Susanne Sievert

Sternstunde


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durch“, er schluckte schwer. Sein Adamsapfel hüpfte auf und ab. „Beende es. So viele Tote. Töte mich und schmeiße mich mit auf den Haufen. Einer mehr oder weniger, was macht das schon?“

      Er sprach genau das aus, was ich zuvor dachte. Ahm Fen applaudierte und hoffte auf ein aufregendes Schauspiel. Aber ich konnte es nicht und ließ den Dolch sinken. War er, so wie ich, unfreiwillig in den Krieg geraten? Wenn ja, was sollten wir dann tun? Einfach gehen? Zwei unglückliche Gestalten in einer kalten, beherrschten Welt.

      „Nein“, antwortete ich. Aus den Augenwinkeln entdeckte ich meine Freundin, die von der Zeltwand hinab geklettert kam, um sich am Festmahl zu erfreuen. Ihre Anwesenheit beruhigte mich. So klein und doch so gefährlich.

      „Nein?“, fragte er und stellte sich an meine Seite. Zusammen sahen wir seinen Kameraden beim Sterben zu, bis auch das letzte Stöhnen verstummte. Ich hörte den schweren Atem des jungen Soldaten. Ein paar Schluchzer hier, ein paar Tränen dort. Dann war es vorbei.

      „Einfach nein“, flüsterte ich und kämpfte mit meinen eigenen Tränen und meiner Zerrissenheit. Welch passenden Namen mein Vater doch für mich erwählte.

      Noch in derselben Nacht brannten wir das Zelt des Hauptmannes mit all seinem Hab und Gut nieder. Der junge Soldat half mir wortlos und ich nahm seine Hilfe ebenso stumm an. Das Einzige, was ich für mich beanspruchte, war eine Karte des Landes, um mich selbst auf der Reise zurecht zu finden und eines der herrenlosen Pferde.

      Während ich vor dem brennenden Zelt stand, drückte ich ein letztes Mal den Beutel an mein Herz, sang ein Gebet für meine Landsleute und warf ihn anschließend ins Feuer. Nun waren ihre Seelen frei und ich fühlte statt Trauer Freude. Freude darüber, einen Weg gefunden zu haben, ihnen eine Weg zu den ewigen Gefilden zu ebnen, der mir versagt sein wird. Es war mein eigenes Verschulden, meine eigene Entscheidung. Ahm Fen sagte nichts und überließ mir diesen Moment ganz für mich allein.

      Das Feuer brannte herunter. Ich sattelte das Pferd und erinnerte mich an den ersten Ausritt mit meiner Mutter, wie jung und unbeholfen ich doch war. Sie war stets geduldig und großmütig. Entschuldigte meine Fehler schnell und mit einem Lächeln das sagte: Beim nächsten Mal klappt es besser. Ich war so sehr in meinen schweren Gedanken vertieft, dass ich den jungen Soldaten vergaß, der ebenfalls ein Pferd sattelte und mir erwartungsvoll entgegen blickte.

      „Und nun?“, fragte er mit Ruß geschwärzten Gesicht. „Was ist mit uns?“

      „Mit uns?“, wiederholte ich mehr als irritiert. „Was soll mit uns sein?“

      Er wirkte gekränkt, verloren, und ich verstand nicht warum. Ich hatte ihn verschont. Was wollte er da noch von mir?

      „Ich weiß auch nicht... Wohin reitest du? Ich könnte dich ein Stück begleiten“, unbeholfen führte er das Pferd an meine Seite. „Wir sind frei. Wir können überall hin, verstehst du?“

      „Frei?“, fragte ich und mein Herz gefror zu Eis.

      Ahm Fen lachte in meiner Brust und spottete: Du hättest ihn töten sollen, als du noch die Gelegenheit dazu hattest.

      „Ja, frei. Oder glaubst du, wir befinden uns alle freiwillig in diesem Krieg? Na schön, einige Männer gewiss. Der finstere König zahlt gut, aber ich gehöre nicht zu den Menschen, denen Geld wichtiger als das Leben selbst ist. Das viele Blut, die Schreie und Kämpfe. Es reicht. Ich will nach Hause.“

      „Halt doch mal dein Maul“, herrschte ich mit funkelnden Augen und nun war der junge Soldat an der Reihe mich unverständlich an zu glotzen. „Von welcher Freiheit sprichst du? Mein Volk wurde vernichtet und unzählige Dörfer werden noch leiden. Solange der finstere König lebt, solange wird es keine Freiheit geben. Es gibt kein uns. Ich sehe dich an und sehe die schwarze Rüstung des Feindes. An deinen Händen klebt das Blut meiner Brüder und Schwestern. Ihr habt mir alles genommen. ALLES!“

      Sein Gesicht färbte sich rot. Beschämt blickte er auf seine Rüstung und dann zu mir.

      „Meinst du, du bist die Einzige, die etwas oder jemanden verloren hat?“, er schwitzte und sein Geruch bereitete mir Übelkeit. Es war an der Zeit zu gehen, solange Ahm Fen nicht die Überhand ergriff und der Spinne ein Dessert zubereitete. Ich blickte über seine Schulter hinweg und sah, wie sie sich an den Leichen zu schaffen machte. Ein Gefühl verriet mir, dass die Spinne jedes Wort verfolgte.

      „Wage es nicht mir zu folgen“, drohend senkte ich meine Stimme. „Begegnen wir uns wieder, dann werde ich dich töten. Du bist mein Feind und ich bin deiner.“

      Wütend trat ich dem Pferd in die Seite. Das arme Tier wusste nicht, wie ihm geschah und galoppierte schnaubend davon.

      „Ich bin Yeleb“, schrie der Soldat mir ein letztes Mal hinterher.

      „So ein Dummkopf“, murmelte ich.

      Ein elender Dummkopf mit dem Namen Yeleb.

      In meinem Traum wanderte ich durch dichten Nebel, vernahm das Geräusch von rollenden Blitzen und tosendem Donner. Von Angst getrieben lief ich blind weiter, bis der Nebel sich mit einem ohrenbetäubenden Peitschen lichtete.

      Ich befand mich inmitten einer Bergkette, umzingelt von Stein, Donner und Poltern. Schützend hielt ich meine Hände an die Ohren, blickte im Schmutz kniend nach oben. Die Berge reichten bis zum Himmel hinauf, und ich fühlte mich so klein und verloren wie noch nie zuvor in meinem Leben.

      Plötzlich bewegte sich die Erde, nein, es waren die Berge! Es knirschte und polterte, als sie sich in Bewegung setzten, und ich erkannte, dass es die Berge waren, die donnerten und polterten – nicht der Himmel. Sie redeten miteinander.

      Bergriesen! Meine Tante behielt recht. Ich hatte sie gefunden, lief nun mit ihnen zusammen zu den ewigen Gefilden. Welche Freude! Welcher Segen! Endlich befand ich mich in Sicherheit.

      Dann entdeckte ich sie. Ihre langen, leuchtend roten Haare wehten im Wind wie loderndes Feuer, und ihre Gestalt wirkte inmitten der Riesen so klein, wie ich mich fühlte.

      Bakta lief nur eine Armlänge vor mir – gekleidet in Gold und kostbarster Seide. Ich rief ihren Namen, folgte ihren Spuren im Gras. Doch sie vernahm weder meine Stimme, noch drehte sie sich nach mir um und je schneller ich rannte, desto mehr entfernte ich mich von meiner Tante und den Riesen.

      Zunächst schrie ich voller Verzweiflung Baktas Namen, dann verfluchte und beleidigte ich die Riesen in höchsten Tönen in der Hoffnung, sie kehrten um. Doch alle Rufe und Flüche blieben ungehört, und ich erkannte, dass sie ohne mich in die ewigen Gefilde zogen. Ich gehörte nicht mehr zu ihrem Volk. Sie wandten sich von mir ab.

      Meine Stirn brannte so heiß wie die Tränen auf meinen Gesicht. Ein letztes Mal schrie ich Baktas Namen und beobachtete ihre Gestalt, wie sie im Nebel verschwand.

      Das Geräusch von aufeinander schlagenden Steinen riss mich aus meinem Traum. Halb im Traum und halb in der Wirklichkeit wischte ich mir den Schweiß von der Stirn.

      Ein Traum, flüsterte Ahm Fen. Vor dir liegt ein ganz anderer Weg. Wir erschaffen uns unsere eigene ewige Gefilde, mein Kind. Wir werden die Herrscher sein. Was kümmern uns Mythen und Legenden, wenn wir die Welt in den Händen halten können?

      Ahm Fen sprach von immerzu von Blut und Macht. Sie sprach für uns beide, versprach den Himmel auf Erden und fragte nicht mit einer Silbe, ob ich den Weg mit ihr gehen wollte.

      Ich weiß es nicht, gestand ich mir heimlich ein. Denn die Wahrheit war ganz einfach: Ahm Fen ängstigte mich. Wie weit würde sie mit mir gehen?

      Erneut weckte das Geräusch von aufeinander schlagenden Steinen mein Interesse, und ich pirschte mich trotz der Warnungen meiner Göttin mit einer Waffe in der Hand durch Dreck und Sträucher. Geräuschlos schob ich Äste beiseite, erhaschte einen freien Blick auf eine Lichtung. In der Ferne entdeckte ich ein altes Weib, das mit Feuersteinen ein Feuer entfachte. Die Flammen schossen in den Himmel und mein Gefühl sagte mir, dass es sich um kein natürliches Feuer handelte. Wer war diese alte Frau, die mit einfachen Steinen solch ein Inferno entfachen konnte?

      Alte Vettel!,