Ulrich Paul Wenzel

Es Geht Auch Anders


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aus der Küche direkt ins Bad.

      Was gab es noch zu sagen?

      Mein Weg führte aus der Küche direkt ins Schlafzimmer. Das zweite Mal am heutigen Abend. Zwei Fragen hinderten mich nachdrücklich am Einschlafen: Will Arlette etwas von mir? Und wohin mit der Karte, auf die ich noch nicht einmal einen Blick geworfen hatte?

      Mir kamen Zweifel an ihrem Interesse an mir. Die spielte in einer ganz anderen Liga. Daran änderte auch meine Piloteneinlage nichts. Trotzdem wollte ich die Karte nicht einfach so vernichten. Wie hatte sie gesagt? Vielleicht brauchst du sie ja mal. Klang zwar nach Rechtsschutzversicherung, war aber spannend. Spontan fiel mir in unserer Wohnung kein Ort ein, der vor Carlas Gespür sicher war. Wenn Carla die Karte in die Finger kriegte, konnte ich mich nach einem guten Scheidungsanwalt umsehen. Und Carla hatte schon viele Dinge aufgespürt, von denen ich glaubte, sie wirklich gut versteckt zu haben oder dass sie gar nicht mehr existierten. Die Nacktfotos meiner Jugendliebe Brigitte zum Beispiel, die ich am Boden unseres Laserdruckers mit Tesafilm befestigt hatte, oder den 2000er Millenniums-Katalog von Beate Uhse, den ich in die unterste Schublade meines Schreibtisches, unter einem normalerweise undurchdringlichen Haufen Akten, alten Rechnungen und Schreibmaterial deponiert hatte. Oder die Kondome mit Erdbeergeschmack, die ich vor zwei Jahren von Andy geschenkt bekommen hatte und in meiner alten Fototasche auf dem Kleiderschrank verschwinden ließ. Carla brachte die brisanten Dinge alle zum Vorschein. Mit triumphalem Gehabe. Sie legte die Teile immer auf den Küchentisch, setzte sich mit einem fragenden Blick an die Zimmerdecke dazu und trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte herum. Dann gab sie mit mitleidsvollem Unterton Sätze zum Besten, wie: Ich mache mir wirklich Sorgen um dich, Sweety, dein pubertäres zweites Ich hat wieder zugeschlagen, oder: Solltest du Bedarf verspüren, können wir uns gern mal mit einem Entwicklungspsychologen zusammensetzen. Aber diesmal war die Lösung ganz einfach. Glaubte ich zumindest. Mein Adressbuch im Handy.

      Carla lag neben mir im Bett und rasselte, als litt sie an feuchtem Asthma. Ich rollte mich vorsichtig aus dem Bett, fischte die Visitenkarte aus der Hosentasche und schlich ins Arbeitszimmer. Glücklicherweise hatte sie die Nummer mit einem Kugelschreiber noch einmal auf die Rückseite geschrieben. Die klein gedruckte Nummer auf der Vorderseite hätte ich nur mit meiner Lesebrille entziffert und ihre Personalagentur interessierte mich wirklich nicht. Nachdem ich die Telefonnummer unter dem Namen Dr. Kranz – den gab es tatsächlich einmal – abgespeichert hatte, zerlegte ich die Karte in Moleküle und ließ sie in den Mülleimer rieseln. Zufrieden ging ich zurück in mein Bett.

      2

      Am folgenden Samstag feierten wir zwar keine weitere Party, aber wir hatten wieder einen Gast. Der blieb dafür gleich eine ganze Woche. Obwohl Carla ständig Gäste um sich herumhaben konnte, war der Fall diesmal etwas anders gelagert. Unser Gast war Lenas schwarzer Mischlingshund Nelson. Unsere Tochter, sie wohnte seit einem halben Jahr in einer Zweizimmer-Wohnung in Friedrichshain, war mit ihrem neuen Freund nach Barcelona geflogen und Nelson war für Städtebesuche nicht geeignet.

      Nun war es so, dass Carla für alles Mögliche einen Sinn hatte, ausgenommen waren nur ein paar ganz unwesentliche Dinge…und Hunde. Meine exklusive Zuständigkeit für Nelson drängte sich geradezu auf. Der Hund schien das geahnt zu haben. Um halb acht holte er mich an diesem Samstagmorgen mit seiner warmen, schleimigen Zunge aus dem Tiefschlaf. Der faulige Geruch verschiedener Fleisch- und Fischsorten führte dazu, dass ich nur Sekunden später hellwach war, was mir an anderen Sonntagen noch nicht einmal bis zum Nachmittag gelingen wollte. Ein paar Augenblicke später saßen wir nebeneinander im Bad, ich auf dem Klo und Nelson auf den mattgrauen Fliesen neben mir. Mit den kräftigen, nicht ganz taktfesten Schlägen seines buschigen Schwanzes bewegte er Carlas verchromte Klobürstenhalterung an der gefliesten Badezimmerwand entlang und irgendwann kippte sie um. Mein Blick klammerte sich wie jeden Morgen auf dem Klo an die stahlgebürsteten Badregale und ich realisierte ein weiteres Mal, wie sich Zeiten geändert hatten. Vor 25 Jahren, ich dachte oft an die Zeit vor Carla zurück, waren meine Badezimmereinrichtungen immer schlicht und spartanisch gehalten. Meistens saß mir Frank Zappa gegenüber. Nackt und auch auf dem Klo. Es war mein Lieblingsposter. Ich schleppte es damals in jede WG mit und platzierte es im Badezimmer; wenn es irgendwie ging, direkt gegenüber dem Klo. Seit ich mit Carla zusammenwohnte, starrte ich nur noch auf Feuchtigkeitscremes, Bodylotionen, Haarkuren, Schminkpinselchen, Mitesserspiegel und Puderdosen. Das Badezimmerinterieur, inklusive der sorgfältig aufeinander abgestimmten Handtuchfarben, violett oder meeresgrün, entsprang allein Carlas ausgeprägtem Gestaltungsdrang. Ihr Schlüsselwort war Feng Shui. Feng Shui war ein Eckpfeiler von Carlas Lebensphilosophie und beherrschte fast alle Zimmer unserer Wohnung. Als sie Feng Shui zum ersten Mal erwähnte, glaubte ich, es handele sich um ein chinesisches Dosengericht wie Chop Suey oder Nasi Goreng. Das war zu kurz gedacht, Carla reagierte pikiert. Feng Shui ist Leben auf anderen Ebenen, wie sie mir auf meine vorsichtige Nachfrage hin in einem zwanzigminütigen Referat erklärte, obwohl fünf bis sieben Minuten völlig ausgereicht hätten. Der Mensch hat Einfluss auf seine Umgebung, aber die Umgebung hat auch Einfluss auf den Menschen, war die Botschaft, die ich mitgenommen hatte.

      »Gehst du zu OBI, Sweety?«, grunzte Carla verschlafen, als ich nach dem Duschen im Schlafzimmer erschien, um mich anzuziehen.

      »Es ist noch nicht mal neun Uhr. Was soll ich um diese Zeit bei OBI? Ich gehe zum Bäcker.«

      »Nimm bitte den Köter mit, ja? Der muss unbedingt raus.«

      »Was glaubst du, warum ich jetzt schon zum Bäcker gehe, Carla? Nur wegen Nelson.«

      Wie zur Bestätigung vernahm ich ein zufriedenes Knurren des Hundes, während sein schwarzer Schwanz wieder rhythmisch zu schlagen begann, diesmal gegen Carlas überquellenden Wäscheständer hinter der Schlafzimmertür.

      »Und denk an die Hundehandschuhe, Sweety.«

      »Was für Hundehandschuhe?« Ein Blitz durchschoss mein noch müdes Hirn.

      »Du weißt schon, für Nelsons Geschäft. Wir hatten am Freitag mit Lena darüber gesprochen.«

      »Aber wieso denn…«

      »Du kannst die Scheiße doch nicht auf der Straße liegen lassen. Das kostet mittlerweile richtig viel Geld. Die Hundehandschuhe, die Lena mitgebracht hat, liegen bei den Putzmitteln im Schrank hinter der Tür.«

      Nach Nelsons Maulgeruch vor zwanzig Minuten wurde mir ein zweites Mal schlecht. Innerlich bäumte ich mich auf, sah aber gleich einen Ausweg. Ich würde ihn in den Rhododendronbüschen vor dem Kinderspielplatz auf der anderen Straßenseite abladen lassen, dachte ich und glaubte, eine befriedigende Lösung gefunden zu haben. Es erschien mir jedenfalls unproblematisch und die Hundehandschuhe würden gar nicht zum Einsatz kommen.

      Natürlich kackte Nelson nicht in den Rhododendronbüschen. Ohne jegliche Vorwarnung senkte er, noch bevor die Büsche überhaupt zu sehen waren, mitten auf dem Bürgersteig, höchstens zwanzig Meter von unserem Hauseingang entfernt, seine kräftigen Hinterbeine und brachte den Schwanz in eine waagerechte Stellung. Sein verklärter, schielender Blick signalisierte definitive Bereitschaft zum Abwurf. Mich ergriff Panik. Instinktiv befummelte ich die Zellophanhandschuhe in meiner Tasche während Nelson ganze Arbeit verrichtete. Nachdem der Hund seinen wunderschön geformten Haufen noch einmal genauer besichtigt und beschnüffelt hatte, setzte er sich daneben und schaute mit aufforderndem Blick zu mir hoch. Ich überlegte, was er mir sagen wollte. Wahrscheinlich: Mach das weg oder lass uns schnell Leine ziehen, bevor jemand kommt. Nein, dieses braune Prachtstück musste verschwinden! Mir fiel meine ehemalige Wohnung in der Genter Straße im Wedding ein, wo der Bürgersteig ständig mit Tretminen dieser Art so flächendeckend belegt war, dass man auf die kotfreien Felder fast hüpfen musste. Und trotz aller Vorsicht hatte ich mindestens einmal im Monat einen gigantischen Fladen an der Schuhsohle. Meistens passierte das am Wochenende, wenn ich müde und betrunken von meinen Touren am frühen Morgen nach Hause kam und mich außer meinem Bett nichts interessierte. Bemerkt hatte ich es meistens erst am Nachmittag, wenn sich bestialischer Gestank in der Wohnung entfaltete und sich im Sommer größere Mengen von grünschillernden Fliegen eingefunden hatten. Irgendjemand hatte einmal jeden