Simon Lieb

Schienengüterverkehr in der Schweiz


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nach im Druck der EU zur Angleichung der Regelwerke sowie dem allgemeinen Liberalisierungstrend50. Alle befragten Interviewpartner sehen die Bahnreform als positiv oder sogar notwendig an, da vorhin massive Probleme bestanden hätten.

      Die Bahnreform I im Jahr 1999, insbesondere die Liberalisierung des SGVs und die Öffnung des Netzzugangs, hat den SGV in der Fläche grundlegend verändert. Bis anhin waren die SBB als nationale Staatsbahn sowie zahlreiche mehrheitlich in Kantonsbesitz befindliche Privatbahnen auf ihrem jeweiligen Netz Monopolisten. Aufgrund des Territorialprinzips52 waren viele dieser Bahnen auch im SGV in der Fläche tätig und führten diesen gemeinsam durch. Die Einnahmen gingen aber nicht an die Bahn, die den Transport durchführte, sondern an die Bahn, auf deren Infrastruktur er stattfand, was zu Marktverzerrungen führte.

      Mit der Bahnreform änderte sich dies und jedes EVU konnte auf dem Netz der anderen fahren. Da es effizienter ist, wenn das EWLV-Netz von nur einem Anbieter betrieben wird, übernahm die SBB Cargo auf dem gesamten Normalspurnetz die Transportaufgaben im EWLV.

      Gleichzeitig nahmen aber mehrere Privatbahnen, insbesondere die BLS, einfach zu produzierende Ganzzugsverkehre als Nischenanbieter auf. Es wurden gewissermassen die profitablen Rosinen herausgepickt, was eine logische Konsequenz der Marktöffnung war. Durch diese Konkurrenzierung wurden die Gewinne im zuvor relativ profitablen Ganzzugverkehr der SBB, die den EWLV stützten, stark gedrückt, was deren finanziell bereits schwierige Lage weiter anspannte. Zudem wurden grössere ehemals im EWLV transportierte Güter durch Wettbewerber herausgenommen und neu als Ganzzugsverkehre gefahren, was dessen Auslastung senkte. In Folge gab es kaum Spielraum für Investitionen. Auf der anderen Seite führt Liberalisierung grundsätzlich zum Druck, sich von der Konkurrenz abzuheben und besser zu werden. Es ist meiner Meinung nach schwierig abzuschätzen, ob die Liberalisierung eher zu Leistungsabbau führte, oder damit unternehmerisches Denken, eine erhöhte Kundenorientierung sowie Innovationstätigkeit folgte und damit ein noch stärkerer Rückgang verhindert wurde (für eine genauere Analyse vgl. Kapitel 0).

      Nach der Liberalisierung und den Bilateralen Abkommen mit der EU wurden bis 2008 die Trassenpreissubventionen vollständig abgebaut. Dies führte einerseits zum Druck, die Effizienz zu steigern, andererseits wurden meiner Meinung nach die finanziellen Probleme verschärft.

      Zudem bestand eine unklare Zielsetzung zwischen Eigenwirtschaftlichkeit und Flächenbedienung und eine Vielzahl an unterschiedlichen Förderungen. Um dies zu klären, den SGV entsprechend gezielt zu fördern und die bestehenden Probleme zu lösen, wurde das GüTG zwischen 2011 und 2016 totalrevidiert (vgl. Kapitel 4.3.2). In Folge wurde die Subventionierung auf die Förderung der Infrastruktur wie Anschlussgleisen ausgerichtet, während die Betriebsabgeltungen im Umfang von etwa 30 Mio. Franken vollständig abgebaut wurden mit dem primären Ziel der Eigenwirtschaftlichkeit der SBB Cargo. Zudem wurde es neu möglich, Innovationen zu fördern. Auch wurde die lange geltende Priorisierung des Personenverkehrs bei der Trassenvergabe gestrichen.

      Schliesslich hat sich 2020 die Swiss Combi, bestehend aus vier Schweizer Strassenverkehrsunternehmen, mit 35% an der SBB Cargo beteiligt. Dies mit dem Ziel, privates Risikokapital in das Unternehmen zu bringen, die Kundenorientierung zu erhöhen, mehr Mengen ins EWLV-System zu bringen und die SBB Cargo unternehmerischer auszurichten.

      Seit Mitte der 2000er-Jahre nehmen die im SGV in der Fläche transportierten Mengen nicht nur relativ zur Strasse, sondern auch absolut ab, besonders im EWLV (vgl. Abbildung 2 auf Seite 10 und Abbildung 15: Hellrot und hellblau entspricht dem EWLV). Was sind die Ursachen dafür? Zum einen haben sich die Trends der letzten Jahrzehnte in Richtung kleinerer Sendungsgrössen, kürzeren Lieferzeiten und mehr Flexibilität durch das Aufkommen des Online-Handels verstärkt fortgesetzt, wo die Eisenbahn tendenziell weniger stark ist. Zudem sind weitere bahnaffine Industriebetriebe, die schwere Güter in grossen Mengen regelmässig transportiert haben, aufgrund der hohen Produktionskosten in der Schweiz abgewandert. Nach Nicolas Perrin hat der erstarkte Franken und die Marktöffnung Europas diesen Prozess nochmals massiv beschleunigt. Auch die anderen Interviewpartner sehen die strukturelle Veränderung der Industrie als einen der wichtigsten Gründe für den Mengenrückgang an.

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      Weiter machte die Konkurrenz des Strassengüterverkehrs den SGV unrentabler und die Prioritätenordnung bei der Trassenvergabe behinderte die Entwicklung des SGVs sowie dessen Zuverlässigkeit weiterhin. Auch hatte der personenverkehrsdominierte SBB-Konzern wenig Interesse am SGV.

      Doch auch bei der SBB Cargo sind Ursachen für die Probleme zu verorten. Einerseits gewann sie zu wenig Marktanteile im wachsenden Konsumgütermarkt. Andererseits wurde immer noch veraltetes Rollmaterial eingesetzt und die Innovationstätigkeit war sehr gering. In Folge war und ist der Betrieb des SGVs sehr aufwändig und kostenintensiv. Da der SGV in der Fläche Marktanteile verlor und kaum Gewinne erwirtschaftet wurden, sank der Spielraum, aus eigener Kraft in grössere Innovationen zu investieren, die den SGV nachhaltig gebessert hätten. Diese Situation hält bis heute an. Ausserdem ist es eine Eigenheit des SGV-Marktes, dass für viele Innovationen grosse Hemmnisse bestehen (vgl. Kapitel 10.5.2). Ich bezweifle daher, dass die SBB Cargo aus eigener Kraft eine umfassende Modernisierung ihrer Flotte hätte umsetzen können, aber kleinere und kontinuierliche Verbesserungen wären durchaus möglich gewesen. Als weitere Gründe wurden oft, auch von Seiten der SBB, eine ineffiziente Organisation des EWLVs54 und eine mangelnde Kundenorientierung konstatiert. Doch muss hier angefügt werden, dass die SBB Cargo (und bei ersterem auch das Bundesamt für Verkehr) in den letzten Jahren Anstrengungen unternommen hat, um die Innovationstätigkeit und die Kundenorientierung zu erhöhen. So hat sie etwa das Netz im Binnen-KV als europaweit erste Bahn mit der automatischen Kupplung und Bremsprobe ausgerüstet (vgl. Kapitel 9).

      Trotz dem beschriebenen schwierigen Umfeld wurden die politischen Rahmenbedingungen zuungunsten des SGVs verändert. Wie bereits weiter oben erwähnt wurde er vom Abbau der Subventionen unter Druck gesetzt. Auch führte die Liberalisierung wahrscheinlich zu negativen Auswirkungen für den EWLV. Eine besonders gewichtige Rolle kam der Erhöhung der Lkw-Gewichtsbegrenzung auf 40 Tonnen im Jahr 2004 zu, deren Effizienzsteigerung durch die LSVA nicht vollumfänglich kompensiert werden konnte.

      All diese langfristigen und kurzfristigen Faktoren führten zu sehr schlechten Betriebsergebnissen. Mit dem Ziel, diese zu verbessern, baute die SBB Cargo ihr Angebot im EWLV in mehreren Schritten grossflächig stark ab und schloss Bedienpunkte, was zwar die Kosten reduzierte, aber auch zum Verlust von Volumen und zu einer Verunsicherung der Kunden führte.55 Philipp Hadorn meint: «Daher wollen die Kunden heute in vielen Fällen gar nicht mehr auf die Schiene.» Es fragt sich, ob der SGV in der Fläche aufgrund abnehmender Mengen und in Folge geringerer Auslastung im EWLV-Netz in eine Abwärtsspirale kam. Wie sinnvoll der grossflächige Abbau von Bedienpunkten zur Verbesserung des Betriebsergebnisses ist, was die Folgen waren und was hätte anders gemacht werden sollen, wird im Kapitel 9.3.4 analysiert. Im Jahr 2006 wurde das EWLV-Netz mit dem Projekt «Fokus» von insgesamt 650 auf 323 Bedienpunkte im Grundnetz und rund 200 Kundenlösungen reduziert. Auch wurde die Anzahl an Teambahnhöfen und Arbeitsplätzen verringert. Bereits auf den Fahrplanwechsel 2012/13 folgte der nächste grosse Abbauschritt, bei dem 130 der Bedienpunkte geschlossen wurden, auf dann 374. Danach konnten 2013 das erste Mal seit vier Jahrzehnten schwarze Zahlen ausgewiesen werden. Doch es folgten Rückschläge: Erstens führte der zum Euro erstarkte Franken zu geringeren Einnahmen. Zweitens hat sich