seines Unternehmens nahebringen.
In den folgenden Tagen belagerten gewissermaßen die Medien die Burg-Firma, um brandneue Interviews zu erhalten. Die Sonne schien. Es wehte eine ganz leichte Brise. Kleine Schönwetterwolken zogen am Himmel vorbei. Auf dem Innenhof durchdrangen die Sonnenstrahlen das Blätterwerk der alten, in der Mitte des Hofes stehenden Linde. Die Vermittler der neuesten Nachrichten, der Meinungen, der Ereignisse hatten ihre Kameras auf dem Innengelände aufgebaut und schwenkten sie nach allen Seiten auf die rekonstruierten Gebäude der Burg-Firma. Nachdem Jan Beckstein die Reporter durch die Firma geführt hatte, ging er mit den Berichterstattern über den Burghof, durch das Burgtor, die steinerne Treppe hinab in den Park. Unten angekommen, stieg er die Steinstufen wieder hinauf und setzte sich auf die obere letzte Stufe – er ganz oben, die Interviewer unten auf der Wiese. Welch eine Symbolik? Wollte er Coolness, Lässigkeit demonstrieren? Sollte das Negieren der Senkrechten, das ungezwungene Thronen das Aufbegehren gegen Konventionen deutlich machen? In seinen Gesprächen versicherte er den Aktionären die Transparenz seines Unternehmens für die Öffentlichkeit zu. Er hielt den neuen Aktionärsbrief hoch. Mit diesem wichtigen Informationsmaterial wolle das Unternehmen für eine jederzeit durchschaubare Öffentlichkeitsarbeit sorgen und in bestimmter Folge über das Unternehmen und die Entwicklungen auf dem Markt berichten.
Auf der Treppe, strotzend vor Selbstbewusstsein, über den Reportern stehend – wie ein Verkündiger, ein Prophezeier die Arme abspreizend – pries er neue Produkte an, platzierte die Umsätze in schwebenden Höhen, deutete weltweite Expansionen und Niederlassungen auf allen Kontinenten an.
In seinem Einfallsreichtum glich er dem süditalienischen Abenteurer, Cagliostro. Dieser Hochstapler und Alchemist, Guiseppe Balsamo, der sich ‚Graf von Cagliostro‘ nannte, dachte sich mit großer Findigkeit stets neue Betrügereien aus. Er soll die ‚Halsbandaffäre‘ am französischen Hof Ludwigs XV. in Gang gebracht haben. Durch Spiritismus, Wunderkuren, angebliche Goldmacherei, durch den Verkauf von Liebestränken, Elixieren, Schönheitsmixturen habe er hohe Profite erzielt und großen Einfluss in der Gesellschaft gewonnen. Analog diesem Scharlatan verbreitete der Star an der Börse unerschütterlich seine großen Visionen. Er kündete ‚Weltneuheiten‘ an und versprach hohe Dividenden. Die Medien sogen diese Informationen auf wie ein Schwamm. Pure Lobeshymnen wurden danach der Öffentlichkeit präsentiert.
Tage später war das regionale Fernsehen mit einer Schar von Assistenten und Helfern auf der Burg.
Jan Beckstein empfing das Geschwader: „Ich begrüße die Vertreter des Leitmediums auf der Vogelfelsburg. Die Statistik sagt, im Schnitt sieht jeder Bundesbürger am Tag über zweihundert Minuten fern, deshalb freue ich mich besonders über den Besuch unseres Hauptmeinungsbildners.“
Beckstein führte, von der Kamera verfolgt, durch die Burganlage. Aus verschiedenen Blickrichtungen und Perspektiven wurden die Gebäude, der Turm, der Innenhof, der Arkadengang, der Park, die Nebengebäude, die vielen Innenräume der Burg und die Arbeitsräume der Firma aufgenommen. So stellte Beckstein sein Unternehmen vor. Im Konferenzraum waren Vorbereitungen für eine Demonstration getroffen worden. Sie sollte zeigen, wie sich leicht mit einer Miniprobe eines biologischen Materials mehrere tausend Einzelnachweise auf einem Chip automatisiert durchführen ließen.
Kapitel 5
Seitdem Rohrbach in Pension war, kleidete er sich nicht mehr in dunklen Tönen, bevorzugt schwarz. Er zog, auf Rat seiner Tochter, lebendige, leuchtende Farben für seine Kleidung vor. Er trug eine beige Jerseyjacke