Simon Lieb

Schienengüterverkehr in der Schweiz


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welche verlangt hätte, den Güterfernverkehr vorab auf der Schiene durchzuführen, um eine ruinöse Konkurrenzierung zu verhindern.

      Auch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts blieb der Güterverkehr Haupteinnahmequelle der Eisenbahnen. Der WLV und Stückgutverkehr befanden sich in ihrer Blütezeit und nahmen stark zu. Um den SGV zu beschleunigen, wurde der Fernverkehr vom Stückgutverkehr getrennt, sodass dessen Wagen nicht mehr an jeder Haltestelle anhalten mussten. Zudem wurde 1926 der Nachtdienst eingeführt und 1933 der Rangierbahnhof in Muttenz eröffnet. Hingegen blieb der Aufbau der Güterwagen weitgehend konservativ und nur wenige Neuerungen fanden Einzug.

Ein Bild, das Gras, Berg, draußen, Natur enthält. Automatisch generierte Beschreibung Abbildung 14: Die parallel zur Eisenbahnstrecke verlaufende Gotthard-Autobahn42

      Die Zeit zwischen dem zweiten Weltkrieg und der Jahrtausendwende war wesentlich von der Umwälzung des Verkehrssystems durch den Strassenverkehr geprägt. Der starke Ausbau des Strassennetzes zog einen starken Anstieg des Strassengüterverkehrs nach sich. Zum einen wurde das feinmaschige Gemeindestrassennetz für den motorisierten Verkehr verstärkt und verbreitert, zum anderen wurde das Kantons- und Nationalstrassennetz stark ausgebaut. Nach dem in einer Volksabstimmung angenommenen Treibstoffzollzuschlag begann der Bund in den 1960er-Jahren mit dem Bau eines schweizweiten, engmaschigen und parallel zum Schienennetz verlaufenden Autobahnnetzes (vgl. Abbildung 14). In den folgenden drei Jahrzehnten waren die Investitionen in den Strassenbau fünf- bis siebenmal höher als in die Schieneninfrastruktur. Erst vor der Jahrtausendwende wurde der Ausbau der Eisenbahninfrastruktur mit Bahn 2000 wieder forciert. Und während der Strassenverkehr durch den grossflächigen Ausbau eines leistungsfähigen Strassennetzes gefördert wurde, wurden die Kosten der negativen Auswirkungen auf die Allgemeinheit abgewälzt (vgl. Kapitel 6).

      Trotz der zunehmenden Konkurrenz durch den Strassengüterverkehr erreichte der WLV in den 1970er-Jahren seinen Höhepunkt, insbesondere, da die Schweiz den zweiten Weltkrieg fast unbeschadet überstand und die intakte Industrie vom Aufschwung profitieren konnte. So hatte die Schweiz bis in die 1960er-Jahre den höchsten Industrialisierungsgrad aller Länder. Auch ermöglichte das vollständig elektrifizierte Eisenbahnnetz, der Einsatz von abgeschriebenem Rollmaterial und Personenzügen mit Güterbeförderung ein attraktives Angebot zu geringen Betriebskosten. Die Erhaltung der hohen Dichte des Bahnnetzes in der Schweiz43 ist vor allem diesen Aspekten und der Subventionierung von Nebenbahnen zu verdanken. Zu dieser Zeit gab es 1`918 Güterbahnhöfe in der Schweiz und 2/3 aller Eisenbahnwagen waren Güterwagen.

      Doch seit den 1970er-Jahren wurde der SGV zunehmend unrentabel. In Folge wurden viele Güterbahnhöfe und Anschlussgleise geschlossen und die Angebote des EWLVs und Stückgutverkehrs abgebaut. Während der Strassengüterverkehr in der Fläche von 1950 bis 2000 um das 13-fache zunahm, stieg die Verkehrsleistung des SGVs in der Fläche nur um das Dreifache an.44 Meiner Analyse nach sind dafür mehrere Ursachen verantwortlich.45 Erstens kam der Güterverkehr durch die Konkurrenz des Strassengüterverkehrs mit dem Autobahnbau zunehmend in Bedrängnis. Ein Lkw war flexibler und hatte aufgrund der schwächeren Arbeits- und Sicherheitsauflagen einen Konkurrenzvorteil. Zusätzlich wandelte sich auch die Raumstruktur zu Ungunsten des SGVs, da es den Unternehmen durch den Lkw zunehmend möglich wurde, auch abseits des Schienennetzes Standorte aufzubauen.

      Neben der Konkurrenzierung kam hinzu, dass durch die Deregulierung des internationalen Güteraustausches zunehmend globalisierte Wertschöpfungsketten entstanden und grosse Teile der Industrieproduktion ins Ausland verlagert wurden. In Folge der Deindustrialisierung mussten weniger bahnaffine Güter, die durch regelmässige Transporte in grossen Mengen gekennzeichnet sind, transportiert werden. Hingegen erhöhte sich der Anteil kleiner, leichter und hochwertiger Konsumgüter. Dieser Trend zu kleineren Sendungsgrössen mit höherwertigen Gütern wird als Güterstruktureffekt bezeichnet.

      Weiter wurde durch die Digitalisierung und das Aufkommen des flexiblen Lkws der Ausstieg aus der Lagerhaltung mit zunehmender Arbeitsteilung ermöglicht, was zudem eine Folge der Abnahme des Anteils der Transport- an den Produktionskosten war. Dies führte zu abnehmenden Sendungsgrössen, mehr Just-in-Time-Transporten, zur engeren Einbettung der Transporte in die Logistik der Kunden und zur Abnahme der für die Bahn sprechenden Bündelung. Aufgrund der gestiegenen Wertdichten und grösseren Abhängigkeit zwischen den einzelnen Produktionsschritten stiegen zudem die Kundenanforderungen betreffend Flexibilität, Zuverlässigkeit und Geschwindigkeit.

      Einerseits mussten diese Entwicklungen zu Problemen und Anteilsrückgängen im SGV führen. Andererseits verpasste es die SBB aber, auf diese Veränderungen der Wirtschaftsstruktur zu reagieren, in neue Wachstumsmärkte einzusteigen (Konsumgüter) oder auf veränderte Kundenanforderungen zu reagieren. Zudem wurden wichtige Innovationen zur Steigerung der Produktivität wie der automatischen Kupplung nicht umgesetzt.

      Ein Grund dafür war, dass der Güterverkehrsbereich der SBB gegenüber dem Personenverkehr (PV) vernachlässigt wurde. Peter Füglistaler beschreibt den SGV als «das etwas vernachlässigte Kind im ÖV». Und Philipp Hadorn meint, er sei «stiefmütterlich behandelt» worden, da er «innerhalb des SBB-Konzerns das Sorgenkind gewesen [ist], das nie auf einen grünen Zweig gekommen ist». Dies ist einerseits darauf zurückzuführen, dass der SGV aufgrund des Aufkommens des Strassengüterverkehrs mit dem Autobahnbau zunehmend Verluste schrieb, an Gewicht verlor und entsprechend «als Last empfunden wurde».46 Zudem bekam er in der Politik wenig Aufmerksamkeit, da er kaum wahrgenommen wurde. So wurden wichtige Investitionen nicht getätigt und das steigende Angebot im PV hatte für den SGV qualitativ schlechtere Trassen zur Folge. Auch wurde der SGV in der Fläche beim Infrastrukturausbau, der ab den 1990er-Jahren mit Bahn 2000 wieder stärker vorangetrieben wurde, kaum berücksichtigt.

      Zudem fehlte aufgrund der geringen Renditen Kapital, um in Innovationen zu investieren und somit den SGV zu verbessern. Man spricht auch von einem technologischen Patt und in Folge wurden wichtige technische Neuerungen nicht umgesetzt.

      Mit der Fertigstellung des Gotthardstrassentunnels im Jahr 1980 stieg der alpenquerende Strassengüterverkehr sprunghaft an und die negativen Folgen wie Lärm-, Stickoxid- und Feinstaubemissionen wurden vermehrt sichtbar. Auch nahm in dieser Zeit das Umweltbewusstsein zu. 1994 wurde der Alpenschutzartikel bei einer Volksabstimmung angenommen, mit dem Ziel den Strassentransitverkehr zu reduzieren (vgl. Kapitel 4.3.4).47

      Nach dem Nein zum EWR-Beitritt 1992 schloss die Schweiz mehrere Bilaterale Abkommen ab, darunter das für den GV wichtigen Landverkehrsabkommen. Darin ist festgehalten, dass die EU die Schweizer Verkehrspolitik mit LSVA akzeptiert, aber als Gegenleistung musste die Schweiz die Lkw-Gewichtslimite von 28 auf 40 Tonnen erhöht und die Abgabenlast begrenzen.

      In den 1990er-Jahren wandelte sich das Schweizerische Eisenbahnsystem rapide. Mit der Bahnreform I wurde die SBB aus der Bundesverwaltung herausgelöst, in eine Aktiengesellschaft in vollständigem Besitz des Bundes überführt und entschuldet.48 Die SBB wurde in die Divisionen Personenverkehr, Infrastruktur und Güterverkehr aufgeteilt. Weiter wurde die Infrastruktur und der Verkehr voneinander getrennt, der diskriminierungsfreie Netzzugang49 eingeführt und zur Überwachung wurde eine unabhängige Schiedskommission eingesetzt. Zudem wurde der Güterverkehr liberalisiert. Das Hauptziel dieser Reformen war eine Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der Bahnen gegenüber der Strasse. Dies sollte dank einer privatrechtlich ausgerichteten Marktorganisation für mehr unternehmerisches Denken, mehr Wettbewerb und international