Ulrich Paul Wenzel

Es Geht Auch Anders


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Der Bürgersteig hatte sich in ein riesiges Flaggenmeer verwandelt und sah aus wie der Pariser Champs-Elysées am 14.

      Juli.

      Vorsichtig und gefühlvoll wie ein Präservativ streifte ich die Folie über meine linke Hand. Bloß kein Loch hineinreißen! Langsam ging ich in die Knie und hielt den Atem an. Mir wurde schwindelig vom fehlenden Sauerstoff und den aufsteigenden Dämpfen. Nelson dachte an ein Spiel und stolzierte mit heftigem Schwanzwedeln vor meinem Kopf herum. Ich glaubte, ein Lächeln in seinem Blick erkannt zu haben. Den Kopf streng zur Seite gerichtet, ging ich zum Straßenrand und legte die Masse, die sich wie Knetgummi anfühlte, neben einem Autoreifen ab. Dann zogen wir zügig weiter.

      Als ich mit meinen vier Kürbiskernbrötchen, zwei Croissants und zwei Schrippen den kleinen Bäckerladen verließ, hatte Nelson, den ich draußen mit der Leine an einem Fahrradständer befestigt hatte, Gesellschaft bekommen. Ein schwarzer Riesenschnauzer mit den Außenabmessungen eines Galway-Kalbes stand neben ihm und schnüffelte an seinem Hintern. Ich hatte keine schlüssige Erklärung dafür, aber in diesem Moment fiel mir Arlette ein. Schon während der Woche hatte ich einige Male überlegt, sie anzurufen. Ich holte mein Handy aus der Tasche und suchte ihre Nummer. Auf den Gedanken, dass es vielleicht ein wenig früh sein könnte, kam ich nicht. Ich wollte gerade die grüne Taste drücken, als mich ein zähes Jaulen und Kläffen stoppte. Die beiden Vierbeiner hatten ein heftiges Spiel begonnen. Der Riesenschnauzer lag halb über Nelson, der penetrant quietschte und pfiff. Die Leinen waren unnachvollziehbar miteinander verquirlt. Mein Gott, dachte ich, die drehen sich ja gegenseitig die Luft ab. Ich musste unbedingt eingreifen. Aber wie? Einfach so dazwischen gehen?

      »Nelson, aus! Platz! Sitz! Platz!«

      Nelson hörte nicht die Bohne. Der Riesenschnauzer erst recht nicht, aber der war ja auch nicht gemeint. Nicht einmal die wichtigsten Grundbefehle hatte Lena ihrem Köter beigebracht. Ein Gartenschlauch mit ordentlichem Wasserdruck hätte jetzt helfen können.

      »Oh, was ist denn hier los?«, hörte ich eine swingende Fistelstimme von der Eingangstür zur Bäckerei. Ein drahtiger Bursche in grauen Turnschuhen, Jogginghose und weinrotem Sweatshirt tänzelte uns entgegen. Welliges längeres Haar, Studiobräune Medium und Grunge-Bärtchen. Sportlehrer, definitiv! »Borco, Schluss jetzt! Aus!«

      Der Schnauzer machte einen Satz, soweit es die verdrehte Leine zuließ, und saß umgehend wie eine in Basalt gehauene Statue, stramm ausgerichtet auf sein sportliches Herrchen mit der Brötchentüte im Arm. Genau so muss es sein, sinnierte ich. Ich sah noch eine Menge Arbeit auf Lena und Nelson zukommen. Mit einigen gekonnten Griffen löste Sporty die völlig verschlungenen Leinen der Hunde.

      »Der ist noch nicht alt, oder? Zehn Monate?«, fragte er mit Hundekennerblick.

      »Ja, ungefähr«, erwiderte ich, obwohl ich es gar nicht wusste.

      »Ein schönes Tier. Schätze mal, da ist ein Labrador-

      Retriever mit drin, hab' ich Recht?«

      »Ja, Retriever, Schäferhund und Pudel.« Es sollte ein Scherz sein. War vielleicht zu früh. Sporty lächelte nur gequält.

      »Nein, im Ernst, es ist der Hund von meiner Tochter. Wir haben ihn seit gestern Abend.«

      Mir fielen die Worte meiner ehemaligen Nachbarin in der Pestalozzistraße ein, der liebenswürdigen, etwas spleenigen Frau Hertel mit ihrem braungelockten Cocker-Spaniel: Wenn Sie Leute kennen lernen wollen, hatte sie mir einmal bei einer Tasse Tee in ihrem plüschigen Wintergarten anvertraut, dann besorgen Sie sich einen Hund. Sie glauben gar nicht, was Sie mit dem für Bekanntschaften machen. Es war eine Zeit, als mit Frauen gar nichts lief. Zweimal hatte ich mir ihren Cocker-Spaniel ausgeliehen. Der Hund hörte damals ebenso wenig wie Nelson, und kennengelernt hatte ich lediglich den Postboten, dem das Vieh ständig an die Wäsche wollte.

      »Borco ist zwei Jahre alt. Ist schon unser dritter Riesenschnauzer. Borco vom Aschenberg, Zweiter seines Wurfes. Wir haben ihn aus dem Weserbergland.«

      Mein Gott, ein Adliger aus dem Weserbergland. Der ist bestimmt für Höheres vorgesehen. Polizeihund ist mit Sicherheit nicht drin.

      »Wie ich sehe, verstehen sich die beiden ja ausgezeichnet. Wie wäre es mit einem Kaffee drüben im Café? Das hat gerade aufgemacht.« Sporty schlug mir wie einem alten Kumpel freundschaftlich auf die Schulter und setzte sich mit seinem Riesenschnauzer in Bewegung. Nelson zerrte an der Leine. Also gut, auf einen Kaffee ins Café.

      »Sagen Sie, haben Sie nicht ein paar Bouletten für die beiden?«, fragte Sporty die gerade an unserem Stehtisch vorbeistürmende Kellnerin und deutete auf die Hunde, die in der Ecke lagen wie zwei Luftmatratzen, denen man die Luft abgelassen hatte.

      »Nein, leider nicht. Sie befinden sich hier in einem Cafe und nicht in einer Eckkneipe. Aber Sie könnten ein paar Sandwichs bekommen. Schauen Sie doch mal vorne am Tresen.« Mit den letzten Worten war sie auch schon wieder durch den kleinen Spalt zur Küche entschwunden.

      »Soll ich denen Sandwichs servieren, die werden doch verwöhnt«, sagte Sporty mit einem zwinkernden Auge. »Wenn die hier wenigstens ein paar Mortadella-Schrippen hätten. Aber davon frisst allein Borco zehn Stück. In weniger als einer Minute, sag ich dir.«

      Beim Namen Borco nahm der Riesenschnauzer mit einem geräuschvollen Rasseln der Leine seine Statuenhaltung ein, wieder sauber ausgerichtet hin zum Tisch seines Herrn. Nelson drehte kurz seinen schweren Kopf, um ihn danach wieder auf seine Vorderpfoten zu betten.

      »Was machst du eigentlich so die ganze Woche über, ich meine, beruflich natürlich?«, fragte ich nach einem kräftigen Schluck Mineralwasser. Nach fünf Cappuchino und drei Besuchen auf der Toilette hatte ich mich entschieden, das Getränk zu wechseln.

      »Lehrer. Sport und Mathematik. Am Gymnasium.«

      »Da kommt man ja gar nicht richtig zum Arbeiten«, sagte ich süffisant. Wieso Carla wohl immer meinte, ich hätte keine Menschenkenntnis.

      »Ach, hör auf, die alten Vorurteile gegen Lehrer. Ich sage immer, jeder sollte sich so einrichten, wie es ihm gefällt.« Sporty lümmelte, den Kopf auf beide Handflächen gestützt, am Tisch und versuchte, mit Zeigefinger und Daumen der linken Hand eine seiner herunterhängenden Haarstränen in eine Korkenzieherfigur zu bringen.

      »War nur ein Scherz. Meine Frau ist auch Lehrerin. Englisch und Geschichte.«

      »Und du, was ist dein Job?«, fragte Sporty.

      »Finanzdienstleister.« Hörte sich gut an und sagte gar nichts. Sporty wusste damit scheinbar etwas anzufangen. »Verstehe. Aktien, Termingeschäfte, Derivate.«

      Eher Bausparverträge, Lebensversicherungen und Immobilienfonds, aber egal. »Ja, so ungefähr.«

      »Kannst du was empfehlen? Ich meine, Aktien, nicht zu spekulativ. 15.000 Euro.«

      Ich hätte doch noch einmal die Pilotennummer auspacken sollen. Vom Aktiengeschäft hatte ich keinen Schimmer. Mein eigenes Portfolio bestand aus vermeintlich ganz sicheren Werten, und alle waren sie im kontinuierlichen Sinkflug. Einige waren schon notgelandet.

      »Nicht spontan«, sagte ich mit gewichtiger Tonlage und schaute auf meine Armbanduhr. Halb zehn.

      »Bist du verheiratet?«

      »Ja. Schon zwanzig Jahre.«

      »Zwanzig Jahre? Ich glaube es nicht. Ist das nicht langweilig?« Irgendwie schon.

      »Nein, wir haben uns gut arrangiert.«

      »Und Kinder?«

      »Zwei.« Ich hielt Zeige- und Mittelfinger zu einem V hoch. »Und was ist mit dir?«

      »Eine Frau, offiziell jedenfalls, und keine Kinder.«

      »Wie, offiziell?«

      »Na, du weißt schon. Habe nebenbei hier und da noch was zu laufen.«

      »Ach so, klar.«

      »Du siehst auch nicht so aus, als wenn du die letzten zwanzig Jahre nur mit deiner Frau zusammen warst.«