Ulrich Paul Wenzel

Es Geht Auch Anders


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meinem kargen Lehrlingslohn eine einfache Verstärkeranlage und begann unter Anleitung eines Freundes die ersten Griffe zu erlernen. Fortschritte stellten sich nur mühsam ein, nur langsam lernte ich dazu, auch weil ich zu faul war, um zu üben.

      Den Grundstein meiner Musikerkarriere wollte ich ein paar Jahre später auf einem Bauernhof nördlich von Bremen legen. Wir starteten dort unser erstes Bandprojekt: Zwei Gitarristen, ein Bassist und ein Schlagzeuger. Erwähnenswert ist, dass ich nicht einer der beiden Gitarristen war, weil ich zwischenzeitlich das Instrument gewechselt hatte. Statt der Gitarre war es jetzt das Schlagzeug. Man könnte dies als rein pragmatische Entscheidung aus Kostengründen sehen, schließlich kostete ein Marshall-Verstärker mit zugehörigem Boxenturm ein Vermögen. Grund der Umstellung war jedoch, dass ich meine Gitarre nie annähernd beherrschte oder anders ausgedrückt, außer einer Handvoll Griffen nichts weiter zustande brachte. Obendrein waren mir Akkorde oder Harmonien bis dahin so fremd wie chinesische Schriftzeichen.

      Dafür entdeckte ich ein Gefühl für Rhythmus und glaubte bald, für das Trommeln geboren zu sein. Mein erstes Schlagzeug stöberte ich in einem Bremer Instrumentenladen auf. Es war preiswert und bestand aus vielen Teilen, unter anderem zwei Hängetoms und drei Becken. Leider klang es wie ein Set aus leeren dänischen Keksdosen, was ich erst relativ spät wahrnahm. Ich brauchte also ein neues Instrument. Dieses kaufte ich im Musikinstrumentenladen an der Hamburger Reeperbahn und hatte für die nächsten drei Monate keine einzige Mark mehr zur eigenen Verfügung. Natürlich hatte ich diesmal zwei sachverständige Freunde mit dabei. Diesmal sollte nichts schiefgehen. Bis zur Rückfahrt nach Bremen, ich hatte mir den Opel Rekord Caravan meines Vaters für den Transport geliehen, war es auch so. Leider endete sie in Höhe des Grundbergsees. Wir hatten so intensiv über das neue Instrument diskutiert, dass ich vollständig vergas, dass das Auto auch einen vierten Gang besaß. Meine schon exorbitant hohe Rechnung für das Schlagzeug wurde noch einmal um 600 Mark für einen gerissenen Kühler und eine defekte Zylinderkopfdichtung plus Abschleppgebühren erhöht.

      Unser Sound auf dem Bauernhof war eigenwillig, einige unserer intensivsten Kritiker behaupteten, unerträglich. Wir spielten Eigenkompositionen und bekannte Stücke, die nur wenige Harmonien hatten, dafür aber irre lang waren, wie beispielsweise Evil Woman von Spooky Tooth oder In A Gadda Da Vida von Iron Butterfly. Fehlende musikalische Kompetenz kompensierten wir durch Lautstärke und verschlissen eine Unmenge an Sicherungen für unsere Verstärker. Die schwarzweißen Holsteiner Kühe auf der angrenzenden Weide jedenfalls, eigentlich ganz zutrauliche Tiere, wirkten nach unseren Übungssequenzen immer leicht verstört und verzogen sich meistens, insbesondere wenn wir uns an unseren Eigenkompositionen probierten, in die hinterste Ecke der Weide zurück. Dort warteten sie, ähnlich wie bei einem Unwetter, bis sich der Donner verzogen hatte.

      »Guten Morgen, Simon«, flötete Martina am Empfang, als ich kurz vor neun Uhr durch das in petrol-weiß und mit der monumentalen Grafik zweier nebeneinanderstehender Weinflaschen drapierte Foyer unserer Bausparkasse stapfte.

      »Morgen Tina, wie geht es dir?«

      Ich ging zu ihr an den Empfangstresen. Der Blick in ihr wie immer tief ausgeschnittenes Dekolleté mit den beiden gepuschten Kugeln hatte für mich stets einen Hallo-Wach-Effekt. Heute hatte sie noch etwas Glitzerpuder aufgetragen.

      »Und was hat die letzte Nacht gebracht?«, fragte ich süffisant.

      »Ach, Simon, in der Woche läuft doch nicht viel. Nach dem Fitness-Studio noch ein bisschen Fernsehen und dann ins Bett.« Ich war mir bis zuletzt nicht schlüssig, was mich mehr faszinierte, ihre Schönheit oder ihre Dämlichkeit.

      »Na, vielleicht können wir ja mal zusammen einen Cocktail trinken gehen«, sagte ich. Mir fiel die Weihnachtsfeier vor zwei Jahren ein. Es war weniger die Feier selbst als mehr unsere Nummer auf der Rückbank ihres Audi A3 inmitten eines gigantischen Schneetreibens. Seit diesem denkwürdigen Tag spürte ich auch meine Rückenschmerzen am sechsten Lendenwirbel wieder, die ich längst glaubte, überwunden zu haben.

      »Sehr gern Simon«, säuselte sie, »sag’ nur Bescheid.«

      Meine Uhr zeigte zehn nach neun. Ich zuckte zusammen und setzte mich mit einem gezwungenen Lächeln in Bewegung. Unsere heutige Teamsitzung war um 9:00 Uhr angesetzt. Dass es meine letzte werden würde, ahnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

      Alle sieben Bereichsleiter, darunter drei Frauen, saßen am lang gezogenen Buchentisch mit Chrombeinen und blätterten geschäftsmäßig in ihren Akten, als ich den holzgetäfelten Sitzungssaal betrat. Ich verfluchte Carlas Warmwasseraktion am Morgen zum zweiten Mal.

      »Guten Morgen, Herr Lüdenscheidt, wir sind wohl ein wenig spät«, sagte Köhler ironisch und blickte mich halb vorwurfsvoll, halb mitleidsvoll an. »Ich hatte mich schon schweren Herzens mit dem Umstand abgefunden, heute auf Sie verzichten zu müssen.«

      Sehr gerne du dämliches Sackgesicht, dachte ich und ging wortlos zu meinem Platz. Die anderen lächelten in sich hinein. Burghardt Köhler war seit sieben Monaten mein Chef. Kam irgendwo aus Westfalen und war arrogant, machtgierig und hinterfurzig, was ich als eine äußerst problematische Kombination ansah.

      »Vielleicht können Sie uns einmal den Grund schildern, warum Sie uns geschlagene fünfzehn Minuten unserer wichtigen Zeit stehlen.« Alle starrten zu mir.

      »Wir hatten ein kleines sanitäres Problem zu Hause«, sagte ich einsilbig während ich mich setzte.

      »Ist dir ein Stück Seife ins Klo gesprungen?«, raunte Fredi neben mir und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

      »Es scheint heute sowieso Ihr problematischer Tag zu werden, Lüdenscheidt«, sagte Köhler und blickte ernst auf sein Notebook. »Zu Ihrem kleinen sanitären Problem kommt noch ein geschäftliches Problem hinzu, wenn ich mir die Aufstellung Ihrer Abschlüsse ansehe.« Alle starrten mich an wie den Papst, der die Ostermesse verpennt hatte. Blöde Bande! Der letzte Monat lief schlecht. Na und? Lief doch überall schlecht. »So? Warum denn?«

      »Tja, wie soll ich sagen, Sie fallen ein bisschen aus der Rolle, Lüdenscheidt. Bei allen anderen waren die Abschlüsse gut bis normal. Brettschneider, zum Beispiel, wunderbar, oder Frau Nerlinger.« Brettschneider, diese feiste Arschbacke, schielte lächelnd auf seine Wurstfinger und ließ die Daumen kreisen.

      »Wir hatten eine schlechte Phase«, sagte ich, »das wird…«

      »Wie, wir? Ich denke eher Sie, Lüdenscheidt.«

      »Nein, ich meinte, wir! Frau Fehrenkötter ist vor zwei Wochen in Schwangerschaftsurlaub gegangen. Wegener ist erst seit einem Monat in meinem Team. Der hat noch keine Routine. Ich denke, dass sich alles bald stabilisieren wird.« Ich hatte zwar keinen Schimmer, wie, aber ich musste diesen Choleriker beruhigen. Köhler schien es allerdings wissen zu wollen. Er fragte mich nach irgendwelchen Strategien und Ideen. Ideen hatte ich eine ganze Menge, eine Strategie hatte ich noch nie.

      »Lüdenscheidt, ich gebe Ihnen jetzt mal einen Rat, wenn Sie verstehen, was ich meine. So von Kollege zu Kollege. Es wird dringend Zeit, dass Sie die Arbeitsweise in Ihrem Team mal grundsätzlich hinterfragen. Mir fehlt da ein Konzept, mir fehlen überhaupt Erfolg versprechende Ansätze.«

      Mein Hals wurde dicker und dicker und nahm die Ausmaße von Alex’ altem Schwimmreifen an. Irgendetwas hatte dieser Idiot gegen mich. Meine Antwort war spontan, kam aber vom Herzen.

      »Sagen Ihnen eigentlich die Worte Leck mich am Arsch etwas?«, hörte ich mich fragen. Fünf Sekunden Schweigen. Alle starrten mich mit ungläubigen Blicken an. Den dämlichsten Gesichtsausdruck machte ich bei Köhler höchstpersönlich aus. Er fing sich, stand polternd auf und bellte: »Was läuft denn hier ab? Das ist doch ein schlechter Film, oder? Was glauben Sie, Lüdenscheidt, wer Ihnen hier gegenübersitzt? Ich bin es, Ihr Chef, Lüdenscheidt! Ich muss mich oben verantworten für den ganzen Bockmist, den Sie angerichtet haben und wahrscheinlich weiter anrichten, auch wenn Sie um diese Tageszeit noch nicht in der Lage zu sein scheinen, das richtig einordnen zu können. Und ich treffe hier die Entscheidungen! Und ich sage Ihnen eins, Lüdenscheidt, diese Nummer wird mit Sicherheit Konsequenzen haben.

      Darauf können Sie jetzt schon