Wolfgang Priedl

PUNKTUM.


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schaue ich dir lediglich über die Schultern. Du brauchst ja kein Wort zu sagen.«

      Peter überlegt. Sieht Claudia tief in die Augen. »Und du glaubst, darauf falle ich herein?«

      »Ich räume dir das absolute Vetorecht ein. Ohne deine Zustimmung schicke ich nichts in die Redaktion. Du musst mir den Artikel freigeben. Das ist doch ein Angebot? Oder? … Du siehst, du kannst nicht verlieren. … Und ich kann nur gewinnen«, strahlt Claudia über das ganze Gesicht, ohne mit den Augen zu klimpern.

      »Du machst, was I C H dir sage?«

      Der Redakteurin steigt die Röte in die Wangen. Sie nickt verlegen und senkt ihren Blick. Das plötzliche Läuten des Telefons hilft ihr über die Situation hinweg.

      »Bigler.« Nach einer kurzen Pause: »Kann ich dir nicht sagen. Sitze hier auf der Terrasse, mit einem netten Bekannten, inmitten der Berge. Blicke auf einen smaragdgrünen See. Hier lässt es sich aushalten. Wir sollten irgendwann ein Wochenende hier verbringen. Toll hier.«

      Claudia hält ihr Telefon noch eine kurze Weile ans Ohr, beendet wortlos das Gespräch und wendet sich wieder Peter zu. »OK. Wo waren wir gleich stehen geblieben? – Ach ja, weiß schon. Können wir gerne ausprobieren … «

      »Aber nicht schummeln«, ermahnt er sie, ohne auf ihr Telefonat einzugehen.

      »Großes Klosterschülerin-Ehrenwort!«

      *

      Claudia schießt von der Terrasse aus einige Fotos, als die Leiche in einem funktionalen, schmucklosen Aluminiumsarg vom Boot getragen wird. Der Sarg wird in einen kleinen, faltbaren Pavillon mit weißen Stoffseitenwänden gebracht, der auf dem Parkplatz errichtet worden ist, wo der Gerichtsmediziner mit den Mitarbeitern ungestört seiner Aufgabe nachgeht.

      »Servus, kannst du mir schon Genaueres sagen?«, fragt der Kommissar den Arzt, der die Brille bis zur Nasenspitze vorgezogen hat, und ihn über den Brillenrand anschaut.

      »Na ja, jedenfalls nicht alltäglich. Die Identifizierung wird nicht einfach. Sie ist mit ziemlicher Sicherheit die Felswand herabgestürzt. Unzählige Knochenbrüche. Das Gesicht ist zur Unkenntlichkeit zertrümmert. Da werden wir auch keinen brauchbaren Zahnabdruck mehr abnehmen können. Ihr Genick ist ebenfalls gebrochen. Auf dem Hinterkopf haben sich Holzsplitter in die Kopfhaut gebohrt und sie partiell skalpiert. Willst du es dir anschauen?«

      »Äh, nein danke«, wehrt Peter das nicht gerade verlockende Angebot ab. »Ich muss nicht alles sehen. Mir genügen deine Fotos. Kampfspuren?«

      »Gute Frage. Ich werde die Leiche noch im Detail untersuchen, aber bis auf die Holzsplitter, sieht nach einem Sturz aus ca. zweihundert Meter Höhe aus. Sie hatte sich regelrecht zwischen den Felsbrocken verkeilt. War nicht leicht, sie zu bergen … «

      »Holzsplitter? Wieso? Was ist da so ungewöhnlich an denen?«, hakt Peter instinktiv nach.

      »Die Holzsplitter können von einem Baum, oder dicken Ast, oder von – was weiß ich – herrühren.« Der Arzt schiebt seine Brille zur Nasenwurzel zurück. »Rest wie immer. Sagen wir montags.«

      »Todeszeitpunkt?«

      »Schwer zu bestimmen. Ich muss noch die gestrigen Temperaturen checken. Das nächtliche Gewitter kommt erschwerend dazu. Aber aufgrund der durchnässten Kleidung, den Totenflecken – grob geschätzt, gestern später Nachmittag, früher Abend.«

      Der Kommissar bedankt sich, zieht sein Mobiltelefon aus der Hosentasche und tippt die Nummer der Spurensicherung ein.

      »Peter hier. Habt ihr etwas Brauchbares gefunden?«

      »Ja und Nein«, lautet die Antwort. »Nein, weil wir nichts am Felsenrand, an der Kante, entdeckt haben. Ja, weil es hier jede Menge von Fußspuren gibt. Besonders eine sticht hervor. Eine ungewöhnliche Rutschspur, die in einem Profilabdruck eines Bergschuhes endet … «

      »Daraus folgt?«

      »Es könnte sich um Kampfspuren handeln. Komm rauf und sieh es dir an … «

      Peter seufzt tief und blickt den steilen Weg entlang zur Seeblick-Plattform hinauf.

      5

      Anna verweigert sich ihren samstäglichen Prosecco. Sie fährt hinaus zum Stadtrand, wo sie aufgewachsen ist. Wo ihre Mutter eine schöne große Wohnung besitzt. Auf der Fahrt hört sie die aktuellen Nachrichten zur vollen Stunde. Nichts, das sie beunruhigen könnte. Anna hofft insgeheim, dass ihr ihre Mutter öffnen würde, wenn sie klingelt.

      Sie drückt auf den Knopf neben dem Namen Steiger. Wartet. Presst nochmals ihren Finger auf den Kopf. Tiefer. Keine Antwort.

      Schließlich schließt sie das Haustor auf und nimmt die Treppen nach oben. Wirre Gedanken schießen ihr durch den Kopf. Was wäre, wenn sie ihre Mutter regungslos am Boden vorfände, nachdem sie von der Leiter gestürzt war? Halb verdurstet. Bewusstlos. Nur eine von zahlreichen Vorstellungen, die sie beim Hinaufgehen quälen.

      An der Wohnungstür läutet sie erneut. Klopft an die Tür. Lauscht.

      Nichts.

      Anna dreht den Schlüssel zweimal im Schloss, öffnet langsam die Tür und betritt in die Wohnung. Sie riecht die abgestandene Luft und ruft laut nach ihrer Mutter. Stille. Keine Antwort.

      Mittlerweile haben sich ihre Augen an die ungewöhnliche Dunkelheit angepasst. In jedem Zimmer sind die schweren Vorhänge vorgezogen. Grau in Grau erkennt man gerade noch die Umrisse der Wohnungseinrichtung. Anna tippt auf den Lichtschalter. Kein Strom. Sie betätigt im Sicherungskasten die FI-Schalter. Aus dem Schlafzimmer hört sie das leise, eintönige Piepsen des Radioweckers. Sie geht zu den Fensterfronten und zieht die Vorhänge zur Seite. Anschließend kippt sie die Fenster, öffnet die Balkontür und lässt frische Luft in die Wohnung strömen.

      Anna fragt sich, womit sie anfangen sollte. Wonach wollte sie suchen? Ihre Mutter war anscheinend verreist. Es sieht jedenfalls danach aus. Fenster geschlossen, von Vorhängen verhüllt, die beiden Sicherheitsschlösser an der Eingangstür, doppelt versperrt.

      Sie beginnt zögerlich jedes Zimmer zu inspizieren. Das Wohnzimmer ist geschmackvoll eingerichtet, wie auf den Fotos der Hochglanz-Einrichtungsmagazine. Keine herumliegenden Zeitungen, keine getragenen Kleidungsstücke die auf Sesseln hängen, stören die Ordnung. Sogar der Notizblock wird feinsäuberlich von einem Bleistift griffbereit flankiert. Die Wohnung ist penibel aufgeräumt, was wiederum typisch für Menschen ist, die Angst vor der Außenwelt haben.

      Das ist meine Mutter, denkt Anna. Sie betritt das Badezimmer. Sie schaut auf die Etagere. Ihr fällt sofort auf, dass die Zahnbürste fehlt. Auch ihr heiß geliebtes Parfum befindet sich nicht auf dem angestammten Platz. Sie öffnet den Unterschrank. Der Haarföhn liegt nicht an seiner Stelle. Der Kulturbeutel glänzt ebenfalls durch Abwesenheit.

      Anna erinnert sich an die zahllosen Diskussionen, als sie noch hier gewohnt hat, und als sie nach dem Duschen die einzelnen Utensilien nicht an ihren Ort zurückgelegt hat. Wie oft hat sie damals gesagt: ›Ma, die Welt geht nicht unter, nur weil ich das Ding nicht sofort auf seinen Platz zurückgegeben habe.‹. Ihre Mutter hat immer mit dem gleichen Satz geantwortet: ›Die Welt geht deshalb nicht unter, aber du machst es mir schwerer. Ich habe die doppelte Arbeit. – Ich bin diejenige, die ständig hinter dir herräumen muss!‹

      Anna hat damals ihre Mutter nicht verstanden. Heute weiß sie, wovon sie gesprochen hat. Heute weiß sie, wie selbstverständlich es sein kann, blind nach Gesuchtem zu greifen. Und dafür ist sie ihrer Mutter dankbar, dafür liebt sie sie.

      Anna wechselt ins Schlafzimmer hinüber. Der Radiowecker blinkt in kurzen Abständen. Sie inspiziert den Bekleidungskasten. Die kofferartige Reisetasche fehlt. Sie faltet die Türen des Schrankes auf. Ein belegter Kleiderbügel reiht sich an den nächsten. Sie lässt ihren Zeigefinger von einem Kleid zum anderen springen. Das blaue Lieblingskleid ihrer Mutter fehlt, genauso wie das weiß-rot-gestreifte.