Christiane Weller / Michael Stuhr

Gesamtausgabe der "silent sea"-Trilogie


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wir über den Strand. Schon von weitem hören wir Musik und Lautsprecheransagen, wie auf einem Rummelplatz.

      Das erste, was ich vor der Bar sehe, ist der aus Holzplanken bestehende Catwalk, der quer über den Strand verläuft. Rechts und links vom Laufsteg tummeln sich schon eine Menge Leute. Mir wird ganz schlecht und ich würde am liebsten umkehren. Wie bin ich nur auf diese bescheuerte Idee gekommen, hier mitzumachen, und das auch noch freiwillig?

      Felix vor mir strahlt mit bezauberndem Lächeln nach rechts und links und steuert geradewegs auf das Zelt zu, wo wir uns anmelden müssen. Ich wäre vor lauter Aufregung daran vorbeimarschiert.

      Jede von uns bekommt einen Fragebogen, mit dem wir nach hinten ins Zelt an einen Tisch gehen.

      Der Typ, der uns die Bögen gibt, hat seinen Stuhl vor dem Eingang aufgebaut. Wir kriegen schnell raus, warum. Obwohl die Seitenwände locker herunterhängen, sodass der warme Nachmittagswind unter der Plane hindurchwehen kann, ist eine brütende Hitze hier drin. Dagegen kann auch der Ventilator nicht an, der in einer Ecke steht und kläglich vor sich hinsurrt.

      „Puh, was für ein Backofen!“, stöhnt Pauline, die als erste hinein gegangen ist. Entschlossen macht sie kehrt, kaum dass sie sich zwei Schritte hineingewagt hat. „Wir müssen hier raus, sonst ist eure Schminke gleich verlaufen. Irgendwohin in den Schatten. Alles ist besser als das!“

      So hocken wir uns im kargen Schatten einer Pinie in den Sand und beschäftigen uns mit den Fragebögen: Name, Herkunftsort, Schule beziehungsweise Beruf, Alter und so weiter sollen wir dort eintragen, und dann wollen sie natürlich auch noch die Unterschrift eines Erziehungsberechtigten. Da können wir ja froh sein, dass unsere Eltern alle mitgekommen sind.

      Zuerst füllen wir aber die vorgedruckten Felder mit unseren Daten aus. Allein damit sind wir schon eine ganze Weile beschäftigt. Vor alle Dingen mit unseren Körpermaßen.

      „Warum müssen wir das? Das ist dumm. Die sehen uns doch!“ protestiert Felix empört. „Maße von Brust und so! Ich weiß nichts davon!“

      Richtig. Da steht B: - T: - H: - Wir sehen uns alle ratlos an, denn keine von uns hat je ihren Körper genau an diesen Stellen gemessen. – Außer mir vielleicht. Fast täglich. Aber das war in einer Zeit, die weit zurückliegt und an die ich nicht mehr denken will.

      Die praktische Pauline weiß Rat. Sie hatte nur an die Körpergröße gedacht, die wir in dem Fragebogen auch angeben müssen und hat vorsichtshalber einen Zollstock von ihrem Vater mitgebracht. Nun wühlt sie aus ihrer Tasche ein Band heraus, das sie uns um die jeweiligen Körperpartien schlingt und dann an den Zollstock hält. So kriegen wir einigermaßen genaue Angaben über B, T und H.

      Das Gewicht wollen sie auch noch wissen, aber da Pauline keine Waage mitgeschleppt hat, verlegen wir uns aufs Schätzen. Dann schnell noch die Unterschrift von den Eltern geholt, und endlich können wir unsere Anmeldezettel abgeben.

      Jetzt sind wir also offizielle Teilnehmerinnen des Wettbewerbs. Zum Zeichen dafür bekommen wir einen Button, auf dem in pinkfarbener Schrift auf knallblauem Grund Miss-Teen-Beach-Competition steht. Darunter ist eine Nummer aufgedruckt.

      So geschmückt begeben wir uns zu der ziemlich großen Gruppe der anderen Teilnehmerinnen, die bereits im Schatten des Bühnenaufbaus warten. Keine Minute zu früh, denn von einer jungen Frau werden uns dort im Schnellverfahren die Spielregeln und der Ablauf der ganzen Veranstaltung erklärt: Als erstes steht der Catwalk im Badeanzug auf dem Programm, dann Karaoke, dann die Präsentation von Freizeitklamotten, dann ein kleiner Intelligenztest und ganz zum Schluss müssen wir uns nach Musik tänzerisch bewegen. „Alles klar?“, fragt sie uns mit einem Blick, der jede Frage sofort im Keim erstickt.

      „Alles klar!“ Stolz klettern wir auf die Bühne. Ich drehe mich um und falle fast in Ohnmacht.

      Steht man unten in der Menge, fällt es gar nicht so auf, aber von der Bühne, über die wir zur Garderobe gehen, hat man den besseren Überblick. Es müssen an die tausend Leute sein, die da unten bei Lautsprechermusik auf den Beginn der Veranstaltung warten, und es kommen über den Strand immer noch welche dazu.

      Ich muss schlucken. So hatte ich mir das nicht vorgestellt. Offen gestanden hatte ich überhaupt nicht darüber nachgedacht, aber ist ja klar: Deswegen läuft die Show ja, damit die Leute was zu schauen haben.

      Da soll ich gleich im Badeanzug raus? Im Moment wünsche ich mir nichts mehr, als im Winter bei einer Skimodenschau zu sein. Im Val-d’Isère zum Beispiel oder in Annecy.

      Etwas verzagt gehe ich hinter den anderen her, ohne auf die Mädchen vor mir zu achten. Plötzlich gerate ich ins Gedränge. Wir alle wollen auf einmal durch den schmalen Spalt im Vorhang, der die Bühne nach hinten abschließt.

      Höflich, wie ich bin, lasse ich den anderen den Vortritt und sehe mich nochmals um. Das ist ein Fehler, denn plötzlich sind alle weg. Ich stehe allein vor dem geschlossenen Vorhang auf der Bühne und finde den Spalt nicht, der mich vor den 1000 Augenpaaren in meinem Rücken rettet. Hektisch taste ich die Falten ab, um bitte endlich zu verschwinden, am besten ganz plötzlich, so wie in einer Zaubershow.

      Als es mir schließlich gelingt, den Durchschlupf zu finden, komme ich vor lauter Glück ins Stolpern und muss mich mit meinem vollen Gewicht am Vorhang festhalten. Der Stoff knackt gefährlich. Ich schwinge wie Tarzans Braut hinter die Bühne und bin endlich in Sicherheit. Und wer steht vor mir auf der breiten Treppe, die hinunter ins Garderobenzelt führt? Celine! Sie grinst, dreht sich um und geht kommentarlos. Ich brauche auch keine nähere Erklärung, ich hab es auch so verstanden: Ist schon klar! Auch Trampel dürfen sich bewerben. Vive la démocratie! Wo bin ich hier nur reingeraten? Eigentlich will ich mich nur noch irgendwo verkriechen.

       08 DOLORES

      An einem der Tische, die entlang des Catwalks aufgestellt waren, brach schallendes Gelächter los. Adriano hielt es mal wieder für nötig, eine seiner berüchtigten Sondervorstellungen zu geben. Er stand grinsend vor dem Tisch, rief „Hört doch mal zu! Hört doch mal zu! Jetzt kommt’s!“, hob beide Arme und machte ein paar tänzerische Bewegungen. Er hatte dem DJ am Rand der Bühne eine CD und einen Geldschein gegeben und jetzt kam der ganze Strand in den höchst fragwürdigen Genuss, über die Lautsprecheranlage die Musik zu hören, die Adriano gut fand.

      Die CD war von einer namenlosen Gruppe aufgenommen worden, die populäre Hits mit grottenschlechten, eigenen Texten auf witzig umgestrickt hatte. Da wurde ein romantischer Ausflug mit der Freundin zur Powershoppingtour aus Macho-Sicht und die von Adriano angekündigte, gute Stelle entpuppte sich als der Refrain, in dem von einer blöden Schlampe die Rede war. Im nächsten Titel musste ein Mann zur Melodie eines alten Stones-Hits vor der verschlossenen Toilettentür ein wenig zu lange warten, und die Sache ging schlecht aus. Die dritte Nummer basierte auf einer Walzermelodie und handelte von einem Mädchen, das bei einem Treffen mit ihrem Freund alles falsch macht. - Immer hart an der Grenze zur Obszönität.

      Am Tisch saßen ein paar der üblichen Mitläufer, mit denen sich Adriano so gerne umgab. Junge, hübsche Leute, die er auf den Campingplätzen in der Umgebung aufgelesen hatte, und die bereit waren, über jeden Blödsinn, den er so von sich gab, zu lachen. Es waren größtenteils junge Zelttouristen, und dass sie eine zeitlang an Adrianos Lebensstil ein wenig teilhaben durften, machte sie gefügig. Schließlich war das hier ein extrem teures Pflaster und Adriano war alles andere als knauserig. Er schmiss eine Runde nach der anderen. Seine Partys waren legendär, und wen er besonders gut leiden konnte, dem konnte es durchaus passieren, dass er sich am Steuer eines Leih-Ferrari für fast tausend Euro Tagesmiete wiederfand. Auf so einen Tagesausflug mit Adriano waren all seine Gäste ganz versessen.

      Adriano machte dabei keinen Unterschied zwischen Männern und Frauen, Hauptsache sie entsprachen dem eher südländischen Menschentyp, so wie er selbst. Das hatte ihm hier an der Côte d’ Azur einen gewissen Ruf eingebracht, den er gerne pflegte und immer wieder bekräftigte. Gegen ihn wirkten die Playboys des vergangenen Jahrhunderts mit all ihren Skandalen wie brave Schäfchen, und er war immer wieder bemüht, möglichst noch eins draufzusetzen.

      Während der Kellner eine neue Runde Longdrinks