Simon Lieb

Schienengüterverkehr in der Schweiz


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      Die Innovationen sind in diesem Kapitel in verschiedene Bereiche unterteilt. Doch da sich Innovationen in einem Bereich auch auf die anderen auswirkt, kann eigentlich keine klare Abgrenzung gemacht werden. Zuerst geht es um Innovationen im Rollmaterial, dann um Verbesserungen der Produktionsformen wie dem EWLV und allgemein der SBB Cargo. Zum Schluss folgt ein kurzer Exkurs in den Strassengüterverkehr.

      «Der SGV wird heute immer noch wie vor hundert Jahren produziert», meint Peter Füglistaler. Der Fakt, dass heute immer noch die im 19. Jahrhundert entwickelte manuelle Schraubenkupplung eingesetzt wird, zeigt, dass die Güterwagen – im Gegensatz zum Personenverkehr – auf veralteten Technologien basieren. Als Folge sind die Rangiervorgänge sehr aufwändig, insbesondere im EWLV auf der letzten Meile, verbunden mit hohen Kosten und Zeitverlusten. Die geringe Produktivität ist mit ein Grund für die finanziellen Probleme und den Mengenrückgang bei der SBB Cargo. Doch es würden viele Innovationen bestehen, die nicht erst entwickelt, sondern nur noch umgesetzt werden müssten. Beim Güterwagen wird von den meisten Experten das grösste Innovationspotenzial verortet. Es besteht ein grosser Nachholbedarf an technischen Neuerungen. Nicolas Perrin meint: «Alles nachzuholen, was man in den letzten 50 Jahren nicht gemacht hat, ist zwar keine grosse Innovation, aber grosse Arbeit.» Doch während der SGV sehr lange wenig innovativ war, habe sich in den letzten Jahren etwas geändert, meint Fabio Gassmann.

      Im Folgenden werden nun die wichtigsten Innovationen im Bereich der Güterwagen beschrieben, deren Nutzen aufgezeigt und danach deren Verlagerungspotenzial abgeschätzt. In der Abbildung 22 sind die einzelnen Komponenten eines Eisenbahngüterwagens beschriftet.

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      Für den Einsatz vieler Innovationen benötigen die Güterwagen als Grundvoraussetzung eine Stromversorgung und eine Intrazugkommunikation. Erstere kann mit der sogenannten Zugsammelschiene ermöglicht werden, bei der eine Stromkabel alle Wagen eines Zuges mit der Lokomotive verbindet. Dies wird bereits im PV verwendet und kann gemeinsam mit der automatischen Kupplung eingeführt werden (vgl. nächstes Kapitel). Die Intrazugkommunikation ist ein Kommunikationssystem, das den Informationsaustausch zwischen Eisenbahnwagen und Triebfahrzeug ermöglicht, um zum Beispiel Informationen über den Bremszustand auszutauschen. Dafür müssen alle Wagen eines Zuges mit entsprechender Sensorik und Kommunikationsmitteln ausgestattet werden.

      Mit der automatischen Mittelpufferkupplung kann der Kupplungsvorgang vereinfacht und die Arbeitssicherheit im Rangierbetrieb erhöht werden, indem manuelle Kupplungsarbeiten entfallen (vgl. Abbildung 23 und Abbildung 24).

Ein Bild, das Gebäude, draußen, LKW, Mann enthält. Automatisch generierte Beschreibung Abbildung 23: Manuelle Schraubenkupplung88 Ein Bild, das Gras, draußen, Mann, Zug enthält. Automatisch generierte Beschreibung Abbildung 24: Automatische Kupplung89

      Bei der automatischen Bremsprobe werden die Bremsen aller Wagen durch den Lokführer vom Führerstand aus geprüft, wodurch das kontrollmässige Abschreiten des Zuges vor jeder Fahrt entfällt. Gemeinsam mit der automatischen Übermittlung von Zugsdaten wird die Abgangskontrolle vor jeder Fahrt vereinfacht. Bei einem 500 Meter langen Zug dauert die Bremsprobe heute 40 Minuten, automatisiert noch 10 Minuten. Abbildung 25 zeigt die heute anfallenden manuellen Tätigkeiten bei der Zugvorbereitung.

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      Als dritter Bestandteil zur Teilautomatisierung der Nahzustellung kommt der Einsatz eines Kollisionswarnsystem mit Fernsteuerung der Rangierlokomotiven hinzu. Diese Elemente der Automatisierung sollen den Ein-Personen-Betrieb ermöglichen, statt der heute üblichen zwei oder gar drei Personen. Kosten und Zeitaufwand der Zugvorbereitung können damit stark verringert werden. Ausserdem kann laut der SBB Cargo das Berufsbild attraktiver gemacht werden, da für die schweren Rangierarbeiten kaum mehr Fachkräfte gefunden würden. Bis 2020 wurden alle Güterwagen im Binnen-KV mit der automatischen Kupplung und Bremsprobe ausgerüstet. Zudem ist in den nächsten Jahren mit finanzieller Unterstützung des Bundes die Umrüstung der gesamten Wagenflotte des EWLVs mit den genannten Komponenten geplant.

      Des Weiteren meint Nicolas Perrin zum Rangierbetrieb: «Ich [kann] mir durchaus vorstellen, dass eine Person im Büro drei Lokomotiven bedient.» Von einem komplett automatisierten Betrieb gehe er hingegen - wie auch Philipp Hadorn - nicht aus. Einerseits ist es nicht sicher, ob dies technisch fehlerfrei, mit ausreichender Sicherheit und wirtschaftlich umsetzbar wäre und andererseits kann bei Fehlern nicht mehr direkt eingegriffen werden. Automatisierung ist letztlich Mittel zum Zweck: Wenn die Kosten den Nutzen übersteigen, lohnt sie sich nicht. Hingegen sehe ich - wie auch alle Interviewpartner - die Teilautomatisierung der Nahzustellung als eine der wichtigsten Schritte zur Steigerung der Produktivität des SGVs an.

      Grosses Potenzial sieht Nicolas Perrin auch in selbstfahrenden Güterwagen, die die letzte Meile autonom zurücklegen könnten. Die Technologie stehe bereits zur Verfügung. Ich denke zudem, dass dies auf dem Hauptlauf erlauben würde, die Traktionsleistung der Triebfahrzeuge zu verringern. Doch letztlich müssen die eingesparten Kosten grösser als die Mehrkosten des Antriebs und Akkus sein, damit selbstfahrende Güterwagen eingesetzt werden. Ob und wann dies der Fall sein wird, kann ich nicht mit Sicherheit sagen.

      Mit dem Einsatz von Telematik und der entsprechenden Sensorik am Güterwagen können Daten erfasst und übermittelt werden. Damit können Ortungsdaten und der Zustand des Transportguts übertragen werden, wodurch die Kunden etwa auf Verspätungen reagieren können. Dies ist zudem eine Voraussetzung für eine verstärkte Einbindung des Transportes in die Logistikkette der Kunden (vgl. Kapitel 9.3.7). Weiter kann der Zustand des Rollmaterials erfasst und mit den Daten die Fahrzeuginstandhaltung automatisiert und verbessert werden, indem etwa Schäden frühzeitig erkannt werden. Auch können die EVUs die Daten zur Optimierung des Ressourceneinsatzes, sprich des Einsatzes des Rollmaterials, verwenden.

Image Abbildung 26: Lärmemissionen von Eisenbahnwagen91

      Durch verbesserte Drehgestelle mit radial einstellbaren Radsätzen können Lärm, Energieverbrauch und Verschleiss verringert werden, indem der Reibungswiderstand insbesondere in Kurven verringert wird. Auch mit neuen Radsätzen können die Lärmwirkung und die Wartungskosten reduziert sowie die Laufleistung vergrössert werden. Als weitere Innovation würden Scheibenbremsen zu geringerem Verschleiss führen und gemeinsam mit den anderen Innovationen am Laufwerk die Lärmemissionen von heute 83dB auf 75dB, das Niveau des Personenverkehrs verringern (vgl. Abbildung 26). Durch die erhöhte Bremsleistung der Scheibenbremsen und mit weiteren Anforderungen wie geringeren Achslasten werden kürzere Bremswege und somit höhere Geschwindigkeiten ermöglicht,