Wolfgang Priedl

PUNKTUM.


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Seeblick? In deinem Zustand? Bist du dir sicher. Du weißt, der Aufstieg ist beschwerlich.«

      »Joseph, ich war schon oft dort oben. An diesem Ort habe ich immer Ruhe gefunden. Das hilft mir. Willst du mich begleiten? Würde mir viel Spaß bereiten.«

      »Selbstverständlich. Mache ich. Warte, ich hole mir nur die Bergschuhe aus der Sakristei. Du gehst mit deinen Tennisschuhen?«

      Maria nickt.

      Nachdem er seine Schuhe gewechselt hat, schlendern sie durch den Wald hinüber zum See, wo ihnen ein Wegweiser die Richtung zum Seeblick weist. Zu Beginn ist die Steigung noch mäßig, aber je mehr sie an Höhe gewinnen, desto beschwerlicher wird der Weg. Mehrfach kommen sie an kleinen Ausbuchtungen vorüber, die einen wunderschönen Ausblick über das Tal gewähren. An einer pausieren sie, und Maria genießt die beeindruckende Gegend. Am liebsten würde sie sie umarmen. Streichelt sanft den See mit ihren Blicken. Sie sieht zum Parkplatz, wo die drei Autos noch immer parken. Ob sie bald verschwinden werden, fragt sie sich. Ihre Gedanken beginnen um den Mann mit dem typischen herben Herrenduft, den sie seit Jahren mit sich trug, zu kreisen. Keinen ihrer Gedankenstränge kann sie zu Ende denken, kann sie endgültig abschließen. Wie aus dem Nichts entspringen immerzu neue Bilder vor ihrem geistigen Auge. Sie ist froh, Joseph an ihrer Seite zu wissen.

      Dem Pfarrer bleibt ihre Geistesabwesenheit, ihre Versonnenheit, nicht verborgen. Als sie die Aussichtsplattform erreichen, fragt er sie: »Alles in Ordnung? Geht es dir gut?«

      Seine Freundin antwortete ihm mit einem Knappen: »Relativ«, während sie sich ein Lächeln abringt.

      Joseph legt ihr den Arm um ihre Schultern. Schweigend stehen sie eng umschlungen und betrachten das Smaragdgrün des Sees. Ruhig, friedlich liegt er vor ihnen. Die spiegelglatte Oberfläche wird nur von einem Ruderboot gestört, das auf das Hotel zusteuert.

      »Der alte Thilo kehrt zurück. Hat wohl wieder eine kleine Seerundfahrt gemacht, um sich fit zu halten – feiert er heuer nicht seinen fünfundachtzigsten Geburtstag?«, bemerkt der Geistliche rhetorisch.

      Maria löst sich aus der Umarmung ihres Freundes und geht in Richtung Abhang. Für Joseph zu nahe. Er macht ein paar rasche Schritte auf sie zu und zieht sie vehement zurück. Dabei verliert er fast das Gleichgewicht. Seine Schuhe haben den Halt auf dem geschotterten Untergrund verloren.

      »Was war das denn? … «, will sie von ihm wissen und reibt sich die Schulter.

      »Ach nichts, bin nur ausgerutscht.«

      Anscheinend hört sie die Antwort nicht, vielmehr setzt sie zu einem ähnlichen Gespräch an, wie sie es heute schon einmal geführt hatten. Joseph versucht, wieder mit den gleichen Argumenten zu überzeugen. Er sucht verzweifelt nach einer ultimativen Lösung für Maria. Doch er findet keine. Aussichtslose Verzweiflung scheint nun auch von ihm Besitz zu ergreifen. Er ist am Ende seines Lateins angelangt! Er setzt auf Zeit. Er hofft, dass all die Worte, die er in den vergangen Dekaden mit ihr gewechselt hatte, endlich greifen würden.

      Oder gibt es doch eine ganz andere Lösung, die er bisher nicht in Erwägung gezogen hat?

      In diesem Augenblick klingelt sein Mobiltelefon. »Moser. Grüß Gott! … äh, wann? … Geben Sie mir eine dreiviertel Stunde. Ich mache mich sofort auf den Weg.«

      »Schlechte Nachricht?«, fragt Maria neugierig.

      Josephs Miene wirkt wie aus Stein gehauen. Tiefe Besorgnis spricht aus seinen Augen. »Eines meiner Schäfchen möchte das Sakrament der Krankensalbung, die ›letzte Ölung‹ wie sie früher genannt wurde, empfangen. Es geht dem Ende zu. Maria, kannst du mich ins Dorf zurückfahren?« Eigentlich will Joseph nicht von seiner Freundin chauffiert werden, aber wie sollte er sonst ins Tal kommen? Dass Norman sofort für ihn Zeit hat, davon kann er nicht ausgehen.

      »Hier ist der Autoschlüssel. – Ich bleibe noch eine Weile hier«, schlägt Maria vor und drückt ihm den Wagenschlüssel in die Hand. »Ich möchte den Ausblick genießen und meine Gedanken ordnen. Du hast mir heute schon sehr geholfen … «

      »Kann ich dich wirklich hier alleine lassen?« Seine Freundin nickt mehrmals. »Gut, aber bleibe nicht zu lange, schau, dort drüben ziehen bereits die ersten Gewitterwolken über den Bergkamm. – Ich bringe dir den Wagen später wieder.«

      »Joseph, das ist nicht nötig. Ich brauche bis Sonntag kein Auto. Wenn doch, melde ich mich bei dir. Und das soll jetzt nicht heißen, dass du nicht jederzeit willkommen bist. Wir bleiben in telefonischem Kontakt.«

      Joseph beschleicht ein ungutes Gefühl, bei dem Gedanken, seine Freundin hier oberhalb der Felswand zurückzulassen.

      Maria drückt ihm einen Kuss auf die Lippen. »Wir sehen uns. – Auf Wiedersehen.«

      *

      Kurz nach dem Wetterleuchten entluden sich die Wolken. Ein schweres Unwetter wütete für Stunden in der Region. Es schüttete, dass man meinen konnte, das Ende der Welt sei angebrochen. Genauso schnell wie das Gewitter aufzog, ebenso rasch war der Spuk wieder vorbei.

      Die Scheinwerfer des Autos tauchen die Gebirgsstraße in ein eigentümliches Licht. Viele kleine Äste liegen verstreut auf der längst aufgetrockneten Fahrbahn. Die Abkühlung tut gut. Die Uhr auf dem Armaturenbrett zeigt 23:32.

      Joseph biegt in den Parkplatz des Berghofs ein. Das Hotel liegt bereits im Dunkeln. Kein Licht erleuchtet mehr das Restaurant. Die Laternen wiegen sich im kalten Wind. Der Pfarrer steigt aus dem Wagen, hört leise Männerstimmen von der Hotelterrasse und schreitet gemächlich zum Bootssteg hinüber. Er schaut vom Ende des Steges zurück zum Seeblickzimmer, in dem kein Licht brennt.

      Den Tod eines lieben, langjährigen Freundes erlebt man nicht jeden Tag. Joseph sehnt sich plötzlich selbst nach einer verständnisvollen Schulter.

      Als er bei dem alten, todkranken Bauern heute seine tröstenden Worte sprach, fiel ihm das Wort ›erlösen‹ auf. Der Erlöser, der am Kreuz für uns gestorben ist, erlöse uns von dem Übel. – Wovon will uns Gott erlösen? Von unserem mühevollen Leben? Um was zu erreichen? Das ewige Leben? Gott erlöst uns von einem kurzen Leben, um es gegen ewiges Leben zu tauschen?!

      Nein, die Heilige Schrift muss man im Ganzen lesen – nicht einzelne Sätze extrahieren und sie neu zusammensetzen.

      Aber wurde sein langjähriger Freund heute Abend wirklich erlöst? Nur weil er ohne Bewusstsein, ohne Herzschlag in seinem Bett lag.

      Er wurde er von seinem Siechtum erlöst. … Doch er hat es mit seinem Leben bezahlt. – Eine zu einfache Lösung.

      Wäre es da nicht logischer gewesen, wenn er ihn schon früher von seinen Qualen erlöst hätte. Ihm gnadenvolle Sterbehilfe angedeihen lassen hätte? Einzig, sein Freund hat ihn nicht darum gebeten. Wäre es deshalb moralisch verwerflich gewesen? Aber wenn er dazu aufgefordert worden wäre? Hätte er sich je zu Gottes rechter Hand aufgeschwungen? Hätte er je die Rolle des Erlösers übernommen? Wenn ja – wann hätte er die Rolle übernehmen dürfen, wann war der richtige Zeitpunkt, um zu handeln – um ihm den ultimativen Frieden angedeihen zu lassen, den sich verzweifelnde, leidende Menschen so sehnlich herbeiwünschen?

      Joseph verheddert sich immer tiefer in seinen Gedanken. Kälte steigt in ihm auf. Sie überdeckt seine Fantasien. Er schaut hinaus auf den See und hat Mühe, die tiefschwarze Finsternis mit seinen Blicken zu durchdringen. Nur schemenhaft erkennt er die Steilwand, an die sich scheinbar ein schweres, schwarzes Leichentuch schmiegt.

      Der kühle Wind bahnt sich seinen Weg unter Josephs Soutane, als wollte er sich dort wärmen. Dem Pfarrer fröstelt.

      Verstört, über den Tag nachdenkend, stapft er zurück zum Parkplatz, an den Booten vorüber, in denen Wasserlachen im Rhythmus der Wellen von einer Seite zur anderen schwappen. Er hört das gleichmäßige Plätschern der Dünung an den Bootsplanken und fragt sich, ob er heute alles richtig gemacht hat.

      Joseph ist froh, nicht mit dem Motorrad zum See gefahren zu sein. Es ist einfach zu kalt.