Susanne Sievert

Sternstunde


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Weiter, mein Kind. Was interessiert uns ein altes Weib.

      So gerne ich meiner Göttin auch gehorchen wollte, so sehr zog es mich zu der alten Frau. Ohne auf meine Deckung zu achten, trat ich hinter den Büschen hervor, und schritt so selbstsicher, wie mein Körper es erlaubte, der Fremden entgegen.

      Aus der Ferne schätzte ich ihre Statur falsch ein. Vor mir ragte eine Riesin empor, so groß und mächtig wie ein Felsbrocken und ebenso stark mit dem Erdboden verbunden. Ihre Haut glich weißem, kantigen Stein, ihre Augen glänzten so schwarz und tief wie die Nacht und das graue Haar floss wie Wasser an ihrem Körper hinab in das Erdreich.

      Ein einziger Blick aus ihren schwarzen Augen verbannte Ahm Fen in den hintersten Winkel meiner Seele und offenbarte das schwache Mädchen, welches ich in Wirklichkeit war. Ohne den lähmenden Schatten meiner Göttin fanden alle Gefühle, die ich seit Anbeginn meiner Reise in mir trug, den Weg zu mir empor, und ich brach unter ihrer Last zusammen. Die Alte murmelte unverständliche Worte. Ich brach zusammen, unfähig, mich gegen ihren Zauber zu wehren. Ich fühlte mich verloren.

      Ihre Worte rissen ein Loch in meine Seele. Sie erschuf einen Abgrund, der alle meine Gefühle verschlang und ein Feuer in meiner Brust entfachte. Es fraß zunächst meine Freude, die Liebe zu meiner Familie und meinem Volk, dann meine Zuneigung und mein Mitgefühl. Und als von den wunderbaren Empfindungen keine mehr übrig blieben, verschlang es gierig meine Trauer. All die geweinten und nicht geweinten Tränen, den Kummer, meine Verzweiflung und am Ende meinen Zorn, der mein Handeln und Denken bestimmte. Je mehr der Abgrund von meinen Gefühlen fraß, desto größer und bodenloser wurde er. Es schrie danach, gefüllt zu werden. Doch was verlangte es? Die Gier hatte doch bereits alles an sich gerissen, was meine Seele bot.

      Du musst den Abgrund füllen, wisperte Ahm Fen, die hinter der Dunkelheit meiner Seele hervor kroch.

      „Füllen?“, fragte ich betäubt. „Mit was?“

      Ein Lachen streifte meine Gedanken.

      Mit Blut, mein Kind, antwortete sie höchst erfreut. Mit Blut.

      Anklagend hob ich meinen Blick. Das alte Weib hatte mich verflucht, ohne dass ich auch nur ein Wort an sie gerichtete hatte. Der Dolch brannte in meiner Hand, und auch wenn die Riesin mich mit nur einem Schlag in den Erdboden rammen konnte, so verlangte der Abgrund in meiner Brust ihr Blut. Er schrie so laut danach, dass ich mich vor Verlangen krümmte.

      „Du kannst dich nicht dagegen wehren“, sprach die Alte unerwartet sanft. „Ich habe dein Rufen vernommen Udelka Häuptlingstochter. Als niemand dich hörte, bin ich deinem Licht gefolgt. Doch nun, da wir uns Auge in Auge gegenüber stehen, erkenne ich nur noch ein schwaches Flackern.“

      Ihr Mund bewegte sich, doch vernahm ich kaum ihre Worte. Auf meiner Zunge schmeckte ich ihr uraltes Blut, das so köstlich in ihren Venen rauschte. Wie das Feuer zu ihren Füßen, so stark brannte es in ihrem Körper und ich wusste, dass es mich mit den schönsten Empfindungen erfüllen würde.

      Blut, Blut, Blut. Nur diese eine Melodie bestimmte meine Gedanken.

      „Bist du eine Bergriesin?“, fragte ich und mein eigenes Blut rauschte in den Ohren. „Bist du mir gefolgt? Was willst du von mir?“

      Keine Fragen. Nimm es dir, stimmte meine Göttin in das Lied mit ein. Es gehört dir. Das alte Weib hat den Abgrund in deiner Brust erschaffen. Sie bietet dir ihr Blut an. Nimm es dir! So warm, so kraftvoll, so befriedigend!

      Meine Hand mit dem Dolch bewegte sich nach vorn. Wie in einem Traum schritt ich endlos langsam auf die Riesin zu.

      „Dir gefolgt?“, ihre Stimme klang verwundert und wenig beeindruckt von dem winzigen Messer in meiner Hand. „Ich sitze schon immer hier. Das ist meine Heimat. Ich komme aus den Bergen und eine Riesin bin ich auch. Macht mich das zu einer Bergriesin? Und was bist du? Oh, ich sehe es. Du weißt es selbst noch nicht.“

      Ihr Lachen klang rau, und die Frage was und nicht wer machte mich wütend.

      „Du hast mich verflucht“, sprach ich und vernahm kaum meine eigenen Worte.

      „Den Fluch hast du selbst herauf beschworen, als du Ahm Fen Zutritt in dein Herz gewährtest. So nennt sie sich doch, nicht wahr?“

      „Sie ist meine Göttin. Wir leben nach Ahm Fens Gesetzen! Wie könnte sie mich verfluchen?“

      „Aber, aber, kleines Wesen. Götter brauchen Menschen, aber Menschen brauchen keine Götter. Namen sind eine mächtige Waffe“, erklärte sie in Rätseln. „Ich sehe sie genau, deine Göttin oder wie auch immer du den Schmutz benennst, der deine Seele befleckt. Ihr Schatten bedeckt dein Licht. Ich öffnete nur eine Tür, hindurch gehen musst du allein. Traust du dich, Häuptlingstochter? Magst du sehen, wer du in Wirklichkeit bist? Ich sage dir: Erkenne dich selbst, Udelka. Lass nicht geschehen, dass Ahm Fen über dein Leben bestimmt.“

      Ihre knochige, steinige Hand berührte meine Stirn. Die Berührungen der Riesin kratzten hinunter bis zu meinem Hals.

      „Trenne dich von Ahm Fen“, flüsterte sie in mein Ohr. „Finde einen Ausweg.“

      „Einen Ausweg?“, fragte ich spöttisch. „Alles was ich mir wünschte, war ein Ort, an dem ich in Frieden leben kann. Ein Ort ohne den finsteren König, ohne Krieg und ohne Verwüstung. Meine Göttin erschuf aus einem kleinen, schwachen Mädchen eine Kriegerin mit einem Ziel vor Augen. Was siehst du, altes Weib, wenn du in meine Augen blickst? Ich bin ein Monster, eiskalt und mit dem Verlangen nach deinem Blut.“

      Du sprichst meiner wahrhaftig würdig!, stolz breitete Ahm Fen sich in meiner Brust aus. Die Zeit ist gekommen, das alte Weib zu vergessen. Hörst du ihr Blut rauschen? Es ist nur für dich bestimmt. Es gibt niemanden, der sich mit dir messen kann. Mit mir an deiner Seite bist du unbesiegbar – unsterblich.

      Die Riesin neigte nachdenklich den Kopf zur Seite, als könnte sie Ahm Fen ebenfalls vernehmen.

      „Du irrst sich, Udelka. Du bist kein Monster.“ Ihre Augen glühten wie die Kohlen im Feuer. „Ahm Fen missbraucht deinen Körper, um sich ihrer eigenen Leidenschaft ganz hinzugeben. Ohne Blut wird sie vergehen, und du versprichst ihr mit deinem Körper ein Dasein, von dem sie niemals zu hoffen gewagt hat. Ahm Fen nennt es Unsterblichkeit, nicht wahr? Denke nach. Möglicherweise bietet sie dir etwas an, das du längst besitzt.“

      Mein Atem raste. In meinen Gedanken vernahm ich die Riesin, Ahm Fen und die Melodie des Blutes. Ich schüttelte meinen Kopf - schlug mir gegen die Ohren, aber am Ende überrollten mich das Verlangen und der Durst nach Blut.

      Mit einem Sprung gelangte ich an die Brust der Riesin, und stach gezielt in ihr Herz. Ihre Haut war weich und sanft, nicht so steinig und hart, wie ich erwartet hatte. Das alte Weib wehrte sich nicht. Oder vermochte sie sich nicht zu wehren? Mein Blick haftete an ihren zahlreichen Wunden, die ich ihr zufügte, und Ahm Fen und ich lachten, als wir das flüssige Gold sahen, das aus der Riesin wie ein Bächlein sprudelte. Es war warm, köstlich. Während ich mich in ihrem Blut wälzte wie ein Schwein, verspürte ich solch eine Glückseligkeit wie noch nie in meinem Leben.

      Der Abgrund schloss sich in meiner Brust, und ich hielt das endlose Hochgefühl mit Freude umschlossen. Mein Lachen hallte über die Lichtung, schreckte Vögel auf und vertrieb alle Lebewesen aus meiner Umgebung.

      Dann, mit einem Schrei, riss eine unnatürliche Kraft meine Brust auseinander und der Abgrund verschlang gierig meine Glückseligkeit.

      Ich wollte weinen, doch es gab keine Tränen mehr, die ich hätte vergießen können.

      Kein Grund zur Trauer. Ahm Fen hatte das Lachen noch nicht verloren. Wir werden immer wieder Befriedigung finden, mein Kind. Immer dann, wenn uns das Verlangen packt, nehmen wir uns einfach, was wir brauchen. Niemand kann uns aufhalten.

      „Es wird niemals enden?“

      Mit Schrecken blickte ich an mir herab. Von Kopf bis zum Fuß war ich mit Blut besudelt. Es war nicht länger flüssiges, befriedigendes Gold, nein, es war das, was es eben war. Blut. Rotes, dickflüssiges Blut. Was hatte Ahm Fen mir nur angetan? Nein, was hatte ich mir