Nadine T. Güntner

Allendas


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nicht so überraschend, wie dieser es sich erhofft hatte. Mit gezückten Schwertern und schussbereiten Waffen kamen sie aus ihren Zelten und noch ehe der Sellag und seine Gefolgsleute das Lager betreten hatten, sahen sie sich bereits in Bedrängnis.

      Trotz ihrer schlechten Lage gaben die Sellag nicht auf. Sie schlugen mit ihren Schwertern wahllos auf die Menschen ein und versuchten, sich zum König durchzuschlagen, der ein Stück von ihnen entfernt stand.

      Herras war durch die Unruhen aus seinem ohnehin leichten Schlaf gerissen worden und sogleich mit einer schrecklichen Vorahnung hinaus ins Freie gestürzt. Dort war Merit bereits zur Stelle gewesen und hatte ihm Schwert und Armbrust gereicht. Nun bezogen beide, Seite an Seite, Stellung auf einem umgefallenen Baumstamm. Von dieser Erhöhung konnten sie die Eindringlinge leichter im Auge behalten.

      Marek erkannte schnell die Aussichtslosigkeit seines Unterfangens. Er kam nicht näher als fünfzehn Barret an den König heran und die Pfeile der Lagerbewohner zischten oft nur knapp an seinen Ohren vorbei. Er hatte, abgesehen von den drei Sellag der Vorhut, auch auf seiner Seite zwei Krieger verloren und so sah er sich gezwungen, den Rückzug anzutreten. Er stieß einen kurzen, schrillen Schrei aus und die verbliebenen drei Krieger folgten ihm, als er sich umdrehte und im Wald verschwand.

      Die Waldmenschen folgten ihnen, aber in der Finsternis der Nacht hatten sie die fremden Kreaturen bald verloren. Niedergeschlagen kehrten sie zurück und machten sich daran, bei der Versorgung der Verletzten zu helfen.

      Für eine Weile saß Herras benommen auf dem Baumstamm. Er konnte nicht fassen, was geschehen war, konnte nicht begreifen, dass sie ihn gefunden und das Lager angegriffen hatten. Er beobachtete die Verletzten und wie sich ihre Angehörigen um sie kümmerten. In Herras’ Kopf hämmerte nur noch ein einziger Gedanke: Es war seine Schuld.

      Beunruhigt sah er sich um. Plötzlich dachte er an Maleris und ihm wurde bewusst, dass er das Mädchen nirgendwo gesehen hatte. Er wollte wissen, ob es ihr gut ging. Plötzlich entdeckte er sie ein Stück entfernt. Sie schien wohlauf zu sein und kümmerte sich um einen Verwundeten. Herras wurde das Herz ein wenig leichter.

      Auf der anderen Seite des Zeltkreises sah Herras Korin liegen. Sein Arm blutete stark. Der Allendasser stand auf und ging mit weichen Knien zu ihm herüber. Merit, Sollas und einige Wachen standen bereits um ihn herum und Herras konnte Besorgnis in ihren Augen erkennen, als er an die Gruppe herantrat.

      Rulind, die Heilerin und Maleris‘ Mutter, hatte sich über Korin gebeugt und behandelte seine Wunde mit getrockneten Kräutern, mit deren Blättern sie den tiefen Riss in seinem Arm bedeckte. Das Gesicht des Jägers war schmerzverzerrt und aschfahl, aber er war bei Bewusstsein und seine Augen waren klar. Ein gutes Zeichen, wie selbst Herras wusste, und er fühlte Erleichterung in sich aufsteigen.

      »Er wird durchkommen«, sagte Rulind schließlich, als sie sich aufrichtete und zwei der Wachen ein Zeichen gab, Korin fortzubringen. »Seine Wunde ist tief, aber sie wird heilen.«

      Herras glaubte, Sollas aufatmen hören zu können. Gemeinsam blickten sie Korin nach, als dieser in eines der Zelte getragen wurde. Dann sah der alte Stammesvater Herras an und seine Augen waren dunkel. In diesem Augenblick war nichts mehr von der Freundlichkeit und dem Wohlwollen darin zu erkennen, mit dem er Herras am Abend bedacht hatte. Herras verstand ihn.

      »Ihr habt Leid über unser Lager gebracht, Herras«, sagte Sollas mit eisiger Stimme. »Seit Langem hatten wir keine Feinde mehr zu fürchten. Nun habt Ihr sie zu uns geführt.«

      Herras senkte schuldbewusst den Kopf. »Ich bitte Euch um Verzeihung, Sollas. Ich bin mir bewusst, dass ich für das, was geschehen ist, ganz allein verantwortlich bin. Aber Ihr müsst mir glauben, dass ich...«

      »Ich weiß, dass es nicht Eure Absicht war, und, dass Ihr nicht für das Geschehene zur Rechenschaft gezogen werden könnt«, unterbrach Sollas ihn brüsk. »Doch Ihr müsst nun unseren Stamm verlassen. Ich kann Euch nicht länger Unterkunft in meinem Lager gewähren. Noch hat niemand sein Leben verloren, aber man kann nicht wissen, was noch geschehen mag. Ich wünsche Euch alles Gute für die Zukunft.« Er ließ Herras keinen Zweifel daran, dass sein Entschluss feststand.

      »Ich werde sogleich losziehen«, erwiderte Herras niedergeschlagen.

      »Wir werden losziehen!«, fügte Merit bestimmt hinzu und spürte Herras’ überraschten Blick auf sich ruhen. Der Mensch hatte nicht damit gerechnet, dass Merit ihm nach dem, was geschehen war, noch immer beistehen würde.

      »Mein Sohn wird Euch begleiten. Mit ihm habt Ihr die beste Unterstützung, die ihr Euch wünschen könnt«, fügte Sollas hinzu.

      »Ich danke Euch, Sollas, für alles, was Ihr für mich getan habt.« Herras wandte sich ab und ging, um seine Habe zu holen. Merit machte sich daran, ihm zu folgen, aber Sollas’ Blick ließ ihn noch einen Moment verharren.

      »Sei achtsam!«, sagte sein Vater und Sorge lag in seinen Worten.

      Merit nickte kurz und ein zuversichtliches Lächeln umspielte seine Lippen. »Das werde ich sein, Vater, und ich werde bald zurückkehren.« Sie reichten sich die Hände, so wie es zwischen Vater und Sohn üblich war.

      Hondor III

      Ein langer, zermürbender Tag war vergangen, ohne, dass sich etwas an der Lage der Gefangenen verändert hätte. Erst, als erneut die Nacht über Alland Pera hereingebrochen war, kamen sie, um ihn zu holen. Dieses Mal gewährten sie ihm die Gunst, sich auf seinen eigenen Beinen zu bewegen, was sich durch die Fußfesseln jedoch als hoffnungsloses Unterfangen erwies. Die Wachen stießen ihn hinauf in den Thronsaal. Mit einem dumpfen Schlag fiel er dort zu Boden. Seine Gelenke waren von den Fesseln wund gescheuert und offen. Seine Hände und Füße waren blutleer, seine Muskeln verspannt und verkrampft. So blieb er regungslos liegen. Nur mit Mühe konnte er seinen Kopf heben. Sein Thron war verlassen und Kalerid offenbar nicht anwesend.

      Hondor brauchte jedoch nicht lange zu warten. Bald kam Unruhe bei den anwesenden Sellag auf und er vernahm, wie die große Tür aufgestoßen wurde.

      Kalerid betrat den Saal und begab sich gemächlichen Schrittes zu seinem Thron. Sein Gesicht mit der vorstehenden Nase und dem breiten Mund quoll über vor Selbstzufriedenheit und war zu einem hässlichen Grinsen verzogen. Hondor beobachtete den Sellag, wie er sich langsam auf den hölzernen Stuhl sinken ließ, und er zweifelte nicht daran, dass Kalerids Freude auf dem Schicksal beruhte, das Herras ereilt hatte.

      Nichts konnte Hondor verraten, dass er sich irrte, aber er tat es. Innerlich war Kalerid jedoch noch immer erzürnt über den Verlauf dieser Angelegenheit. Auch war ihm vor kurzem aufgefallen, dass er in der Ausführung seiner Rache gegen den König einen Fehler gemacht hatte: Er hätte ihn zuerst verhören müssen, bevor er ihn seinem gerechten Ende zugeführt hatte, aber dazu war es jetzt zu spät. Kalerids Blick klebte an dem geschundenen Mann zu seinem Füßen. Vielleicht konnte auch er ihm sagen, was er wissen wollte.

      Der Schatz! Kalerids Augen leuchteten bei dem Gedanken an ihn. Unzählige Male hatte sein Vater ihm von dem unermesslichen Reichtum erzählt, der in Allendas verborgen lag. Er war sicher verwahrt und wartete seit fast tausend Jahren darauf, wiedergefunden zu werden.

      Woher der Schatz kam, wusste heute niemand mehr. Er hatte schon immer zu Allendas gehört. Früher war er im Schloss von Alland Pera aufbewahrt worden, auch zur Zeit der Versklavung war es noch so gewesen. Wenige hatten ihn jemals gesehen. Vor der Belagerung hatten nur die Könige das Recht, die Schatzkammern aufzusuchen und den Muteral, wie der Schatz auch genannt wurde, zu erblicken, doch jeder in Allendas wusste, dass es ihn gab. Später waren es nur die größten ­Fürsten der Belagerer, die ihn zu sehen bekamen. Nach der Befreiung, als Helaras das Land erlöst und den Thron bestiegen hatte, verschwand der Schatz. Er wurde aus Alland Pera weggeschafft, König Helaras hatte es so gewollt. Außer einigen Wenigen wusste niemand, wohin, und so, wie der Muteral aus den Schatzkammern des Schlosses verschwunden war, so war er bald auch aus den Köpfen der Allendasser verschwunden, bis schließlich kaum jemand verblieben war, der wusste, dass er einst existiert hatte.

      Kalerid klatschte in die Hände und Rofin eilte