Thomas Hoffmann

Schatten der Anderwelt


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gegenüberliegenden Raum hinter der Flügeltür. Norbert konzentrierte sich erneut. Er kämpfte gegen den lähmenden Horror an, der ihn überfiel. Da war das kaum beherrschbare Gefühl, von einem zum Sprung ansetzenden Raubtier fixiert zu werden. Irgendwo hallte grollendes Röcheln. Norbert murmelte einen Bannzauber und öffnete zugleich sein Bewusstsein, um zu sehen, was es war, das hier von drüben herüberdringen wollte. Da war ein Atemhauch unmittelbar an seinem Ohr. Tiefes Grollen - bestialischer Gestank wollte ihm die Sinne rauben.

      „Rhe!“

      Er riss das Schwert heraus und fuhr herum. Die Klinge leuchtete hell. An der Tür stieß Elmar ein Stoßgebet hervor.

      Nichts zeigte sich. Norbert wusste, dass es in unmittelbarer Nähe war, aber er konnte es nirgends verorten.

      Heftig atmend stand er mit vorgehaltenem Schwert und erwartete den Angriff aus dem Nichts. Es kam kein Angriff. Norbert zwang sich, sich auf das Diesseits zu konzentrieren, um nicht unversehens hinübergezogen zu werden von dem unsichtbaren Feind. Als nichts geschah, steckte er das Schwert wieder in die Scheide. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn.

       Ich kann immer noch gehen. Ich kann einfach weggehen. Ich muss hier nicht sterben!

      Er riss sich zusammen.

      Zu Elmar sagte er: „Ich muss mich umsehen. Ich muss herausfinden, wo das herkommt – diese Anderwelterscheinung. Dann kann ich sie vielleicht bannen.“

      Der Diener hob schicksalsergeben die Schultern. Er sagte nichts, aber es war ihm anzusehen, dass er überall lieber wäre, als in diesem heimgesuchten Stockwerk.

      Drüben im Kabinett war das Bild des Ratsherrn von der Wand gefallen, überlegte Norbert. Es hatte eine Bodenvase zerschmettert. Aber Norbert mochte nicht dorthin zurückgehen, so lange der Hausherr dort saß. Eine besondere Anwesenheit – außer der ungreifbaren, feindlichen Gegenwart, die überall zu spüren war, hatte er im Kabinett nicht bemerkt. Sie wäre ihm aufgefallen.

      Er betrat den schmalen Gang auf der rechten Seite. Flackernde Wandkerzen verbreiteten unruhiges Licht. Die getünchten Wände waren kahl. Im Erker stand eine Figur aus glattem Stein. Sie zeigte einen nackten Jungen in vorgebeugter Haltung. Er stützte sich mit der linken Hand auf sein Knie, in der anderen hielt er am ausgestreckten Arm eine Scheibe oder einen Teller nach hinten von sich weg. Das Standbild ergab keinen Sinn, fand Norbert. Elmar war ihm unauffällig gefolgt.

      „Der Diskuswerfer,“ erklärte er.

      Norbert wusste nicht, was ein Diskuswerfer war und er hatte keine Lust, nachzufragen. Vorsichtig drückte er die Klinke der Tür gegenüber vom Erker hinunter. Sie war unverschlossen. Vor dem Fenster an der Seitenwand eines hohen Zimmers lag schwarz die Nacht. Ein Standleuchter neben der Tür warf unruhiges Licht in den Raum. Die Kerzen auf dem eisernen Deckenleuchter waren nicht entzündet. Unter dem Fenster stand eine Kommode, an der gegenüberliegenden Wand eine eisenbeschlagene Truhe und auf der linken Seite gegenüber dem Fenster ein großer Wandschrank. Zwischen den Möbelstücken hingen Wandteppiche. Sie schienen Jagdszenen zu zeigen. Der Leuchter stand dicht bei der Tür neben dem Wandschrank, so dass der hintere Raumbereich, wo die Truhe stand, im Schatten lag. Was sich in den dunklen Raumecken links und rechts von der Truhe befand, war nicht zu erkennen.

      Die Truhe! Im fahlen, jenseitigen Licht, das sie umgab, konnte Norbert die schwere Truhe deutlich in der Finsternis erkennen. Ein Gefühl wie von tastenden Fingern rieselte ihm den Rücken herunter. Die Kerze auf dem Leuchter flackerte in einem plötzlichen eisigen Windhauch. Das Licht tanzte auf den Wandteppichen. Es sah aus, als wehten sie im Wind. Norbert trat auf den Gang hinaus und schloss die Tür. Er hatte gesehen, was er gesucht hatte.

      „Was ist in der Truhe?“

      „Keine Fragen!“ donnerte die Stimme des Hausherrn vom anderen Ende des Gangs her.

      Norbert biss sich auf die Lippen. Es musste auch so gehen. Er ging durch den Gang zurück in den Raum mit der Flügeltür. Neben dem Bären stand der Ratsherr, angefletscht von dem ausgestopften Ungetüm. Sein brennender Blick begegnete Norbert. Norbert holte Luft und trat auf ihn zu. Sein Herz klopfte wie wild.

       Will ich das? Soll ich das wirklich tun?

      Zum Hausherrn hörte er sich sagen: „Ich muss mich vorbereiten. Es wäre besser, wenn nachher kein anderer mehr in diesem Stockwerk ist. Es könnte lebensgefährlich werden.“

      Der Ratsherr nickte grimmig.

      „Ja, das wird es wohl,“ murmelte er. „Tu, was du zu tun hast.“

      Den Diener blaffte er an: „Den Wein, Elmar!“

      „Sehr wohl, Herr. Ich eile.“

      Aber Elmar folgte Norbert doch nur mit langsamen Schritten durch die Flügeltür.

      Im vorderen Raum rang die Hausherrin mit von Tränen benetztem Gesicht die Hände.

      „Was ist mit Hartmut? Was hat er, Elmar?“ weinte sie. „Was ist denn geschehen?“

      Sie richtete ihren entsetzten Blick auf Norbert.

      „Und was will dieser bewaffnete Schurke hier? Wer schickt ihn? Oh Elmar, ich spüre, dass etwas Schreckliches passieren wird!“

      „Alles ist gut, gnädige Frau, macht Euch keine Sorgen,“ sagte der Diener im Vorbeigehen. „Der gnädige Herr ist wohlauf. Die schweren Geschäfte nehmen ihn sehr in Anspruch. Geht nur unbesorgt zu Bett. Ich richte Millie aus, sie möchte Euch einen Baldriantee zur Nacht bringen.“

      Verzweifelt starrte die verhärmte Frau dem Diener und Norbert nach.

      „Heilige Mutter von Altenweil,“ betete sie mit bebender Stimme. „Heilige Mutter, beschütze uns.“

      ***

      Während sie durchs Treppenhaus hinuntergingen, raunte Elmar: „Jene Truhe im Erkerzimmer ist die alte Reisekiste des gnädigen Herrn aus der Zeit seiner, ähm,“ er räusperte sich, „Handelsreisen.“

      In der dunklen Küche entzündete der Diener eine Kerze. Er blickte Norbert mit seinem traurigen Vogelgesicht an.

      „Gutes Gelingen, junger Herr! Von der Dienerschaft wird über Nacht niemand im Haus sein. Sie alle und auch meine Wenigkeit verbringen die Nacht bis Tagesanbruch im Nebengebäude. Um die gnädige Frau mach dir keine Gedanken. Sie ist nervenkrank. Sie wird in ihrem Schlafzimmer bleiben. Der gnädige Herr wird, wenn ich nicht irre, noch eine Zeitlang im Kabinett verweilen und sich dem Wein widmen. Möglich, dass er geruht, dort in Schlaf zu fallen.“

      Der Diener ließ Norbert allein, um dem Ratsherrn den Wein zu bringen.

      Norbert setzte sich an den Küchentisch, stützte den Kopf in die Hände und starrte ins Kerzenlicht. Auf was hatte er sich da eingelassen! Jetzt wäre der Moment günstig, zu gehen – zur Tür hinaus über den Hof auf den Platz hinaus, den verruchten Ort hinter sich zu lassen, unverletzt und am Leben! Aber er brauchte das Geld! Auf welche andere Weise hätte er es sich verdienen können?

      Er schloss die Augen. Um die Anderwelterscheinung aus dem Diesseits zu verbannen, musste er sie dazu bringen, sich zu... zeigen, oder so ähnlich. Dreyfuß hatte für alle diese Dinge andere, gelehrte Worte gehabt, die Norbert sich nicht merken konnte. Aber das wichtige war, es durchführen zu können, nicht, es erklären zu können. Wenn Norbert die wirkliche Gestalt – oder so ähnlich - der Geistererscheinung erkannte, konnte er hoffentlich herausfinden, was sie ans Diesseits fesselte. Und dann konnte er sie vertreiben – für eine Weile, hoffte er. Und schließlich konnte er den Hausbewohnern erklären, hoffentlich, was sie tun mussten, um die Ursache für die Heimsuchung zu beheben, damit sie nicht wiederkam. So hatte Dreyfuß es immer gemacht.

      Dreyfuß hatte vor einem solchen Ex..., Exor..., Norbert konnte sich das Wort nicht merken – vor einer solchen Geisteraustreibung alle möglichen Hinweise darauf gesammelt, worum es sich handeln könnte. Auch die nebensächlichste Beobachtung konnte wichtig sein, um auf die richtige Spur zu kommen, hatte er immer betont. Wenn man erst einmal im Kampf war mit was auch