Christiane Weller / Michael Stuhr

Gesamtausgabe der "silent sea"-Trilogie


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vor meiner Nase weg, du doofe Kuh!“

      Oben auf der Treppe vor dem Vorhang zur Bühne steht die Assistentin der Organisationsleitung „Alléz, alléz!“ ruft sie im Kommandoton und klatscht dabei in die Hände. „Stellt euch mal in der Reihenfolge eurer Nummern auf.“

      Als wir schließlich dastehen, wie die Gänseküken, gibt es auf der anderen Seite des Vorhangs auf der Bühne irgendeinen Streit. Ein paar Männer diskutieren mit lauter Stimme. Es scheint um die gerade gespielte Musik zu gehen.

      Die junge Frau schaut kurz auf die Bühne und zuckt erschreckt zurück. Schnell eilt sie die Treppe hinunter ins Zelt und nimmt ein Kleenex vom Tisch. Oben hinter dem Vorhang sieht sie noch mal vorsichtig durch den Spalt. Der Streit scheint vorbei zu sein, Sie geht hinaus und ist ein paar Sekunden später wieder zurück. Ohne Kleenex.

      „Was war denn?“ fragen ein paar Mädchen. Ich würde das allerdings auch gerne wissen, denn so bleich, wie die Assistentin aussieht, scheint da draußen irgendetwas Unerfreuliches passiert zu sein.

      „Nichts, macht euch keine Gedanken, kann gleich losgehen. Seid ihr bereit?“

      „Ja“, antworten wir, aber es hört sich eher an, wie das Gemaunze kranker Kätzchen.

      „Gut! Du zuerst!“ Sie zeigt auf die Erste in der Reihe. Darauf wären wir von alleine natürlich nie gekommen.

      „Üch?“ fragt das Mädchen mit der Nummer Eins, auf das gezeigt wurde. Es scheint echt überrascht zu sein. - Na um meinen Intelligenztest muss ich mir wohl keine Sorgen machen, wenn das so weitergeht.

      Nach der Melodie von New York New York marschieren schließlich im Fünfmeterabstand zirka 20 Mädchen im Badeanzug über den Catwalk. Manche mit High Heels, manche in flachen Schuhen, wir mit nackten Füßen, ohne High Heels, aber mit hoch erhobenen Hacken, so als hätten wir welche an, was uns einen Sonderapplaus beschert.

      Fleur, Felix und ich werfen, wie vorher geprobt, unsere bunten Tücher über die Schulter, legen eine Hand auf die Hüfte und schieben am Ende des Catwalks kurz die Sonnenbrille runter. Alles kommt saugut an, das Publikum tobt.

      So weit so gut, aber nun kommt diese Karaoke - Geschichte. Mir ist nur noch schlecht. Wie konnte ich nur Eternal Flame aussuchen? Ich werde husten und mich verschlucken und überhaupt nicht singen können. Als mein Name aufgerufen wird, sage ich mir immer wieder: Du singst zu Hause Sopran, du kannst das, nimm dich zusammen!

      Meine Unsicherheit wächst, als ich schließlich ganz allein vor dem Mikro auf der Bühne stehe. Tausend Augenpaare schauen mich an. Das Intro ertönt und ich habe vor lauter Aufregung Watte in den Ohren. Dumpf höre ich die Töne und starre auf den Teleprompter, wo gleich mein Text zu lesen sein wird. Ich bin innerlich total verkrampft. Verzweifelt schaue ich ins Publikum und sehe in lauter erwartungsvolle Gesichter. Zum zweiten Mal an diesem Tag würde ich am Liebsten wie bei einem Zaubertrick verschwinden.

      „Lana, du schaffst das!“ höre ich Alains aufmunternde Stimme aus dem Publikum, und plötzlich legt sich ein Schalter in meinem Kopf um. Es macht hörbar ‚Klick‘, und als der Text aufleuchtet, lege ich einfach los.

      Die Leute werden auf einmal ganz still und sogar die, die sich mit anderen unterhalten haben, wenden mir ihre Gesichter zu. Ich habe die Töne sofort getroffen und die Melodie trägt mich einfach weiter. Selbst ich muss sagen, dass es eigentlich ganz gut läuft.

      Pure Begeisterung schlägt mir aus dem Publikum entgegen und ich genieße es. Alle klatschen wie wild, als ich erschöpft von der Bühne gehe. - Das wäre geschafft!

      Fleur hat leider nicht so einen Erfolg. Anfangs läuft es ganz gut mit ihrem Ketchup-Song, aber dann greift sie vor lauter Begeisterung von der Tonlage her total daneben und das kann keinem verborgen bleiben.

      Felix hat es drauf und zieht mit In your Eyes eine Show ab, als hätte sie nie etwas anderes gemacht. Sie wird umjubelt wie ein Star.

      Der Knaller ist ja Celine. Sie macht sich auf den Weg ihrer Namensvetterin und schmettert My heart will go on. Aua! Wir verziehen alle das Gesicht, als wir sie hören. Nicht so schlimm wie Fleur, aber schlimm genug, um nur peinlich zu sein.

      Jetzt kommt die Freizeitmodenschau, und wir stellen fest, dass wir unsere mitgebrachten Klamotten überhaupt nicht brauchen. Von irgendwoher ist ein Garderobenständer aufgetaucht, auf dem die tollsten Markensachen darauf warten, von uns getragen zu werden.

      Die Garderobe wird von einer älteren Frau verwaltet, die uns alle mit verdrießlichen Blicken mustert. Wahrscheinlich passt es ihr nicht, dass sie am Sonntag arbeiten muss.

      Jetzt wird mir auch langsam klar, wie diese Misswahlen funktionieren: Überall auf der Bühne hängen Banner einer großen Boutiquenkette herum, und die Labels einiger Edelmarken sind ebenfalls gut sichtbar angebracht. Das ganze ist eine Werbeveranstaltung, die von diesen Firmen gesponsert wird. Wir Mädels sind da nur Dekoration. Jederzeit austauschbar. - Trotzdem ist es ein tolles Gefühl, gleich in einem benetton, Victoria’s-Secret- oder Ragazza-Outfit über den Catwalk zu gehen, und wenn es auch nur für zwei Minuten ist.

      Ich soll ein ultrakurzes, weißes Minikleid vorführen, das im Nacken gebunden wird. Es sieht verdammt kurz aus und ich habe einen tiefschwarzen Slip an. So kann ich nicht da raus.

      „Immer dasselbe“, murmelt die Frau von der Boutique und gibt mir aus einem aufgerissenen Päckchen einen fabrikneuen Baumwollslip einfachster Machart.

      „Kostet der was?“, will ich wissen. - Da bin ich ganz die Tochter meines Vaters. Ich bin nämlich nicht bereit, nachher acht Euro oder so zu bezahlen.

      „Nun zieh dich schon an!“, knurrt die Frau, wendet sich kopfschüttelnd ab und fummelt an dem Garderobenständer herum. Eine Minute später ist sie aber schon wieder da und hilft mir, die Enden des Oberteils in meinem Nacken zu einer ordentlichen Schleife zu binden. „Steht dir gut, das Kleid!“, sagt sie dabei. - Eigentlich ist sie ja doch nicht so übel.

      Ein Blick in den winzigen Spiegel sagt mir, dass sie überraschenderweise Recht hat. Ich habe immer gedacht, dass ich wegen meines hellen Teints kein Weiß tragen kann. Da habe ich mich wohl geirrt. Der schneeweiße Stoff dieses Kleides lässt sogar meine helle Haut leicht gebräunt erscheinen und davon ist doch Einiges zu sehen. Das Dekolleté reicht bis knapp über den Bauchnabel, während der untere Saum die Pobacken gerade so bedeckt. Mein Vater bringt mich um, wenn er mich so sieht. Egal! Gestorben wird später! Jetzt muss ich erst mal Miss Teen-Beach werden! Entschlossen mache ich mich bereit, rauszugehen.

      Wir stellen uns alle der Reihe nach auf und die junge Frau winkt uns im Takt der Musik nacheinander auf die Bühne.

      Als ich endlich dran bin, ziehe ich mir den Rocksaum so tief es geht, damit man diesen blöden Slip nicht sieht und marschiere los. Diesmal sind wir alle barfuß, so dass das extrem anstrengende Fersen hochhalten nicht mehr nötig ist.

      Es läuft gut. Wir alle bekommen höflichen Applaus, die Assistentin, die uns rein und raus winkt, scheint zufrieden zu sein, und sogar die Garderobenfrau zwingt sich ein Lächeln ab.

      Schließlich sind wir alle wieder hinter dem Vorhang in Sicherheit, als die Musik wechselt.

      „Ihr habt jetzt eine halbe Stunde Pause“, teilt unsere Einweiserin uns mit. „Geht was trinken, oder macht sonst was, aber seid pünktlich wieder da.“

      Rasch ziehen wir unsere Privatklamotten an, denn Fleur hat versucht, im Laufstegdress die Garderobe zu verlassen, aber das lief nicht. - Ist wohl doch etwas humorlos, die Garderobenfrau.

      Durch die wummernde Musik gehe ich über die Bühne und springe in den Sand. Der Tisch, an dem meine und Fleurs Eltern sitzen, steht in der dritten Reihe und erschöpft lasse ich mich auf den letzten freien Stuhl fallen. Das Erste, was ich zu hören bekomme, ist Didiers laut herausgekrähte, dumme Bemerkung: „Du bist ja gar nicht gestolpert. Ich hatte mir das so schön ausgemalt.“ - Tja, da hat die kleine Ratte wohl nicht richtig aufgepasst.

      Meine Mutter lächelt mir stolz zu und mein Vater versucht mir etwas zu sagen, aber ich kann ihn kaum verstehen. Auf der Bühne