Elin Bedelis

Pyria


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Ort beeinträchtigten ihre Aufmerksamkeit. Sie konnte sich kaum durch den Raum bewegen, ohne gegen eine Wand oder ein Möbelstück zu laufen. Es war zum Verrücktwerden. Seit sie ihr Augenlicht verloren hatte, war sie nicht mehr so hilflos gewesen. Stöhnend ließ sie sich zu Boden sinken und vergrub das Gesicht in den Händen. Kühl drückten ihre kalten Handflächen gegen ihre pochend heiße Stirn und ein grässlicher Kopfschmerz zog durch ihren Schädel. Was war nur los mit ihr? Es schien mit jeder Sekunde etwas schlimmer zu werden. Desorientiert und erschöpft kauerte sie am Boden und traute sich nicht einmal zu, ihr Bett wiederzufinden. Verzweifelt wartete sie darauf, dass das Gefühl schwinden möge, aber es wurde eher noch schlimmer.

      Wäre doch nur die Angst nicht gewesen. Angst um Spítha, Angst um M und sogar Angst um Gwyn, dessen Anwesenheit man als Blinde leicht vergessen konnte, so leise wie er sich zurückzog. Ganz egal woher es kam, so grausig wie jetzt hatte sie sich lange nicht gefühlt. Auf allen vieren krabbelte sie schließlich an der Wand entlang, bis sie das Bett fand. Wie gut, dass sie niemand dabei beobachtete. Einzig M konnte so lautlos sein, dass sie ihn nicht bemerkte, aber selbst er konnte nicht durch Wände gehen und er hätte auch keinen Grund gehabt sie aufzusuchen. Schließlich war er mit seiner herzallerliebsten Hatschi unterwegs.

      So sehr Vica sich auch bemühte, sie konnte ihre Abfälligkeit für dieses Mädchen nicht verdrängen. Alles an ihr regte sie auf. Ihre Naivität und ihre dummen Fragen, ihre Hilflosigkeit und Inkompetenz für einfache Sachen und dass M ausgerechnet auf sie Rücksicht nahm, dass die meisten anderen sie unglaublich zu mögen schienen und sie wohl auch noch hübsch war. Die Kleine hatte doch gar keine Ahnung vom Leben oder den Privilegien, die sie genoss, und zu allem Überfluss hatte sie scheinbar auch noch eine ach so besondere Magie, die sie unverzichtbar für die gefährlichste aller Reisen machte. Vica drückte das Gesicht in ihr Kissen und spürte, wie Puki schon wieder empört flüchtete. Ein meckerndes Keckern drang ihr an die Ohren, aber sie hatte keine Energie, um sich noch weiter zu streiten. Am liebsten hätte sie ins Kissen geschrien. Warum war sie … so?

      Lange Jahre war es her, dass sie so geweint hatte. Vica konnte es selbst kaum glauben, als das Kissen an ihrem Gesicht plötzlich ganz feucht wurde und ihr ein Schluchzen entfuhr. Seit Machairi sie von der Straße gesammelt hatte, hatte sie nicht mehr so bitterlich geweint. Als sie geglaubt hatte, sie hätte ihre Kräfte verloren, hatte sie ein paar wenige Tränen nicht verhindern können, aber niemals wäre sie auf die Idee gekommen, sich dem Weinen so sehr hinzugeben wie jetzt. Es war zu viel. Viel zu viel. Weinend und schluchzend lag Vica auf dem Bauch, konnte kaum atmen durch das Kissen. Furchtbar lächerlich hätte sie sich fühlen müssen und normalerweise hätte sie sich innerlich gescholten für ihr endloses Selbstmitleid, aber es war so eng in ihrer Brust und sie fühlte sich so seltsam alleingelassen, dass es sich anfühlte, als könnten nur Tränen Abhilfe schaffen. Immer wieder hoffte sie, dass M hereinkommen und sie vor sich selbst retten würde, so wie er es immer getan hatte. Wie konnte er sie nur zurücklassen und an einen Ort gehen, wo sie ihm nicht einmal durch die Augen eines Tieres folgen konnte? Nicht nur das. Er ließ sie allein mit ihrer Angst um den kleinen Drachen und er ließ sie allein mit Menschen, die sie nicht ausstehen konnten. Wie konnte er nur? Du erinnerst mich an jemanden, hallte seine melodische Stimme durch ihren Kopf und sie weinte nur noch etwas bitterlicher. Jemanden, den er auch zurückgelassen hatte? Auch wenn er das erst in Om’falo gesagt hatte, schien es lange her und vieles war passiert in der Zwischenzeit. Der Gedanke, dass sie ersetzt worden war, war schmerzhafter, als es hätte sein sollen. Plötzlich war sie nicht mehr diejenige mit der unabdingbaren Fähigkeit, sondern die Hatschi. Warum musste es ausgerechnet sie sein?

      Eifersucht schlug die Klauen in ihr Herz und ihre blinden Augen taten weh vom Weinen. Noch immer unregelmäßig atmend hob sie den Kopf aus dem Kissen und versuchte, in der warmen Luft durchzuatmen. Ein weiteres Schluchzen entfuhr ihr und dann spürte sie etwas Weiches an ihrer Wange. Es schmiegte sich warm an sie und nach kurzem Zögern folgte das Schlecken einer kleinen Zunge. Puki tröstete sie. Schniefend setzte sie sich auf und kuschelte sich etwas fester an das kleine Fellknäul. Sie spürte, dass er noch immer verletzt war, aber sie teilten die gleiche Angst, ersetzt zu werden, und vielleicht stellte er ihren Streit deshalb hintenan. Wusste er nicht, dass sie ihn immer liebhaben würde? Dass Spítha ihre Aufmerksamkeit nur brauchte, weil er verletzt und dem Tode nah war, und dass sie sich mit dem Drachen verbunden fühlte? Sie würde ihn doch niemals ersetzen, ihren treuen kleinen Begleiter, der nie gezögert hatte, ihr nach Kräften zu helfen. Das Gleiche gilt für M doch auch, schien er sagen zu wollen und Vica schniefte noch einmal. »Tut mir leid«, hauchte sie Puki zu und fuhr ihm sacht durchs Fell. Kurz glaubte sie, dass er wieder fortspringen würde, aber er ließ zu, dass ihre Finger über den im Fell verborgenen Panzer strichen, in den er sich einrollen konnte, wenn er sich in Gefahr wähnte.

      Sie war erleichtert; auch wenn ihre Augen wehtaten und sie sich seltsam zittrig fühlte, war sie doch etwas ruhiger als zuvor. Schweigend hockte sie im Bett und kam zur Ruhe. Dadurch legte sich bleierne Müdigkeit in ihre Knochen und machte sie schläfrig. Vorsichtig hob sie Spítha von seinem Platz am Fußende und bettete ihn auf ein zweites Kissen, bevor sie das vollgeheulte umdrehte und sich einfach ins Bett rollte. Puki kuschelte sich direkt an ihren Oberkörper und rollte sich zum kleinen Knäul. Müde und erschöpft von ihrem Nervenzusammenbruch schlief Vica ein.

      Sie verschlief die Abreise der drei Unterweltler am nächsten Morgen und wäre am liebsten einfach liegen geblieben, als sie schließlich unwiederbringlich wach war. Puki war längst fort und scheinbar aus dem Fenster geklettert, um zu jagen. Immerhin einer, der sich sein Essen ganz allein besorgen konnte. Es hatte Zeiten gegeben, da hatte das kleine Wiesel mit ihr gehungert. Damals auf der Irreninsel war Nahrung stets Mangelware gewesen. Mäuse für Puki hatte es meistens gegeben, aber nicht immer hatte der pelzige Kavalier sie allein lassen wollen, um auf die Jagd zu gehen, während sie selbst nichts essen konnte. Vögel hatten Vica Essen von den Märkten gestohlen und es bis auf die Irreninsel getragen, aber ständig konnte sie das nicht machen, ohne aufzufallen. Ab und an schickte sogar der schwarze Fürst Vorräte auf die Insel und M hatte dafür gesorgt, dass sie nicht verhungerte. Das Leben dort war trotzdem nie gut gewesen und sie wusste auch, dass sie nicht mehr lange zu leben gehabt hätte. Vielleicht wäre es trotzdem besser gewesen als die Strapazen dieser Reise.

      Jetzt hatte sie keinen Hunger. Obwohl die Tränen in der vergangenen Nacht hätten helfen sollen, war ihr Magen wie zugeschnürt. Als hätte sie eine aufgedunsene Masse gegessen, die ihren Bauch nun füllte, ohne sie tatsächlich mit Nährstoffen und Energie zu versorgen, fühlte sie sich voll und nicht in der Lage, überhaupt irgendetwas zu essen. Nur ihr Hals brannte. Einen Schluck Wasser hätte sie vertragen können, um das elendige Brennen in ihrem Rachen zu stillen.

      Beim Schlafen war ihr wohl die Kapuze vom Kopf gerutscht. Noch mehr als sonst fielen ihr die Haare ins Gesicht und ihre Ohren waren ungewöhnlich frei. Mühselig setzte sie sich auf. Ihre Glieder fühlten sich noch seltsam schwer an, obwohl sie definitiv genug Schlaf bekommen hatte. Eigentlich hatte sie sogar verhältnismäßig gut geschlafen. Angesichts ihres aktuellen Zustandes hatte sie damit gerechnet, von Albträumen geplagt zu werden oder gar nicht erst einschlafen zu können. Stattdessen schien auch guter Schlaf nicht dazu geführt zu haben, dass sie ihre Ängste vergaß. Jetzt, mit kühlerem Kopf, hatte sie allerdings immerhin das Gefühl, dass sie sich wieder im Zimmer zurechtfinden konnte. Was auch immer sie da am Vorabend überkommen hatte, war nicht zum Dauerzustand geworden. Vica schämte sich, so zusammengebrochen zu sein. Zum Glück hatten nur Puki und Spítha mitbekommen, wie sie in ihr Kissen geheult hatte.

      Spítha. Das Geräusch seines Atems, das zuvor dauerhaft an ihre Ohren gedrungen war, war nicht zu hören. War sie doch noch eingeschränkt in ihren Sinnen? Sie spitzte die Ohren und tastete auf dem Kissen neben ihr nach dem kleinen Drachen. Die kleine Spitze eines dünnen Schwanzes stieß gegen ihren Zeigefinger. Erschreckend kalt war die glatte Schuppenhaut und noch immer versuchte sie den mühsamen Atem des Drachen zu hören. Ganz vorsichtig tastete sie nach dem kleinen Kopf. Spítha?, dachte sie und versuchte in den Kopf des mächtigen Wesens einzudringen. Ihre Finger fuhren über die Narben in der Schuppenhaut. Er war zum kleinen Nest gerollt und reglos … und viel zu starr. Spítha?, fragte sie nochmal, dieses Mal panischer. Der Drache hatte auch schon in den vergangenen Tagen nicht oder nur unkoordiniert geantwortet, bestimmt schlief er nur. Gedanken hatten nicht wirklich eine Sprache und er hatte