Wolfgang Priedl

PUNKTUM.


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gegen einen Felsen. Er verliert beinahe das Gleichgewicht.

      Ohne auszusteigen, erkennt er, dass hier jede Hilfe zu spät kommt. Der Körper liegt mit dem Kopf abwärts, das Gesicht halb ins Wasser getaucht. Das rechte Knie ruht auf einem großen Stein, es ist unnatürlich nach hinten durchgebogen. Die weißen Tennisschuhe sind stellenweise dunkelrot gefärbt. Die Jeans an manchen Stellen aufgerissen. Das T-Shirt teilweise vom Rücken gefetzt. Norman erkennt den Verschluss eines Büstenhalters.

      Er schreit auf, er brüllt: »NEIN!«

      Gleich darauf nochmals. Die Wälder auf der einen und die Steilwand auf der anderen Seite des Sees werfen seine Schreie mehrfach hin und her, als würden sie mit einem, sich zerbröselnden Tennisball spielen. Jedes Mal ein wenig leiser, bis sie endgültig von der Stille verschluckt werden.

      Ohne das zertrümmerte Gesicht gesehen zu haben, ahnt er, wer vor ihm liegt. Dicke Tränen laufen ihm über die breiten Wangen. Die Hände zittern wie Espenlaub. Er ringt nach Luft.

      Hektisch wendet er die Nussschale und rudert mit mächtigen Schlägen zurück zum Steg. Schon von Weitem hört er seinen Vater rufen: »Warst du das vorhin, der so geschrien hat?«

      »Warte, bin gleich bei dir!«, ruft Norman, ohne den Kopf zu wenden. Steif klettert er auf den Bootssteg. Die tote Forelle, die mit dem Bauch nach oben und offenem Maul im Eimer schwimmt, lässt er im Boot.

      »Vater, sie ist tot. – Sie liegt auf der Abraumhalde der Erlöserwand …« Der Schock spiegelt sich in Normans Gesicht wider. Schier unerträgliche Müdigkeit erfasst ihn.

      »Wer ist tot? Wer liegt da drüben?«, fragt der alte Thilo mit erregter Stimme.

      Sein Sohn versucht, den Namen der Toten zu artikulieren, aber seine Stimmbänder versagen kläglich ihren Dienst. Zittrig zeigt er mit dem Arm in Richtung des Seeblickzimmers.

      Thilo schaut hinauf und erkennt, was ihm Norman mitteilen will. Er greift sich mit beiden Händen an den Mund. Vor Schreck reißt er die Augen weit auf und starrt seinen Sohn ungläubig an.

      »Bist du dir sicher?«, presst der Alte die Worte zwischen den Fingern hervor.

      Norman antwortet mit wirrem, zustimmendem Kopfnicken.

      »Hast du die Polizei verständigt?«, fragt der Alte.

      Norman schüttelt den Kopf.

      »Wir müssen sie sofort verständigen … «

      »Mein Mobiltelefon – liegt – liegt – in der Küche«, stammelt Norman und reibt sich über seine geröteten Augen.

      »Ich hab meines hier … «, antwortet der alte Mann entsetzt und wählt die Notrufnummer.

      »Danke.« Norman ist erleichtert, dass nicht er mit der Polizei sprechen muss.

      »Bergmann hier. Wir haben einen Toten gefunden … am Bergsee … nein, nicht ich, mein Sohn, Norman, Norman Bergmann … die Leiche liegt drüben, am Fuße der Steilwand. Ist vermutlich von der Aussichtsplattform gestürzt … Danke … Wann werden Sie hier sein? … Schnellstmöglich. Aha. Ich verstehe…. Ja, wir warten auf der Hotelterrasse auf Sie. … Mein Name? Thilo Bergmann, ich bin Normans Vater. … Bis gleich … Auf Wiederhören.«

      »Wer kommt?«

      »Sie schicken eine Streife. Kripo wird verständigt. Wer genau, wissen sie nicht. Es hängt davon ab, wer heute Dienst hat. Er hat irgendetwas von Selbstmord gesagt und da ist eine Abteilung so und so vom LKA zuständig.«

      Norman steht noch immer wie versteinert am Bootssteg und fixiert mit seinen Blicken die Erlöserwand. Unfähig sich zu rühren. »Weißt du, dass ich sie sehr mochte? Pa.«

      »Ja, das ist mir nicht verborgen geblieben. War in all den Jahren nicht zu übersehen.«

      »Ich glaube, sie hat heute Nacht nicht in ihrem Zimmer übernachtet.«

      »Bist du dir sicher?«

      »Lass uns nachsehen. Ich muss es wissen … «

      Thilo schnappt sich den Eimer mit dem toten Fisch und sie stapfen hinauf zum Hotel. Norman blickt an der Rezeption auf das Schlüsselbrett. Der Schlüssel für das Zimmer 301 – Seeblickstüberl – fehlt. Sie fahren mit dem Aufzug nach oben. Klopfen an die Zimmertür. Keine Antwort.

      Norman zeigt auf den Schlüssel, der im Schloss steckt. Thilo drückt die Klinke und öffnet die Tür. Das Bett ist unberührt. Kein Gepäck zu sehen. Die Etagere ist leer. In der Minibar fehlt nichts. Keine persönlichen Dinge stehen herum.

      »Wie gibt es das? Ihr erster Weg war immer auf ihr Zimmer. Sie hat mich doch gestern begrüßt und meinte, sie sei durstig. Ich habe ihr gesagt, dass die Minibar voll ist, und der Zimmerschlüssel steckt. Sie wollte sich später bei mir melden. Hat sie nicht getan. Vielmehr sah ich sie am Nachmittag mit unserem Pfarrer in Richtung Seeblick aufsteigen. Der kam aber alleine den Steig wieder herunter. Ohne sie. Ich habe sogar eine Weile zugewartet … «

      »… steht ihr Auto am Parkplatz?«

      »Der alte Golf? Den habe ich das ganze Wochenende nicht gesehen. Die einzigen Autos, die in der Früh hier gestanden sind, waren die Fahrzeuge der Gäste und der unser Jeep. Die drei Männer sind heute Morgen abgereist.«

      »Das ist eigenartig … «, sagt Thilo leise. Nachdenklich spricht er weiter: »Pass auf, wenn die Polizei kommt, beantworte nur ihre Fragen. Erzähle ihnen nichts, was über die Fragen hinausgeht. Halte dich mit Informationen zurück … «

      »… Warum das?«, unterbricht ihn Norman.

      »Erzähle ich dir später, in einer ruhigen Minute. Ich habe einen Verdacht. Ist eine lange, traurige Geschichte. – Vertraue mir bitte. Ich will in nichts unnötig hineingezogen werden. Ich will nicht, dass man falsche Schlüsse zieht«, beschwört Thilo seinen Sohn.

      Norman nickt irritiert.

      Als die beiden im Erdgeschoss aus dem Fahrstuhl steigen, hören sie das Heranbrausen des Martinshorns der Polizei. Sie gehen hinaus auf die Terrasse, wo zwei Uniformierte die Treppe heraufkommen. Im Hintergrund, auf dem Parkplatz blinken eintönig die blauen Lichter des Einsatzwagens. Sie begrüßen die Polizisten und stellen sich einander vor.

      »Und wo ist die Leiche?«, will der Größere wissen.

      »Sie finden sie drüben, bei der Felswand«, antwortet Norman und zeigt in die Richtung.

      »Wie kommt man dort hin? Gibt es einen Weg?«

      »Nein, die Stelle ist nur mit einem Boot zu erreichen. Oder sie schwimmen. Trockenen Fußes geht's nicht.«

      Der kleinere der beiden Polizisten greift zu seinem Telefon und gibt die Informationen weiter.

      »Die Kriminalpolizei ist unterwegs«, sagt er und steckt sein Mobiltelefon wieder in die Brusttasche.

      »Kripo? Wieso Kripo?«, will Norman wissen.

      »Die Polizei muss bei ›gewaltsamen Tod‹ eingeschalten werden. Egal, ob Unfall oder Mord. In dem Fall, scheint es sich um Selbstmord zu handeln … «

      »Selbstmord?«, fragt Norman zögerlich. »Kann es sich nicht um einen Unfall gehandelt haben?«

      »Egal. Von dieser Wand sind doch schon einige Menschen in den Freitod gesprungen … «

      »Das ist aber Jahrzehnte her … «

      »… Auch wenn es Jahrzehnte her ist, das bedeutet nicht, dass es nicht jederzeit wieder passieren kann. Aus diesem Grund gehen wir vom Schlimmsten aus. – Von Suizid.«

      Thilo und Norman nicken, senken ihre Blicke zu Boden, als wollten sie nach entsprechenden Erinnerungen suchen.

      Ein weiterer Einsatzwagen trifft ein. Die Beamten unterhalten sich. Schreiben Notizen in ihre Blöcke. Nach einer Weile hört man aus der Ferne das typische Folgetonhorn der Feuerwehr. Aufgrund des Echos, hätte man meinen können, dass es eine Vielzahl