Johann Heinrich August Leskien

Balkanmärchen auf 251 Seiten


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pickten an den Knochen herum und sprachen

       untereinander; dabei fragten sie, wer von den

       dreien der älteste wäre und sich an eine alte Begebenheit

       erinnern könnte. Der älteste Adler sagte: »Ich

       kann mich erinnern, als ich ein kleines Kind war, fiel

       einmal Schnee bis an den Gürtel.« – »Und ich«, sagte

       der zweite, »kann mich erinnern, wie zu meiner Zeit

       eine große Hungersnot war und viele Menschen Hungers

       starben.« – »Und ich«, sagte der dritte, »kann

       mich erinnern, zu meiner Zeit, als ich ein Kind war,

       wurde der Schatz des Kaisers Konstantin vergraben.

       « – »Also bist du der älteste von allen«, antworteten

       ihm die beiden andern Adler. – »Da, unter der

       Steinplatte dort,« fuhr der dritte fort, »sind dreihundert

       Lasten Gold vergraben.« Der verborgene Mann

       hörte das Gespräch der Adler und verhielt sich ganz

       still.

       Am nächsten Morgen kamen die Leute des Zaren,

       ihn zu rufen: »Komm, der Zar läßt dich rufen.« Darauf

       antwortete er: »Sagt dem Zaren, er soll dreihundert

       Maultiere und sechshundert Säcke schicken.« Die

       Boten kehrten zum Zaren zurück und richteten ihm

       aus, was ihnen der Mann befohlen hatte. Der Zar befahl

       sogleich, ihm die gewünschten Maultiere und

       Säcke zu schicken, und es sollten viele von seinen

       Leuten mitgehen, ihm zu helfen. Als die Leute bei

       dem Manne angekommen waren, sagte er zu ihnen:

       »Hebt die Platte da auf.« Das taten sie und was sahen

       sie? Einen Brunnen voll Gold. Sie schöpften und

       schöpften und füllten genau sechshundert Säcke voll,

       luden sie auf die Maultiere und brachten sie dem

       Zaren, aber so heimlich, daß es niemand anders erfuhr

       außer den vom Zaren gesandten Leuten; dem aber, der

       das Gold gefunden hatte, gaben sie nicht einen roten

       Heller, ja kümmerten sich weiter nicht um ihn. Der

       Arme wartete und wartete, daß der Zar ihn rufen und

       ihm etwas geben sollte, aber sein Warten war ganz

       vergebens, der Zar hatte ihn schon ganz vergessen.

       Zuletzt, als ihm das Warten zu lange wurde, schickte

       er seinen Vater zum Zaren, um wenigstens eine Mütze

       voll Gold von ihm zu verlangen. Der Vater ging also

       zu dem Zaren und sagte: »Erhabener Zar, mein Sohn

       schickt mich, du möchtest ihm eine Mütze voll Gold

       geben.« – »Was für ein Sohn?« fragte der Zar. – »Na

       der, der dir den Schatz gefunden hat«, antwortete der

       Vater. Der Zar aber rief: »Mach, daß du von hier fortkommst!

       Was für ein Schatz? Wer hat einen Schatz

       gefunden?« Der Zar hatte nämlich Angst, es könnte

       einer erfahren; ein anderer Zar, der damals lebte, größer

       und stärker als er, könnte davon hören. Am anderen

       Tage schickte der Sohn wieder seinen Vater zum

       Zaren, eine Mütze voll Gold zu fordern; da aber hielten

       ihn die Leute des Zaren auf seinen Befehl an und

       schlugen ihm den Kopf ab.

       Als der Sohn hörte, daß man seinen Vater getötet

       hatte, ging er selbst zum Zaren und sagte zu ihm: »Er-

       habener Zar, der und der Zar« (nämlich der, vor dem

       er Angst hatte), »läßt dich vielmals grüßen, du solltest

       mir meinen Vater wiedergeben, aber er will ihn

       lebend und gesund; oder aber, wenn du willst, töte

       auch mich; nur glaube nicht, daß es so geht wie bei

       meinem Vater; ich bin von einem größern Zaren gesandt.

       Also merke dir, daß ich meinen Vater lebendig

       wieder haben will.« Da standen der Zar und seine

       Leute in Bedenken, was sie nun machen sollten: der

       Mann, der Vater, ist tot, und sein Sohn will ihn lebendig

       haben; endlich sagten sie zu ihm: »Warte, wir

       wollen sehen, was das Gesetz sagt; der Mann ist tot

       und kann nicht wieder lebendig werden.« Im Gesetz

       fanden sie geschrieben: soviel der Kopf des getöteten

       Mannes wiegt, so viel Gold soll dem Sohne, der

       klagt, gegeben werden. Damit gab der sich zufrieden.

       Gut, sie legten nun den Kopf in eine Wagschale

       und in die andre, sagen wir, ein Kilo Gold. Aber die

       Schale mit dem Kopf kam nicht in die Höhe; sie verdoppelten

       und verdreifachten das Gold, aber die Schale

       wollte nicht hoch kommen, der Kopf war schwerer.

       Da legten sie fünfzigmal, hundertmal, tausendmal soviel

       Gold darauf, aber die Schale mit dem Kopf stieg

       nicht in die Höhe. Alle wunderten sich, was das zu

       bedeuten habe. Sie legten nun das ganze gefundene

       Gold, die dreihundert Lasten dazu, aber die Schale

       mit dem Kopf blieb stehen. Wieder wunderten sich

       alle, was aus dieser so sonderbaren Sache werden

       sollte. Es kamen nun gelehrte und belesene, weise und

       kluge Leute zusammen, um herauszufinden, warum

       die Wagschale mit dem Kopfe nicht aufsteige; aber

       sie konnten es nicht herausbringen.

       Da sagte der selbst, der den Schatz gefunden hatte

       und seinen Vater lebendig wieder haben wollte, zu

       ihnen: »Ich will euch zeigen, weshalb der Kopf nicht

       hoch kommt.« Einstimmig riefen alle: »Wenn du auch

       das noch triffst, dann wollen wir dich von jetzt an

       zum Zaren haben«; und auch der Zar selbst sagte:

       »Ich steige von jetzt an vom Throne, und du sollst

       dich darauf setzen, wenn du es triffst.« Der Mann

       aber sagte: »Bringt mir ein Tuch!« Als sie es ihm gebracht

       hatten, verband er dem Totenkopf die Augen

       damit und sagte zu ihnen: »Wägt jetzt!« Sie legten

       ihn nun auf die Wagschale, und zwei Kilo reichten

       aus. – »Wie kommt es,« fragten sie, »daß der Kopf

       sich gegen zwei Kilo hebt?« – »Das kommt daher,«

       antwortete der Mann, »daß er mit offenen Augen sich

       niemals heben kann, denn solange das Auge sieht,

       könnt ihr alle