Wolfgang Priedl

PUNKTUM.


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im Gastgarten, nahe der Hausmauer, wo man sich ungestört unterhalten kann.

      Anna versucht, sich einen Fragenkatalog zurechtzulegen. Als sie ihre Fragen in ihr Notepad tippen will, trifft Frau Santora ein.

      »Sehr lieb, dass Sie sich für mich Zeit nehmen. Danke«, beginnt Anna die Unterhaltung.

      »Schön, dass wir uns einmal persönlich kennenlernen. War ja schon höchste Zeit. Sie sind ja viel hübscher, als Sie ihre Mutter beschrieben hat«, schmeichelt Santora.

      Anna spürt, wie ihr das Blut in den Kopf schießt. Es ist schon lange her, dass sie ein solches Kompliment erhalten hat.

      »Sie sehen ja ihrer Mutter zum Verwechseln ähnlich. Ich meine natürlich, wenn man die Jahre, die sie trennen, außer Acht lässt.«

      »Danke. Sie bringen mich in Verlegenheit. Übrigens, mir ergeht es genauso – ich meine damit, dass wir uns persönlich, so von Angesicht zu Angesicht, kennenlernen. Meine Mutter hat andauernd von Ihnen erzählt. Sie sind ja sozusagen ihre beste Freundin ...«

      »... Beste Freundin? Sagen wir so – einzige Freundin, und damit natürlich beste Freundin. Aber wollen wir uns nicht duzen? Ich kenne so viele Einzelheiten aus Ihrem Leben. Das ›Sie‹ ist für mich befremdlich … «

      »Gerne … Ich bin die Anna.«

      »Ich bin die Birgit.«

      »Also liebe Anna, alles, was ich dir über deine Mutter und ihren Verbleib erzählen kann, habe ich dir schon gestern am Telefon erzählt … «

      »Du hast einen Freund, Joseph glaube ich, erwähnt? Weißt du, woher er kommt? Wer er ist? Von wo sie ihn kennt?«

      »Sosehr ich auch über das Leben deiner Mutter im Detail Bescheid weiß, sosehr hat sie mich über die großen Zusammenhänge im Unklaren gelassen. Diesen Joseph, den ich erwähnte, den gibt es, solange ich Maria kenne. Sie hat sich drei, vier Mal im Jahr mit ihm getroffen. Als du noch klein warst, durftest du immer bei einer Freundin übernachten, während sie zu ihm fuhr. Weißt du eigentlich, dass deine Mutter zeitweise unter psychischen Problemen litt?«

      »Nein, ist mir nie aufgefallen. Sie hat mir gegenüber nichts dergleichen erwähnt. – Was meinst du?«, hakt Anna neugierig nach.

      »Siehst du, auch das kann ich nicht mit Gewissheit sagen. Ich versuche mir die Teile nur zusammenreimen.«

      »Birgit, sag schon, welche Probleme vermutest du?«

      »Jetzt wird es schwierig für mich. Ich weiß nicht, was du weißt oder nicht weißt. Was darf – kann – ich dir sagen, was mir deine Mutter unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut hat. Ich möchte keinen Vertrauensbruch begehen, andererseits will ich dich nicht in der Luft hängen lassen.«

      »Das klingt jetzt nicht sehr einleuchtend für mich, aber trotzdem glaube ich, zu verstehen. Vorschlag: Schmeiß' einen Begriff in die Runde und ich erzähle dir meinen Wissensstand. Anhand dessen kannst du dann entscheiden, was du von deinem Wissen preisgibst. Ist das OK für dich?«

      »OK, das ist ein Deal. Also, das erste Wort wäre VATER.« Birgit sieht Anna erwartungsvoll in die Augen.

      »Du meinst meinen Vater? Diesbezüglich kann ich dir nur sagen, dass es ein Agreement mit Maria gab: Sie mich bat, nicht nach ihm zu fragen. – Daher kenne ich ihn nicht. – Aber eines Tages, als sie merkte, dass mich das Thema immer stärker beschäftigte, mich nicht mehr losließ, meinte sie unter Tränen: Verurteile mich nicht – auch ich war einmal jung. Ich war unterwegs, ich hatte einfach Lust – im wahrsten Sinne des Wortes – auf einen Mann. Und den traf ich in dieser Nacht einen gut aussehenden Typ, an dem alles dran war, nach dem mich gelüstete. Es kam, wie es kommen musste: Wir landeten in meinem Bett. Es war nicht Liebe auf den ersten Blick. Auch keine auf den Zweiten. Damals wollte ich mich nicht auf eine längerfristige Beziehung einlassen. Ich gab vor, eine selbstbewusste Frau zu sein, die niemals Fragen stellt, für die Neugier ein Fremdwort sei. Bereits in dieser Nacht trennten sich unsere Wege wieder. Ich kannte weder seinen Nachnamen noch Adresse. Darüber hinaus spielte mir in jenen Tagen mein Monatszyklus oft einen Streich. Ich merkte viel zu spät, dass ich schwanger war – erst, als ich dich bereits in mir spürte. Ich wollte dich, selbst wenn ich nicht wusste, wer dein Vater ist. Er kannte zwar meine Adresse und hätte mich leicht finden können, aber er hat keinen Gebrauch davon gemacht. Ich war ihm möglicherweise zu abweisend, wahrscheinlich ließ es sein Stolz nicht zu, sich bei mir wieder zu melden. Und so kam es, wie es kam. Ich bin mit dir glücklich geworden.«

      »Oh Gott … «, presst Birgit hervor. »Das ist starker Tobak. Maria hat mir das nie erzählt. Eigentlich wollte ich nur wissen, ob du deinen Vater kennst, denn sie hat ihn mir gegenüber nie erwähnt. Und wie gehst du mit der Tatsache um?«

      »Wie soll man damit umgehen? So eine Geschichte kann man nur akzeptieren, man muss lernen, dass man keine Chance hat, seine Fragen beantwortet zu bekommen. Das ist alles.«

      Birgit ergreift Annas Hand und schaut ihr mitfühlend in die Augen. Sie ringt nach Worten, findet jedoch nicht die Passenden.

      »Sag, weil wir gerade beim Thema Männer sind: Hat meine Mutter nie einen erwähnt?«

      »Oh ja, hin und wieder tauchte ein Name auf. Aber spätestens nach zwei, drei Monaten beendete sie oder er die Affäre. Einmal hat sie davon gesprochen, dass sich Liebhaber mit den Worten: ›Du bist nicht einfach, man hat es nicht leicht mit dir.‹, verabschiedet haben.«

      »Wie lange kennst du meine Mutter bereits?«

      »Na ja, ich trat, während Marias Babypause in das Unternehmen ein. Als sie zurückkam, wurden wir schnell Freundinnen. Zunächst auf geschäftlicher Basis, danach auch auf privater. Nach zwei Jahren wurde ihr die Abteilungsleitung übertragen. Fünf Jahren später trat ich an ihre Stelle und sie übernahm die Unitleitung.«

      »Darf ich dich etwas Persönliches fragen: Glaubst du, dass meine Mutter glücklich ist?«

      Birgit beginnt zu erzählen. Natürlich hat sie den Eindruck, dass Maria ein zufriedener Mensch sei. Aber gleichzeitig auch eine Suchende. Dieses Bild von ihrer Freundin hätte sich bei ihr eingeprägt. Es hilft ihr, zu erklären, warum Annas Mutter immer wieder starken Gemütsschwankungen ausgesetzt ist. Maria ist auf der Suche, findet aber nicht, wonach sie Ausschau hält.

      Anna hängt Birgit förmlich an den Lippen. Jedes einzelne Wort speichert sie für sich ab. Sie erfährt viel Neues, das so manche ihrer Fragen beantwortet, die sie sich nie zu stellen getraute.

      »Sag, weißt du Genaueres über diesen Joseph?«

      »Nein, nicht viel mehr, als das ich dir schon erzählt habe. Scheint ein Jugendfreund von ihr zu sein, jedenfalls kennt sie ihn länger als mich. Wie hat sie es immer ausgedrückt: ›Das war vor deiner Zeit‹. Er dürfte die männliche Hemisphäre und ich die weiblich abgedeckt haben.« Birgit macht eine Pause und setzt anschließend fort: »Also, Joseph ist ein Jugendfreund von ihr. Wenn sie mit ihm gesprochen hatte, ging es wieder eine lange Zeit gut. Allem Anschein nach wohnt er in der Provinz. Ich glaube, er lebt in Wengthal oder Lengthal. Mehr weiß ich nicht.«

      »Denkst du, sie hat mit ihm geschlafen?«

      »Schwer zu sagen. Du meinst eine Bettgeschichte auf Abruf? Eine On-Off-Beziehung? Sieht deiner Mutter nicht ähnlich. Aber stille Wasser sind tief. Es könnte genauso gut ein Psychotherapeut sein …«

      »… bei dem man gleich ein Wochenende verbringt und übernachtet? Wäre eine ungewöhnliche, neuartige Form der Patientenbetreuung.«

      Anna startet ihr Notepad. Ruft Google-Maps auf. Gibt den Namen Wengtal ein. Keine Treffer. Versucht es mit Lengtal. Ihr wird Lengthal vorgeschlagen. Akzeptiert. »Ich habe hier ein Lengthal an der Schwarza. Hundertachtzig Kilometer entfernt. Ist es das?«, fragt Anna.

      »Das könnte es sein. Deine Mutter hat einmal erwähnt, dass sie zwei Stunden benötigt, wenn sie zu Joseph fährt. Was hast du jetzt vor?«

      »Was kann ich schon viel tun? Abwarten und Tee trinken. Die Polizei meint, man sollte 72 Stunden warten und erst danach jemanden als vermisst