Ulrich Paul Wenzel

Es Geht Auch Anders


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mein Wohlbefinden für das ganze Wochenende aufs Spiel setzen? Ich probierte auf die sanfte Tour, etwas konkreter zu werden. »Na ja, Carla, das Top sieht wirklich gut aus. Mit dem Rock solltest du vielleicht warten. Ich denke, da findest du noch etwas Besseres.«

      »Was du immer hast. Was gefällt dir denn nicht an diesem Rock? Ist doch mal was anderes.«

      »Mir gefällt er eben nicht so gut. Du hast mich gefragt und das ist meine Antwort. Meine ganz subjektive Meinung. Aber wenn er dir gefällt, dann nimm ihn doch einfach mit.«

      »Ich will den Rock nicht einfach nur mitnehmen! Ich will, dass das, was ich mir kaufe, auch dir gefällt.«

      Als wenn das jemals eine Rolle spielte. Über die Hälfte ihrer unzähligen Klamotten in unserem zwei Meter hohen und mehr als vier Meter breiten Schlafzimmerschrank, von dem sie mir gerade einmal einen Meter zustand, bedurften nach meinem persönlichen Dafürhalten einer intensiven Erläuterung. »Mach doch, was du willst, Carla, nur mach was.«

      »Du bist nicht gut drauf, Simon, das merke ich«, knurrte sie, während sie in dem eigenartigen Fummel mit den Etiketten und Preisschildern vor mir stand wie eine nur halb dekorierte Schaufensterpuppe, »vielleicht sollten wir wieder nach Hause fahren.«

      Ihr letzter Satz veranlasste mich fast zu einem Freudensprung. »Wieso bin ich nicht gut drauf? Du wolltest meine Meinung hören, Carla, meine ehrliche Meinung, und du musst auch mal damit umgehen können, dass mir etwas nicht gefällt.«

      Ich wünschte mir in diesem Augenblick eine dieser Verkäuferinnen, die sonst immer zur Stelle waren, wenn man sie nicht brauchte. Ich wünschte mir ihre Phrasen: »Wenn ich Ihre Figur hätte, würde der Rock nicht mehr hier hängen. Sie sind wirklich eine der wenigen Frauen, die diesen Rock tragen kann.« Wir wären schon längst an der Kasse oder schon draußen.

      »Gut Simon, ich überleg es mir noch einmal.« Carla drehte sich spontan um und verschwand, eindeutig weniger schwungvoll als sie herausgekommen war, in der Umkleidekabine. Exakt anderthalb Minuten später kam sie wieder zum Vorschein. Ihre Augen sprachen: »Das ist heute ein absoluter Scheißtag!« Wir verließen den Laden, Carla vorweg und ich mit einem Abstand von ungefähr zwei Metern hinterher.

      Dummerweise erholte Carla sich schnell. Ich hatte darauf spekuliert, sie würde das umsetzen, was sie kurz hatte anklingen lassen und die Tournee abbrechen. Wir würden nach Hause fahren, den Fernseher einschalten und irgendwann einschlafen. Tatsächlich hatte sie einen neuen Einfall, der so neu auch nicht war, mich aber trotzdem auf dem falschen Fuß erwischte. »Wir schauen jetzt mal, ob wir für dich etwas finden, Sweety.«

      »Ich habe alles, Carla.«

      »Komm Simon, irgendetwas finden wir schon.« Das irgendetwas irritierte mich und ließ in mir das ungute Gefühl aufkommen, dass sich jetzt alles noch verschärfen könnte.

      »Du solltest dir wieder mal ein neues Sakko zulegen, Sweety«, begann sie noch auf der Rolltreppe in den zweiten Stock von Wertheim, und ihre Augen hatten wieder Glanz angenommen. »Denk an deinen Job. Die beiden, die du hast, sind ein bisschen langweilig geworden, findest du nicht auch?« Wie kam sie denn darauf?

      »Ich weiß nicht, Carla, ich habe eigentlich gar keine Lust auf ein neues Sakko. Ich denke, da muss man sich mehr Zeit nehmen und auch in andere Geschäfte schauen. Vielleicht nächstes Wochenende?«

      »Nächstes Wochenende? Wir haben doch heute Zeit genug. Komm, Sweety, das ziehen wir jetzt durch, nicht nächstes Wochenende.« Ich hatte den niederschmetternden Eindruck, Carla hatte gerade wieder ihre Betriebstemperatur erreicht.

      »Aber das ist hier so unübersichtlich. Wir brauchen bestimmt eine Stunde, nur um einen Überblick zu bekommen.«

      »Ach was, das geht ganz schnell, Sweety, glaub es mir. Ein wenig kennen wir uns ja auch aus.« Es war schon rührend, wie sie mich in ihre Kompetenzzuteilung mit einschloss. Wir rollten der Herrenabteilung entgegen. Schon der Anblick der schier endlosen Kleiderreihen verursachte eine atmosphärische Störung in meiner Magengegend. Carla steuerte direkt von der Rolltreppe aus auf eine lange Reihe von Sakkos zu, die sie in einer geschätzten Entfernung von fünfzig Metern gesichtet hatte. Schon diese Orientierung und ihr Gespür für das Wesentliche waren in meinen Augen bemerkenswerte Leistungen. Ich schlenderte in dem deprimierenden Bewusstsein hinterher, nicht den Hauch einer Chance zu haben, den Lauf der Dinge irgendwie bremsen zu können. Als ich Carla erreichte, hatte sie schon zwei Sakkos aus der Reihe gezogen und über die anderen gelegt. »Wie findest du so etwas, Sweety? Probier' doch mal.«

      Ich hielt es für angebracht, nicht direkt darauf zu antworten. Mit beiden Teilen hätte ich im Zirkus auftreten können. Ich wurde das schon lange in mir verankerte Gefühl einfach nicht los, es wäre irgendeine Art Rache von Carla, mir irgendwelche Sachen zu verpassen, mit denen ich überall den Kasper geben konnte. Ich sollte sie mal fragen, was ich ihr getan habe, stattdessen fragte ich: »Welches zuerst, Carla? Dieses Gesprenkelte mit den Riesenknöpfen?«

      »Ja, das finde ich echt scharf.«

      Warum werden andere Frauen im Alter seriös und gemäßigt und Carla nicht, dachte ich und zog das schwarz-weinrote Teil an. Warum steht sie auf Sachen, mit denen man überall, wo man erscheint, das pure Vergnügen hervorruft? Warum nicht einmal etwas Klassisches, etwas weniger Ausgefallenes?

      »Wo ist denn ein Spiegel, Carla? Ich glaube, ich sehe aus wie ein Clown.«

      »Red' doch nicht so einen Blödsinn. Du siehst rattenscharf aus, Sweety. Das Ding kannst du gleich anlassen. Ich geh’ mit dem Anhänger zur Kasse und deine alberne Cordjacke lassen wir uns einpacken oder entsorgen.« Hilflos sah ich mich nach einem Spiegel um.

      »Und erzähl’ nicht, dass es unter den Armen spannt, Simon, das tut es nämlich nicht! Das sehe ich von hier. Es ist genau deine Größe.«

      Wir gingen zu einem Spiegel am anderen Ende des Ganges.

      »Carla, ich sage dir ganz ehrlich, mit diesem Ding habe ich ein Problem.«

      »Wieso hast du damit ein Problem?«

      »Ich weiß nicht, zu welcher Gelegenheit ich das anziehen soll.«

      »Das kannst du zu jeder Gelegenheit anziehen. Das kannst du auch in der Firma tragen.«

      Ganz Unrecht hatte sie nicht. In meiner Firma gab es ein paar trendige Spinner, die auf solche Sakkos abfuhren. Die kamen vor ein paar Jahren mit ihren zusammenklappbaren Aluminium-Tretrollern ins Büro, die kurze Zeit darauf von der Geschäftsführung verboten wurden, weil einer dieser Kauze gegen die riesige Phoenix-Palme im Eingangsbereich gekarrt war und drei Wochen aufgrund zwei gebrochener Finger der rechten Hand keine Verträge schreiben konnte.

      »Carla, versuche bitte nicht, es mir einzureden!«

      »Na gut, Simon, zieh es aus. Wir probieren das andere.« Sie stolzierte zur Kleiderreihe zurück. Aber das andere Sakko war nicht mehr da! Ich spürte eine spontane Erleichterung. Carla wühlte hektisch in der Reihe herum und suchte mit wilden Kopfbewegungen die Gegend ab. Dann schien sie es entdeckte zu haben.

      »Simon, ich bin gleich wieder da«, rief sie und steuerte mit zügigen Schritten einen zweiten Spiegel an, vor dem ein jüngerer Mann gerade das von Carla kurz zuvor ausgesuchte Sakko anprobierte und ein Gesicht machte wie ein Pfau, der zum ersten Mal sein Rad aus Federn sah. Mir wurde die Problemlage umgehend deutlich und instinktiv zog ich den Kopf ein. Wenn Carla in diesem Tempo auf ein Ziel zusteuerte, konnte es schon mal ordentlich krachen. Ganz bedächtig schlich ich hinterher.

      »Findest Sie nicht, dass mir das Sakko auch ganz gut steht?«, hörte ich den Typen zu Carla sagen, als ich eintraf. »Eigentlich gibt es nichts, was mir nicht steht, aber dieses Sakko mit dem etwas schrägen Muster hat doch wirklich was, oder?« Er schaute Carla durch den Spiegel an. Schwarze geölte Haare, vielleicht 15 Jahre jünger als ich und meine Statur.

      »Ich denke, Sie finden eins, das noch besser sitzt! Also, geben Sie das Sakko her.« Carla blieb bemerkenswert verbindlich. Der Geölte reagierte nicht.

      »Du sollst das Sakko ausziehen, du Scheißer«, schrie Carla plötzlich,