Wolfgang Priedl

PUNKTUM.


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es hoffentlich nicht kommen«, versucht Birgit, Anna zu trösten. »Sieh doch in ihrer Wohnung nach … «

      »… Kann ich nicht. Bestenfalls anläuten. Ich habe keinen Schlüssel.«

      »Aber ich«, erwidert Marias Freundin und kramt in ihrer Tasche. »Schau hier. Deine Mutter gab ihn mir für den Notfall. Und das hier ist ein solcher. Nimm ihn.«

      Anna fragt sich, warum Birgit einen Schlüssel besitzt und sie nicht. Sie greift nach dem Schlüsselbund, hält ihn in der Hand und betrachtet ihn eingehend. Hat ihre Mutter etwas zu verbergen? Hat sie ein Geheimnis, das sie nicht wissen darf?

      »Birgit, vielen Dank. Was würde ich jetzt nur ohne dich machen? – Ich werde zu ihrem Appartement fahren und Nachschau halten. Vielleicht findet sich dort ein Hinweis.«

      »Das mit der Wohnung ist eine gute Idee«, erwidert Birgit und schaut auf die Uhr. »Anna, mein liebes Kind, die Zeit rast. Vergeht wie im Fluge mit dir. Ich muss leider aufbrechen, du hast ja meine Nummer. Halte mich auf dem Laufenden. Tag und Nacht.«

      »Mach ich gerne«, verspricht Anna, »Ich übernehme die Getränke, sie gehen auf mich.«

      »Danke, ist aber … «

      »… beim nächsten Treffen bist du an der Reihe.«

      Birgit steht auf, beugt sich zu Anna hinab und drückt ihr ein Küsschen auf die Wange. »Wird schon schief gehen. Ich denke an dich.«

      Birgit winkt ihr von der Straße aus noch einmal aufmunternd zu. Anna zieht das Notepad zu sich und gibt den Namen Joseph und Lengthal in die Suchmaschine ein. Acht Treffer im Telefonbuch. Obwohl sie jedes einzelne Ergebnis untersucht, ergibt sich kein brauchbarer Anhaltspunkt. Sie beginnt nochmals von Anfang an zu lesen. Keiner der Einträge stimmt mit ihren Vorstellungen, ihren Hinweisen überein.

      Anna startet einen neuen Versuch: Tippt Lengthal und Hotel ein. Wieder verknüpft. Kein Treffer. Lengthal scheint zu klein zu sein, um einem Hotel als Lebensgrundlage dienen zu können. Die Suche weist, den nächstgelegene Hotelbetrieb erst in zehn Kilometern Entfernung aus.

      Was hat Birgit erwähnt? Einen Psychiater oder Psychotherapeuten, überlegt Anna und tippt Psychiater und Lengthal ins Suchfeld ein. Auch keine Treffer. Sinnlos, denkt sie.

      Zu guter Letzt durchforstet sie die Websites der regionalen und überregionalen Zeitungen. Aber sie findet keinen Hinweis, der ihr weiter helfen könnte. Resigniert schaltet Anna ihr Notepad aus.

      Während sie ihren Kaffee zu Ende trinkt, kreisen ihre Gedanken um die Beziehung zu ihrer Mutter. Es wird ihr immer deutlicher bewusst, wie wenig sie sie kennt, trotz der ständigen Nähe.

      Anna bezahlt und macht sich auf den Weg. Würde sie ihre Mutter in der Wohnung antreffen? Oder wird sie vielleicht vor leeren Zimmern stehen? Wonach sollte sie überhaupt suchen? Wieweit darf sie in die Intimsphäre ihrer Mutter eindringen, Kästen und Schubladen durchsuchen? Würde sie gar ein wohlgehütetes Geheimnis entdecken?

      4

      Die drei Männer haben bereits kurz nach Sonnenaufgang ihre Zimmer verlassen. Der alte Thilo, Seniorchef des Hauses, hatte ihnen ihr bestelltes Frühstück auf der Terrasse serviert.

      »Ein ganz schön mürrischer Typ«, meint der große Hagere.

      »Ist ihm nicht zu verübeln. Schau auf die Uhr. Wenn ich nicht freiwillig aufgestanden wäre, würde ich noch missmutiger unterwegs sein, um diese Tageszeit. Wir sollten froh sein, dass er uns das Frühstück zubereitet hat«, sagt der Kleinere und räuspert sich.

      »Sag, er war doch früher der Chef hier? Oder täusche ich mich?«, fragt der Hagere in die Runde.

      »Ja, war er, bis er Norman das Hotel übertragen hat. Heute kümmert sich der Alte um den Garten und die Boote. Soviel ich mitbekommen habe, ist er bereits seit Jahren in Pension.«

      »Freunde, so leid es mir tut, mir pressiert's. Ich muss zusehen, dass ich rechtzeitig beim Kongress bin. Die wollen meinen Vortrag hören. Sind noch gut zweihundert Kilometer – also, bis zum nächsten Mal. Ciao«, sagt der Glatzkopf, rafft sein Gepäck an sich und eilt zum Fahrzeug. Nach zehn Minuten sieht Thilo, wie auch die beiden anderen aufbrechen. Als sie losfahren, schaut er ihnen lange hinterher.

      »Norman, du kannst schon hinausfahren. Ich erledige hier alles. Ich glaube, mehr als fünf Forellen werden wir heute nicht benötigen. Wir haben nur einen Hotelgast und zwei Tischreservierungen. Wenn es abends wieder schüttet, dann wird das eine ruhige Zeit«, hört Norman die Stimme seines Vaters sagen.

      »In Ordnung. Ich bin bald zurück«, erwidert er und stakst zum Bootssteg hinunter.

      »Die Angel mit den Ködern habe ich dir bereits ins Boot gelegt!«, ruft ihm Thilo nach. Zum Dank hebt sein Sohn die rechte Hand.

      Der Steg knarrt leise unter Normans Gewicht. Dumpf schallen die Schritte auf den schweren Holzbalken. Er zieht das kleine blaue Ruderboot heran und springt geschmeidig hinein. Solche Grazie hätte man ihm aufgrund seines Körperbaues nicht zugetraut. Im Sitzen rückt er die Angel entlang der Bordwand zurecht. Ein kleiner Plastikkübel dient ihm als Schöpfwerkzeug. Eimer für Eimer kippt er das Regenwasser der letzten Nacht, aus dem Boot, in den See.

      Mit langen, kräftigen Ruderschlägen zieht er auf den dunkelgrünen, zu dieser frühen Stunde fast schwarzen See hinaus. Er sieht hinüber zur Steilwand, wo er den besten Fangplatz vermutet. Er korrigiert etwas seinen Kurs. Hauchzarte Dunstschleier wälzen sich langsam am Westufer entlang, erforschen jeden Strauch, schmiegen sich um sämtliche Bäume. Die Sonne spiegelt sich im See und zeichnet einen goldenen Streifen auf die Wasseroberfläche. Die kleinen Wellen, die von Normans Boot aus spielerisch zu den Ufern laufen, brechen die Sonnenstrahlen und lenken sie in alle Himmelsrichtungen ab, und erwecken die goldfarbene Bahn zu quirligem Leben.

      Norman rudert der Steilwand entgegen. Noch wenige Ruderschläge, dann würde er sein Ziel erreicht haben. Langsam hebt er die schweren, in Bootsfarbe lackierten Blätter aus dem Wasser und verstaut sie längsseits. Er befestigt den Köder am Haken, wirft die Angel aus und beobachtet das gemächliche Auf und Ab des Schwimmers. Er muss an die Frau denken, die er gestern mittags begrüßte. Sie war nicht zum Abendessen erschienen. Vielleicht hat sie einen Ausflug unternommen. Als er abends, um halb elf, das Hotel abschloss, war sie jedenfalls noch nicht zurück. Gerne hätte er sich mit ihr unterhalten. Über die vielen Jahre hinweg waren sie Freunde geworden, die sich stundenlang Geschichten erzählen konnten. Er hofft, dass sich heute Abend die Gelegenheit dazu bieten würde. Er freut sich darauf, mit ihr ein Gläschen ihres Lieblingsweines, den er immer wieder bei seinem Weinlieferanten, nur für sie, bestellte, zu trinken und um Neuigkeiten auszutauschen.

      Plötzlich zuckt der Schwimmer. Norman ergreift die Angel. Wieder verschwindet der Schwimmkörper unter der Wasseroberfläche und wird in die Tiefe des Sees gezogen. Ruckartig zieht der Wirt die Rute zurück. Ein Prachtexemplar einer Regenbogenforelle hat angebissen. Nach kurzem Kampf hievt er sie ins Boot und ergreift mit festem Griff den zappelnden Raubfisch. Krallt seinen Daumen und Zeigefinger in dessen Kiemen. Packt den Kopf des Fisches und mit einem gekonnten, kräftigen Ruck bricht er ihm gnadenlos das Genick. Im nächsten Augenblick hängt die Forelle bewegungslos in seiner Hand. Norman füllt den Eimer mit Wasser und wirft den toten Fisch hinein.

      Er überlegt, ob er an dieser Stelle bleiben soll, oder einen neuen Platz aufsuchen sollte. Sein Blick tastet dem Ufer entlang. Plötzlich erkennt er eine Gestalt, die am Ende des Steilhangs liegt.

      Wer sonnt sich bereits früh am Morgen, noch dazu am Fuße des Abbruchs? Auf dieser Gesteinshalde, fragt er sich und rudert zur Felswand. Vielleicht wird seine Hilfe benötigt? Trockenen Fußes ist diese Stelle nicht zu erreichen. Nur schwimmend oder mit einem Boot. Instinktiv erhöht Norman die Schlagzahl. Er dreht sich um. Der Körper ist bekleidet. Hose, Hemd und Schuhe. Daher ist es nicht anzunehmen, dass dieser Mensch zu der Stelle geschwommen ist, aber ein Boot sieht er nicht. Soviel er sich erinnert, fehlt auch keines am Steg.

      Er dreht sich nochmals um. Der Körper liegt kopfüber. Die Gliedmaßen stehen in unnatürlichem