Ulrich Paul Wenzel

Es Geht Auch Anders


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der Geölte und fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare. »Und schrei mich nicht noch einmal so an, das vertrag ich nämlich nicht!«

      »Ich habe gesagt, dass du das Sakko ausziehen sollst. Wir haben es uns herausgelegt und wollten es anprobieren«, erwiderte Carla wieder etwas leiser. Ich spürte ihre Spannung an den Fingern ihrer linken Hand, die nervös auf ihrem Oberschenkel trommelten. Sie sollte sich an einen netten Verkäufer wenden, dachte ich, aber es war keiner da.

      »Schau mal, Mäuschen«, sagte der Geölte und schien seine Linie auch wieder gefunden zu haben, »hier hängen ungefähr fünfhundert Sakkos in der Abteilung rum. Grüne, blaue, rote, schwarze, small, medium, large und X-large. Da werdet ihr doch wohl etwas Geeignetes finden. Es muss doch wirklich nicht dieses hier sein, oder?«

      Selbst ich spürte die ordentliche Portion Spott, die Carla in diesem Moment um die Ohren krachte.

      »Weißt du was, du Idiot, du kannst mich mal«, sagte Carla, jetzt ganz ruhig und cool, »schmier' dir das Ding in deine öligen Locken!« Sie ging ganz dicht an ihn heran und versetzte ihm einen leichten Stoß auf die Brust. Völlig überrascht und unvorbereitet ging er zurück, geriet ins Stolpern und fiel, wild mit beiden Armen rudernd, in die am Kleiderständer hängende Sakkoreihe. Genau dort, wo Größe 50 endete und Größe 52 begann, verschwand er.

      »Simon, lass uns diese Scheißabteilung verlassen, mir gefällt es hier nicht.« Carla drehte sich um und strebte auf die Rolltreppe zu. Ich trabte hinterher, mich vorsichtig umschauend, ob der Geölte uns verfolgte.

      »Sag mal, wie fandest du denn diesen Spinner? Das war ja wohl das absolute Ekelpaket. Ich brauche dringend einen Grappa.« Carla hatte unverkennbar einen nicht unerheblichen Teil ihrer frischen Gesichtsfarbe verloren.

      »Was soll ich sagen, Carla, natürlich war das ein Arschloch. Aber irgendein Anrecht auf dieses Sakko hatten wir auch nicht. Insofern vergiss es einfach.« Eigentlich musste ich dem Kerl sogar dankbar sein, hatte er mich doch vor einem unnötigen Sakko gerettet.

      »Wir gehen jetzt ins Kino«, knurrte Carla, immer noch schwer gezeichnet von den Ereignissen der letzten halben Stunde. Eine ganz blöde Idee! Ich hatte auf einen Grappa gehofft und dann nach Hause. Das war fahrlässig. Ich hätte mir Carlas Spontaneität denken können.

      Wir gingen ins City-Kino und landeten im Saal B.

      Carla liebe schwülstige Romanzen, verfahrene Beziehungsdramen und knallharte Thriller, ich stand auf Zeichentrickfilme. Der Streifen, den sie ausgesucht hatte, entsprach eindeutig der ersten Kategorie. Wir kamen spät. Selbst die Beck’s-Werbung, wo sie auf einem Segelschiff ein paar Mollen öffneten und den Sonnenuntergang in der Karibik verfolgten, der definitive Höhepunkt eines jeden meiner wenigen Kinoabende, war leider schon gelaufen. Als wir mit unseren Einkaufstüten, jeweils einer Flasche Jever und einer Riesentüte Popcorn vor Reihe 5 standen, liefen gerade die ersten Sequenzen des Hauptfilms. Unsere Platznummern 22 und 23 schienen eine Ewigkeit entfernt. Carla bahnte sich den Weg durch die Reihe. Gleich auf Platz 3 hatte sich eine Frau in die Polster gedrückt, die mich trotz der Dunkelheit an eine Fahrwassertonne in der Ostsee erinnerte. Auf ihrem Schoss hatte sie den Inhalt eines Picknickkorbes für mindestens drei ausgewachsene Personen ausgebreitet. Ich entdeckte ein Fass Popcorn, zwei Tüten Haribo-Konfekt und mehrere Schokoriegel. Mit ihren fetten, wabbeligen Wurstfingern hatte sie einen Eimer Coca Cola ummantelt. Natürlich blieb ich bei ihr hängen. Die Matrone bewegte sich kein Stück, und ich bezweifelte, dass das ohne schwerem Gerät überhaupt möglich war. Kurzfristig suchte ich nach einer Möglichkeit umzukehren, stieg dann aber unter großen Anstrengungen über sie hinweg und quälte mich weiter durch die Reihe. Unsere Plätze waren die letzten beiden am anderen Ende. Wir hätten einfach von der anderen Seite kommen sollen.

      »Sag mal, Sweety«, hörte ich Carlas gedämpfte Stimme, »können wir die Plätze tauschen? Ich kann kaum was sehen, vor mir sitzt so ein langes Elend.«

      »Ich weiß aber nicht, wo ich mit dem ganzen Scheiß hier in meiner Hand hin soll, Carla«, raunte ich zurück, »aber wir können es ja…«

      »Ihr könntet mal die Klappe halten!«, zischte es von hinten und es folgte ein anklagendes Gestammel. Carla murmelte etwas wie fuck off und stand in gebückter Haltung auf, während ich mich, die raschelnden Einkaufstüten mit Carlas Slips und meinen Socken in der Hand, auf ihren Sitz zwängte. Meine Bierflasche fiel mit einem gedämpften Poltern zu Boden und entleerte sich in Richtung Nebensitz.

      »Sagen Sie mal, wie lange geht das noch so?«, hörte ich meine Nachbarin und spürte einen giftigen Blick durch die Dunkelheit.

      »Entschuldigung, ich bin gleich fertig«, versuchte ich sie zu beruhigen und hoffte inständig, dass wir beim Verlassen des Kinos nicht von allen möglichen Leuten angefallen werden.

      Da mich der Film nicht interessierte, machte es mir auch gar nichts aus, dass ich auf meinem neuen Platz genauso wenig sah, wie vorher Carla. Dafür spürte ich eine Sitzfeder im Hintern, was mich an lange zurückliegende Kinobesuche erinnerte. Das waren damals noch richtige Events! Wir kannten uns fast alle in dem kleinen Kinosaal im Cinema am Ostertorsteinweg in Bremen. Das Kino lag unter einer erdrückenden Wolke von Gras und Haschisch. Gequatsche, Gekicher oder ordinäres Rülpsen begleiteten jeden Film. Bei Musikfilmen wie Woodstock ging die Post ab. Die bekiffte Menge im Saal gab Szenenapplaus und einige Typen spielten mit ihren Beck’s-Flaschen Luftgitarre zu Ten Years After oder Jimmi Hendrix.

      Meine linke Hand glitt zu Carla hinüber. Ich krabbelte mit den mittleren Fingern von ihrem rechten Oberschenkel zum Knie hinunter und wieder zurück. Carla ignorierte es tapfer. Nachdem sechsten oder siebten Mal versuchte ich es mit einer anderen Route. Ich krabbelte in Richtung Schambein.

      »Werd’ nicht albern, Simon«, raunte sie, ohne den Kopf zu wenden, »ich möchte mich auf den Film konzentrieren.« Ich zog die Hand zurück und trank das in der Flasche verbliebene, lauwarme Bier mit einem Schluck aus. »Weißt du, wie lange der Film noch läuft, Carla?«

      »Der hat doch gerade erst angefangen. Wenn dir langweilig ist, Simon, warte draußen im Foyer auf mich.«

      »Entschuldigen Sie, würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn Sie nachher über den Film diskutieren? Wir verstehen sonst nämlich nur die Hälfte«, hörte ich eine kräftige männliche Stimme hinter uns. Was gibt es denn bei diesem dämlichen Streifen zu verstehen, dachte ich ärgerlich.

      »Carla, ich muss mal zur Toilette«, sagte ich laut und stand auf. »Und dann warte ich draußen auf dich. Viel Spaß noch.«

      Auf dem Weg zum Foyer konnte ich eine wilde Verfolgungsjagd in Saal C und ein schwülstiges Liebesdialog in Saal A simultan verfolgen.

      »Entschuldigung, haben Sie WLAN?«, fragte ich das blonde Mädchen am Ticketschalter. Ich wollte die Zeit nutzen und einen ersten Blick auf die Kontaktbörse werfen, von denen Sporty so begeistert war.

      »Ja, aber nicht für Gäste.« Sichtlich verdattert schaute die Kleine mich an.

      »Haben Sie einen Fernseher?«

      »Was sollen wir hier im Kino mit einem Fernseher?« Ihr Blick bedeutete mir: Wenn du einen Arzt brauchst, sage es mir einfach.

      »Ich verstehe. Mal eine andere Frage: Wann ist der Film im Saal B zu Ende?«

      Sie blickte kurz auf ihr Programmblatt.

      »Um 22:15 läuft die Spätvorstellung, so gegen 21:50 ist Schluss.«

      »Dann hätte ich gern noch ein Jever

      Ich blätterte gelangweilt in den herumliegenden Programm-Flyern. Dann ging ich durch das Foyer und schaute mir die Filmplakate an. Unser Film hieß »Verstehst du das, Liebling?«. Schon bei diesem Titel bereute ich keine Sekunde, die ich verpasste. Ich dachte an Arlette. Vielleicht sollte ich sie doch einmal anrufen. Ein Anruf konnte nicht schaden. Sie erwartete meinen Anruf ja geradezu, warum hätte sie mir ihre Telefonnummer sonst geben sollen? Noch während ich mit meinen Gedanken bei Arlette war, wurde es um mich herum beängstigend voll. Saal B entließ seine Gäste, die tonlos und mit leuchtenden oder feuchten Augen an mir vorbeipilgerten.