Ewa A.

Lord of the Lies - Ein schaurig schöner Liebesroman


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gequält.«

      Pearlene wurde schlecht, als sie von den Grausamkeiten hörte, und stellte ihr Glas auf dem Tisch ab, denn vor Schreck wäre es ihr fast aus den Händen geglitten.

      Von solchen entsetzlichen Vorgängen hatte sie noch nie gehört. Bestimmt hatten ihre Eltern sie absichtlich im Ungewissen darüber gelassen, was derzeit in London passierte, und darauf bestanden, dass sie nichts davon erfuhr. Jetzt verstand sie auch die eindringlichen Warnungen ihrer Tante und des Onkels, die sie Reeva und ihr noch in der Kutsche eingeschärft hatten, nie allein und immer in ihrer Sichtweite auf dem Fest zu bleiben. Den ganzen Abend hatten sie sich daran gehalten und selbst in diesem Moment unterhielten sich ihre älteren Verwandten in Rufweite, was ihr nun eine beruhigende Sicherheit verlieh.

      »Ja«, nickte die Matrone. »Das stimmt, sogar die Fundorte der Leichen sind unterschiedlich. Die Kinder werden immer in einem Londoner Gewässer gefunden.«

      Die mittlere Dame fächerte sich Luft zu. »Schrecklich, schrecklich. Man traut sich gar nicht mehr, seine Kinder aus dem Haus zu lassen.«

      »Wohl wahr!«, gab ihr die Matrone Recht.

      Countess Swanson nickte. »Das Schlimme ist, solange sie die beiden Mörder nicht gefasst haben, rechnen die Wachtmeister mit weiteren Leichen. Man vermutet, dass der Jungfrauenmörder alle paar Wochen nach einem neuen Opfer sucht.«

      Pearlene schluckte bei dem Gedanken, dass der Mörder noch immer auf freiem Fuß war und demnächst womöglich ein weiteres Mädchen auf bestialische Weise sterben würde.

      Die mittlere Dame gab zu bedenken: »Aber man fand die letzte Tote doch erst vor zwei Wochen, gewiss wird er so schnell nicht wieder zuschlagen.«

      Die Countess kräuselte ihre Stirn. »Man fand sie vor zwei Wochen, aber ermordet wurde sie schon geraume Zeit zuvor.«

      Je mehr Pearlene hörte, desto enger zog sich ihr Magen zusammen. Sie beschloss, die älteren Damen besser nicht mehr zu belauschen, als die Matrone plötzlich aufgeregt gluckste: »Na, da sind sie ja, wie erwartet. Die gefürchteten Lebemänner Londons. Ich danke dem Himmel, dass meine beiden Töchter schon längst unter der Haube sind und meine Enkeltöchter noch nicht im heiratsfähigen Alter. Wenn ich sie nicht wegen des wahnsinnigen Mörders einsperren würde, dann gewiss wegen ihnen. Allen voran wegen Bradford Lyndon.«

      Bradford war hier?! Neugierig folgte Pearlenes Blick dem der älteren Dame, doch sie konnte lediglich die verschwommenen Umrisse mehrerer Personen auf der gegenüberliegenden Seite des Zeltes erkennen. Sofort begann sie, in ihrem Retikül nach der Schatulle ihrer Stielbrille zu suchen, welche sie vor dem Tanzen darin verstaut hatte. Reeva drückte derweil ihren Ellbogen und flüsterte ihr ins Ohr: »Sieh doch! Da ist der Bruder des Grand Duke. Hach, ich würde alles darum geben, wenn Bradford mich nur um einen Tanz bitten würde.«

      Kaum hatte Pearlene das gute Stück gefunden, hielt sie es sich vor die Augen. Herr im Himmel, er sah wirklich auf den ersten Blick wie sein Bruder, Grand Duke Arden, aus. Die Statur, die Haarfarbe, selbst die Augen leuchteten in dem gleichen Blau. Lediglich die Kleidung und seine Frisur unterschieden sich von Ardens. Bradford entsprach dem typischen Bild eines Dandys. Auf dem neusten Stand der Mode gekleidet, in einem hellem Brokat-Rock und einer Damast-Kniehose, wirkte er durch und durch elegant und gepflegt. Er trug zwar ebenso den üblichen Herrenzopf, aber im Gegensatz zu seinem Bruder waren seine Haare nicht streng zurückgekämmt, sondern in legerer Weise zusammen gefasst. Die unordentlichen Wellen verliehen seinem Auftreten eine Spur von Verwegenheit, was ihn umso faszinierender machte.

      Eine Gruppe von jungen Herren begleitete ihn, sie schienen alle seinem Alter und Charakter zu entsprechen. Man hörte sie miteinander laut lachen und schwatzen. Es war nicht zu übersehen, dass die Riege der Schwerenöter es genoss, im Mittelpunkt des Balles zu stehen. Jeder der Anwesenden beobachtete sie, auf die eine oder andere Weise. Die älteren Lords taten dies mit Kopfschütteln, deren Ehefrauen mit pikiertem Entsetzen und der Nachwuchs mit unverhohlener Bewunderung. Während die unerfahrenen Jünglinge so sein wollten wie sie, hofften die unschuldigen Jungfern, von ihnen beachtet oder gar erwählt zu werden.

      Pearlene war mehr als eingeschüchtert von der offensichtlichen Arroganz, die Bradford und seine Freunde zur Schau stellten, und der Wirkung, die von ihnen auf die Menge ausging. Es war, als würde ein Stein auf eine ruhige Wasseroberfläche treffen und fortwährend kreisrunde Wellen schlagen, die immer größer wurden.

      Reeva fächerte sich wild Kühlung zu. »Mutter sagte, dass jeder von ihnen der denkbar schlechteste Umgang für eine junge Lady sei, die ihr untadeliges Ansehen behalten wolle.« Nach einem Seufzen fuhr sie fort: »Und doch … wäre ich gewillt, mit Bradford zu tanzen.«

      »Nein!«, keuchte Pearlene entsetzt und starrte zu Reeva. »Willst du dir die Chance auf einen angesehenen Ehemann denn völlig verderben? Kein anständiger Mann würde dich mehr in Erwägung ziehen, wenn du mit einem von diesen Schürzenjägern auf die Tanzfläche gehen würdest, bei dem zweifelhaften Ruf, der ihnen vorauseilt. Ausgeschlossen!«

      Reevas Augen wurden immer runder und sie begann zu stammeln: »Er … er schaut zu uns. Allmächtiger! Er kommt auf uns zu.«

      »Wer?!«, alarmiert hob Pearlene ihre Augengläser wieder an und glaubte sich einer Bewusstlosigkeit nahe, denn kein anderer als Bradford Lyndon schritt durch die Besucher, direkt auf sie zu, ohne sein Ziel aus den Augen zu lassen. Pearlene lief ein Schauer den Rücken hinab, denn sein Blick glich dem eines lauernden Raubtiers.

       *

      Der Mann bewegte sich unauffällig durch die Menschenmenge, in der er vollkommen unterging. Keiner der Gäste nahm ihn wahr.

      Die Anweisungen im Brief seines Meisters waren eindeutig gewesen. Er wusste genau, welchem Mädchen er die Droge ins Getränk mischen musste, lediglich der richtige Zeitpunkt war abzuwarten. Er kannte ihren Namen und hatte sie im Auge, seit sie das Fest betreten hatte und sie mit ihrem Titel den Gästen vorgestellt worden war. Sie war älter als die bisherigen Jungfrauen, aber das war ihm persönlich gleich, denn alles, was der Meister befahl, hatte einen bestimmten Grund, selbst wenn ihm dieser nicht immer ersichtlich war. Für die Zeremonien verlangte es nach ganz besonderen Jungfrauen und diese suchte nun einmal der Meister aus.

      Die blonde Frau stand an einem Tisch, sie hatte ihr Glas abgestellt. Er hatte Glück, dass dort, wo sie stand, ein dichtes Gedränge herrschte. Alle Blicke waren auf die Tanzfläche gerichtet. Wie aufgetragen gelang es ihm, die Droge in einer schnellen Bewegung heimlich in ihr Glas zu geben. Da man bei den Debütantinnen nie sicher war, ob sie das Glas bis zum letzten Zug leeren würden, war das Mittel hochkonzentriert. Auch wenn sie nur einen kleinen Schluck zu sich nähme, würde sie todmüde werden und sich nicht mehr auf den Beinen halten können. Sollte sie das Glas bis zur Neige austrinken, würde sie früher oder später völlig das Bewusstsein verlieren, dann bräuchte er zumindest das Tuch mit dem Äther nicht zu verwenden. Die jungen Dinger suchten meist einen abgelegenen Ort auf, sobald die Droge ihre Wirkung zeigte, um sich in der Öffentlichkeit nicht die Blöße einer Ohnmacht zu geben. Manche von ihnen hatten wohl Angst, ihnen würde unterstellt werden, sie vertrügen den ersten Alkohol nicht und hofften auf Besserung, wenn sie sich einen Moment ausruhen würden. Andere wiederum glaubten, ihr zu eng geschnürtes Mieder wäre die Ursache der übermächtigen Müdigkeit, die sie fälschlicherweise für eine herannahende Ohnmacht hielten. Sie wollten die Verschnürung dann immer in einem einsamen Versteck lockern. Selten war es bisher geschehen, dass die Mädchen sich rechtzeitig an ihre Eltern wandten und ihm entgangen waren. Gerade zweimal hatte er seinem Meister ein Scheitern mitteilen müssen. Allerdings glaubte er, allmählich zu beobachten, dass die Leichenfunde die Leute vorsichtiger handeln ließen. Kein Mädchen war mehr ohne Begleitung zu sehen, nicht mal für wenige Schritte. Falls das Feuerwerk nicht genug Ablenkung bot, musste er sich etwas einfallen lassen, um das Mädchen in einem unbeobachteten Moment erwischen zu können. Ein Augenblick würde reichen, denn der Park bot mit seinen Sträuchern und Bäumen, die in der Dunkelheit lagen, genügend Unterschlupfmöglichkeiten. Sie nachher in das Boot zu schleppen, das sie zu seiner Kutsche und schließlich in den Tempel bringen würde, wäre dann bloß noch eine Kleinigkeit. Dazu musste er zwar quer durch den Park, aber das würde er bewältigen. Er musste sich jetzt nur