Angelika B. Klein

Schuld, die dich schuldig macht


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      „Äh, tut mir leid, ich habe dich nicht gesehen“, antwortet sie verwirrt.

      Der junge Mann mit seinen braunen Locken lächelt sie an und erwidert: „Du musst das neue Kindermädchen sein! Ich bin Marco, der Sohn des Chauffeurs und der einzige Gärtner für das gesamte Anwesen.“ Sie reichen sich die Hand zur Begrüßung und Isabel spürt ein leichtes Kribbeln in ihren Fingerspitzen, als sich ihre Finger berühren.

      „Hallo“, sagt sie verlegen und merkt, wie ihre Wangen erröten.

      „Hast du dich verletzt?“, fragt Marco erneut, dieses Mal jedoch auf deutsch.

      Schnell schüttelt sie den Kopf: „Nein, danke, mir geht es gut.“ Schüchtern geht sie an ihm vorbei, weiter in Richtung Garten, als sie plötzlich erneut seine Stimme hört: „Verrätst du mir noch deinen Namen?“

      Sie dreht sich um und ruft ihm lächelnd entgegen: „Ich heiße Isabel.“

      Ein Grinsen breitet sich auf seinem Gesicht aus. „Dann bis zum nächsten Mal, Isabel“, sagt er gerade noch so laut, dass sie es hören kann, dreht sich um und marschiert in die entgegengesetzte Richtung.

      Isabel betritt durch den schmalen Rosenbogen den Garten. Bunte Blumen, Steingärten, Büsche und Bäume sind ordentlich angepflanzt. Der Garten ist so groß, dass drei Bänke an verschiedenen Positionen zum Verweilen einladen. Sie setzt sich auf eine der Bänke und genießt die Aussicht. Ihr Blick fällt aufs Meer, das etwa 200 Meter entfernt liegt. Als sie sich umdreht, um auf das Herrenhaus zu schauen, reißt sie verwundert die Augen auf. Hinter dem Haus erhebt sich der Vesuv, der große Vulkan, der immer noch als aktiv gilt. Da der Berg jedoch seit mehreren hundert Jahren ruht, macht sie sich keine großen Sorgen.

      Sie widmet sich erneut der Liste mit den Verhaltensregeln, wobei mit jedem weiteren Punkt ihr Unverständnis gegenüber dem Ehepaar Frapatelli wächst.

      Kapitel 10

      HEUTE

      Am nächsten Morgen gehe ich, wie gewohnt, zum Brunnen und danach in das Arzthaus. Einige Minuten, nachdem ich meine Arbeit begonnen habe, kommt Mona zu mir und teilt mir mit, dass die drei Jungs und die Crew bereits in der Schule auf mich warten. „Mona, kann nicht Anna heute den Unterricht übernehmen? Du weißt schon, wegen der Kamera!“

      Verständnisvoll antwortet sie: „Leider nicht, Mia. Sie muss mit mir nach Samroni, dort steht erneut eine komplizierte Geburt an und ich brauche ihre Hilfe. Du weißt, dass ich dich hier nicht entbehren kann. Ich habe aber der Crew schon erklärt, dass du nicht gefilmt und fotografiert werden möchtest. Sie werden nur die Jungs und die Kinder aus dem Dorf mit der Kamera einfangen.“ Zweifelnd blicke ich durch das Fenster nach draußen. Mona nimmt mich in den Arm und drückt mich kurz. „Du schaffst das schon, meine Süße!“ Zusammen verlassen wir die Steinhütte. Mona trifft auf dem Weg zu den Fahrzeugen auf Anna und zusammen steigen sie in eines der Autos der Besucher ein.

      Ich atme einmal kräftig durch und begebe mich dann mit schnellen Schritten auf das Schulgebäude zu. Lautes Stimmengewirr dringt nach draußen. Die 32 Kinder im schulpflichtigen Alter sind bereits anwesend und sitzen an ihren provisorischen Tischen. Während ich mich vor die Gruppe hinter mein Pult stelle, erscheinen die drei Jungs und ihre Crew. Louis winkt mir von der Tür aus zu und grinst mich an. Ich spüre ein leichtes Kribbeln im Bauch und merke, wie mir etwas mehr Blut als nötig, in die Wangen schießt.

      Der Kameramann kommt auf mich zu und reicht mir die Hand. „Hallo, du bist sicher Mia! Ich bin Sam! Mona hat uns erzählt, du möchtest nicht gefilmt werden?“ Verlegen nicke ich. Ohne auf eine Begründung von mir zu warten, fährt Sam fort: „In Ordnung. Wir halten nur auf die Kinder und die Jungs drauf. Es ist aber durchaus möglich, dass deine Stimme zu hören ist. Ist das o.k. für dich?“ Erneut bestätige ich durch leichtes Nicken.

      Sam, mit seiner Kamera, Marcel mit dem großen Mikrofon, sowie Laura mit ihrer Fotokamera stellen sich hinter mir auf und richten ihre Geräte auf die Kinder aus. Mit einem „Und los geht’s“, bestimmt Sam den Anfang meines Unterrichts.

      Die Kinder sind aufgeregt und durch die fremden Personen in der Hütte abgelenkt, dennoch verläuft der Unterricht fast wie gewohnt. Louis, Jack und Frankie setzen sich zwischen die Jungen und Mädchen und singen mit ihnen Lieder. Frankie begleitet sie mit der Gitarre.

      Während die Jungs sich mit den Schülern unterhalten und kleine Spielchen mit ihnen veranstalten, beobachte ich das Geschehen aus einer ruhigen Ecke der Hütte. Wie glücklich die Kinder sind… wie attraktiv Louis ist… sein Lächeln… seine Stimme… seine Blicke, wenn er mich ansieht. Eine angenehme Wärme breitet sich in meinem Körper aus. Erneut schmerzt es in meiner Brust, wenn ich daran denke, dass er morgen ohne mich abreist und ich ihn vermutlich nie wieder sehen werde.

      Später, nach Abschluss der heutigen Dreharbeiten, erscheint Louis im Arzthaus. Ich wechsle gerade Tidjanis Verband, als er eintritt. Beim Anblick der Wunde des Jungen, verzieht Louis mitfühlend sein Gesicht. „Oh, das hat sicher ganz schön weh getan.“

      Tidjani erklärt mit hervorschwellender Brust: „Ja und wie! Aber ich habe nicht geweint! Keine einzige Träne!“

      Respektvoll schaut Louis den kleinen Dorfbewohner an: „Wow! Du bist aber ganz schön tapfer. Bei so einer Wunde würde ich sicherlich mehr als eine Träne weinen.“ Nach diesen Worten wandert sein Blick zu mir und bleibt eindringlich an meinen Augen haften. Gerührt beende ich schnell meine Arbeit und hebe Tidjani vom Untersuchungstisch herunter.

      „So, fertig! Aber bleib jetzt bitte vom Wasser weg, solange dein Bein noch nicht verheilt ist. Hast du verstanden, Tidjani?“

      Meine Worte ignorierend läuft Tidjani aus dem Haus und ruft: „Ja, ja, danke Mia!“

      Louis tritt an mich heran und nimmt meine Hände in seine. „Hast du Lust, dass wir nochmals zu dem Hügel gehen, wo wir das erste Mal waren? Oder ist es schon zu spät?“ Augenblicklich spüre ich wieder das Kribbeln im Bauch.

      Auffällig gelassen antworte ich: „Klar, können wir machen.“ Ich greife nach meinem Leder-Trinkbeutel und dem Jagdmesser, ohne den keiner der Dorfbewohner einen Ausflug in die Steppe unternimmt, und gehe voraus durch die Tür.

      Wir verlassen das Dorf auf dem gleichen Weg wie vor zwei Tagen. Nach einigen Metern greift Louis nach meiner Hand und umschließt sie selbstsicher. Hand in Hand gehen wir weiter auf dem unsichtbaren Pfad, der durch die Steppe führt. Auf etwa halber Strecke hören wir ein leise röchelndes Geräusch aus dem Gebüsch. Fragend schaut Louis mich an. Ich wende mich vom Pfad ab und gehe den Lauten langsam entgegen. Louis ruft besorgt: „Ist das nicht zu gefährlich, was du da gerade machst? Du weißt doch nicht, was dich da erwartet!“

      In seine Richtung antworte ich: „So wie es sich anhört, liegt das Tier im Sterben. Ich glaube nicht, dass noch eine Gefahr von ihm ausgeht.“

      „Du glaubst nicht? Super, da komm ich lieber mal mit, um dir zu helfen, falls du dich irrst“, ruft er sarkastisch und stapft hinter mir her.

      Langsam schleiche ich mich an. Das Geräusch wird deutlicher und das Röcheln lauter. Louis folgt mir dicht auf den Fersen. Plötzlich erkenne ich vor mir ein großes Tier, welches zusammengesunken am Boden liegt. Abrupt bleibe ich stehen. Louis knallt mit etwas Verzögerung an meinen Körper und kommt hinter mir zum Stillstand. Neugierig blickt er mir über die Schulter. „Was ist das?“, flüstert er unsicher.

      Leise antworte ich: „Ein Streifengnu. Es ist verletzt.“ Ich trete einen Schritt auf das Tier zu und betrachte es eingehend. Schwer atmend liegt es auf dem Boden. Eine größere Verletzung ist auf den ersten Blick nicht zu erkennen.

      Mit größtem Respekt vor dem Wildtier tritt jetzt auch Louis etwas näher heran. „Wie hat es sich verletzt?“, fragt er interessiert. Mein Blick wandert vom Kopf des Tieres über seinen Körper und hinunter zu den Beinen. Am Hinterlauf