Nadine T. Güntner

Allendas


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er eine kleine Truhe, die aus rötlich schimmerndem Holz gefertigt war. Das gute Stück war eindeutig kostbar und schon sehr alt, aber man hatte es gut gepflegt, denn nicht ein einziger Kratzer verschandelte seine blank polierte Oberfläche. Rofin reichte Kalerid das Kästchen. Der Heerführer nahm es mit erstaunlicher Behutsamkeit entgegen. Mit gesenktem Blick zog Rofin sich wieder ein Stück zurück und blieb neben dem Thron seines Herrn stehen. Ehrfurcht stand in seinen Augen, als er den Kopf hob; er schien zu wissen, was nun geschehen würde.

      Hondor blieb der Sinn des Ganzen jedoch noch verborgen. Bisher hatte ihn Kalerid weitgehend ignoriert.

      Behutsam öffnete der sellagische Heerführer die kleine Truhe mit den dunklen Eisenbeschlägen und entnahm ein zusammengerolltes, vergilbtes Stück Leder.

      Unvermittelt wandte er sich Hondor zu. Es war ihm unter größten Anstrengungen gelungen, sich umzudrehen und aufzurichten. Nun kniete er vor dem Heerführer und Schweiß stand auf seiner Stirn, als dieser ihn mit einem beinahe wohlwollenden Blick musterte.

      »Du weißt von dem Schatz?«, fragte Kalerid den gefallenen König, den er noch immer für dessen Hauptmann hielt, beiläufig, als würde er ein geselliges Gespräch mit einem Freund führen, und entrollte dabei achtsam die Schriftrolle.

      Ja, Hondor hatte schon von dem Muteral gehört, wenn es dieser Schatz war, von dem Kalerid sprach. Aber alles, was er jemals davon gehört hatte, waren Legenden, die so alt waren wie sein Geschlecht. Niemand wusste, wohin der Muteral gebracht worden war, nachdem er Alland Pera verlassen hatte. Die Geschichte erzählte, dass von Helaras eine Karte angefertigt worden war, aber auch ihr Verbleib war so unbekannt wie der des Schatzes selbst.

      Misstrauisch und mit vorgetäuschtem Unverständnis in den Augen, erwiderte Hondor Kalerids Blick. »Von welchem Schatz sprecht Ihr?«

      Er hatte offensichtlich den falschen Weg gewählt, als er sich entschlossen hatte, Unwissenheit vorzugeben. Mit einem Schlag verlor Kalerid seine Beherrschung und beugte sich zu ihm herab.

      »Welchen Schatz!?!«, wiederholte er fauchend. »Muss man euch elenden Nichtnutzen wahrhaftig alles erklären?«

      Hondor wich ein Stück zurück, denn er befürchtete, Kalerid würde ihm sogleich an die Kehle springen, und fiel dabei beinahe hinten über.

      Kalerid atmete mehrmals pfeifend tief durch und blies dabei Hondor seinen stinkenden Atem ins Gesicht. Nur langsam fand er wieder seine Beherrschung.

      »Diesen Schatz meine ich. Den Schatz, den man Muteral nennt.« Der Heerführer hielt Hondor das entrollte Leder dicht vor das Gesicht. Der König erkannte, dass es sich um eine Karte handelte. Sie zeigte eine aufwändige, wenn auch alte Darstellung von Allendas. An einer Stelle, genau über einem Hügel, unter dem der Name Paratul stand, ein wenig entfernt von Alland Pera, war ein großes, auffälliges Kreuz eingezeichnet.

      Konnte das wirklich sein? Hatte Kalerid die Karte, auf dem die Lage des Muterals eingezeichnet worden war? Eine Flut von Fragen schoss Hondor mit einem Mal durch den Kopf. Woher wusste Kalerid von dem Schatz? Wie kam er in den Besitz dieser Karte und wie konnte er wissen, dass das Kreuz die Lage des Muterals und nichts Anderes kennzeichnete? Seine Gedanken formten ein Bild. Handelte es sich bei den Eindringlingen möglicherweise um das Volk, welches Helaras vor fast tausend Jahren aus Allendas vertrieben hatte? Hondor hatte Zeichnungen von Angehörigen des alten Volkes gesehen. Sein Vater hatte Bücher besessen, in denen sie abgebildet waren. Sie hatten sich nicht von dem Antlitz der friedlichen Menschen unterschieden und schon gar nicht hatten sie Ähnlichkeit mit den abscheulichen Kreaturen, die nun sein Land verwüsteten.

      Hondor wurde bewusst, dass Kalerid noch immer auf eine Antwort von ihm wartete. Der Heerführer stieß ein warnendes Knurren aus.

      »Ach, diesen Schatz meint Ihr.« Hondor versuchte, betont unbeeindruckt zu bleiben. »Natürlich habe ich von ihm gehört. Vor allem, dass es ihn gar nicht geben soll.« Er wusste, dass er viel aufs Spiel setzte, wenn er Kalerid mit etwas reizte, was ihm viel zu bedeuten schien.

      Kalerid kniff die Augen zusammen und stieß ein heiseres Lachen aus. »Dann habt ihr ihn also nicht gefunden.« stellte er zufrieden fest. Seine größte Befürchtung war, dass die Menschen den Schatz geborgen und geplündert hatten.

      »Nein!«, antwortete Hondor ehrlich und hielt dem Blick des Heerführers eisern stand. Er hatte einen Großteil seiner Würde wiedergefunden und hielt nun den Kopf stolz erhoben.

      »Ich habe nichts anderes von euch schwächlichen Gestalten erwartet.« Kalerid war seine Freude deutlich anzumerken.

      »Das dürfte doch zu Eurem Vorteil sein, wie ich annehme«, erwiderte Hondor trocken. »Obwohl ich bezweifele, dass Ihr ihn finden werdet.«

      »Oh doch, das werde ich!« Kalerid wirbelte herum und stieg die wenigen Stufen zum Thron hinauf. Von dort konnte er auf seinen Gefangenen buchstäblich herabsehen. Das würdevolle Gehabe des ehemaligen Hauptmanns des Königs missfiel ihm zutiefst. »Ich habe die Karte und ich habe dich, der mich zu der eingezeichneten Stelle führen wird. Außerdem habe ich eine Menge unnützer Gefangener deines erbärmlichen Volkes, denen ich eine Daseinsberechtigung geben muss. Du wirst für mich mit ihnen den Hügel abtragen, Stück für Stück, bis wir meinen Schatz gefunden haben.«

      Hondor erwiderte nichts. Er bemühte sich, den Heerführer unbeeindruckt anzublicken.

      »Ich nehme an, du bist mit meinem Plan einverstanden, Herras«, sagte Kalerid mit gönnerhaftem Tonfall. Er gefiel sich in seiner überlegenen Rolle.

      »Habe ich eine andere Wahl?« Hondor hob fragend die Augenbrauen.

      »Den Tod!«

      Hondor nickte. Er hatte keine andere Antwort erwartet. »Dann werde ich wohl Euren ersten Vorschlag annehmen müssen.«

      »Ich schätze gute Zusammenarbeit.« Kalerid klatschte zufrieden in die Hände. Dann sah er wieder auf die Karte. »Ich nehme an, du kennst den Weg nach Elland?«

      Elland war der Landstrich, in dem sich der Hügel befand, der Paratul genannt wurde. Darunter lag, laut der Karte, das Versteck des Muteral. Hondor kannte Elland gut, denn er hatte es oft durchquert, wenn er auf seinen Reisen das Land durchstreift hatte. Hondor war wohl der am weitesten gereiste Mann in seinem Land.

      Selbstverständlich hätte Kalerid auch einen seiner Männer als Führer berufen können. Einige seiner Späher kannten Allendas vielleicht sogar besser, als die Allendasser selbst. Er sah zu Hondor. Der Mensch wurde nun eigentlich nicht mehr benötigt, denn Kalerid wusste bereits, was er wissen wollte.

      »Ich kenne ihn.« Hondor war es zuwider, sich dem Sellag kampflos ergeben zu müssen, doch blieb ihm keine andere Wahl. Ihm waren sowohl im wahrsten Sinne des Wortes als auch im übertragenen Sinne die Hände gebunden. Wenn er sich widersetzte, würde Kalerid ihn sofort töten lassen und trotzdem sein Vorhaben durchführen. Der Sellag konnte auch einen anderen Führer finden, der ihm den Weg nach Elland wies, doch ein toter König würde seinem Volk nicht mehr beistehen können. Damit hätte er auch Herras’ Opfer entehrt.

      »Gut, dann können wir bei Morgengrauen losziehen!« Kalerid lehnte sich in seinem Sessel zurück und gab Rofin ein Zeichen. Dieser beeilte sich sogleich, seinem Herrn das Abendmahl bringen zu lassen.

      »Bringt ihn zurück in den Kerker«, wies Kalerid dann die Wachen an und sogleich ergriffen sie Hondor. Dabei machten sie sich nicht die Mühe, ihn auf die Beine zu zerren. Kalerid sah ihnen selbstzufrieden nach, während sie ihn hinausschleiften.

      Während Kalerid im Thronsaal sein Abendessen verschlang, mussten die Gefangenen im Verließ eine weitere Nacht darben. Sie wurden sorgsam bewacht und Hondor fand keine Gelegenheit, Zorina oder einem der Anderen von dem zu berichten, was er erfahren hatte. Hungernd und frierend verbrachten er und seine Schicksalsgenossen eine weitere beklemmende Nacht in den feuchten Gemäuern unter dem Schloss von Alland Pera.

      Herras IV

      Die Blicke der Lemberusken begleiteten sie, als sie das Lager verließen. Herras konnte die unterschiedlichsten Gefühlsregungen auf ihren Gesichtern