Thomas Hoffmann

Schatten der Anderwelt


Скачать книгу

grinsenden Bären durch die Flügeltür und hinab in die Halle. Er ging an dem Altarbild des Mädchens mit den verdrehten Augen und dem Hirschkitz im Schoß vorüber und über die Küche in den Hof. Die Gassenhunde, die im nachtdunklen Hof nach Fressbarem schnüffelten, nahmen vor ihm Reißaus. Erst auf dem im fahlen Mondlicht liegenden Platz merkte er, dass er das Schwert noch immer in der Faust hielt. Er steckte es in die Scheide und machte sich auf den Weg ins Armenviertel, schwankend vor Erschöpfung.

      3.

      „Halt still!“

      „Oh verdammt, du reißt mir die ganze Haut auf!“

      „Unsinn, ich muss dir die Glassplitter herausziehen. Lehne dich zurück in den Stuhl! Und halt still!“

      Norbert saß in dem mit Decken ausgelegten Lehnstuhl an der Feuerstelle des Schankraums im Gasthof zum schwarzen Raben und zuckte bei jedem einzelnen Splitter zusammen, den die Harfenspielerin ihm aus der Gesichtshaut zog. Ihr konzentriertes Gesicht war nahe seinem und er konnte den frischen Duft ihrer blonden Haare riechen. Sie trug die Haare offen und warf sie jedes Mal mit einer Handbewegung über die Schultern zurück, wenn ihr Haar auf Norberts dreckstarrende Wolljacke herunterfiel. Seine Lederjacke hing über einer Stuhllehne. Noch immer tropfte Blut aus dem zerrissenen Ärmel, wenn Norberts Schulterwunde auch durch einem Heilzauber der Bardin bereits verheilt war. Und wie am Abend zuvor hatte ein Schluck von dem magischen Elixier der Bardin Norbert von seiner abgrundtiefen Erschöpfung befreit.

      Jetzt fuhr sie mit den Fingern dicht über seine Gesichtshaut und zog Splitter für Splitter mit einer magischen Formel heraus.

      Norbert fuhr auf: „Aua, verdammt nochmal!“

      Nüchtern, ohne in ihrer Tätigkeit innezuhalten, meinte sie: „Du lässt dich alleine, auf eigene Faust, auf einen Kampf auf Leben und Tod mit einem Poltergeist ein und jetzt schreist du bei jedem Splitterchen, als würdest du massakriert! Warum hast du nicht gesagt, was du vorhast?“

      Norbert hatte Schweißperlen auf der Stirn.

      „Was hätte das schon geändert? Lonnie hat mir geholfen. Au, sei doch vorsichtig!“

      Am Tisch bei der Feuerstelle saßen Gordon und der weißhaarige Magier und beobachteten, wie Norbert verarztet wurde. Weiter hinten im Schankraum wischte Sarah Tische ab und stellte Stühle hoch. Norbert hatte geglaubt, zu dieser Nachtstunde würde niemand im Gasthof mehr auf sein, aber es schien, die drei und Sarah hatten auf ihn gewartet.

      Die Harfenspielerin zog den letzten Splitter aus Norberts Gesicht, bewegte ihn an ihrer Fingerspitze hängend über den Tisch und ließ ihn auf den Haufen Glassplitter fallen, der sich dort angesammelt hatte. Sie fuhr Norbert mit der Hand übers Gesicht, wie sie es zuvor schon mit seinen Händen gemacht hatte und murmelte eine Zauberformel. Norberts Gesichtshaut juckte. Er betastete sein Gesicht vorsichtig mit den Händen. Alles schien heil. Er hatte geglaubt, die blonde Magierin hätte ihm die gesamte Haut vom Gesicht geschält.

      Seufzend stand er auf und ging zu Gordon und dem Alten an den Tisch. Gordon schob ihm einen Humpen Bier hin. Norbert trank gierig. Er atmete tief durch, als er den Humpen absetzte. Aus irgendeinem Grund meinte er, sich rechtfertigen zu müssen.

      „Es hätte ja, verdammt nochmal, geklappt. Ich hatte den Untoten ja schon unter Kontrolle, mit Hilfe von Lonnie. Ich war dabei, ihn, wie sagt man das, auszutreiben, oder so, und es wäre auch gelungen, wenn dieser Hartmut Hohenwart sich nicht dazwischengedrängt hätte. Die waren alle völlig kirre in dem Haus, völlig durchgeknallt.“

      Der Alte lehnte sich vor.

      „Es ist dir doch gelungen, Junge! Dass dieser Ratsherr seine Schuld nicht mehr ertragen hat, da hast du nichts mit zu tun. Eigentlich hätten sie dich bezahlen müssen.“

      Norbert zuckte verbittert die Achseln.

      „Was nützt das jetzt schon? Es kommt so oder so aufs Gleiche hinaus. Irgendwie scheint alles umsonst zu sein, was ich mache!“

      Der alte Zauberer schüttelte den Kopf.

      „Nein, Junge, du hast eben Pech gehabt. Nächstes Mal kann es wieder anders sein. Wir alle haben irgendwann schon mal 'ne Pechsträhne gehabt. Ich bin jetzt achtundsechzig Jahre alt. Was glaubst du, wie viel mir in meinem Leben schief gegangen ist, wie vieles einfach völlig daneben ging? Und lohnt es sich da nicht erst recht, zu leben? Immer wieder was Neues anzufangen? So ist das Leben! Sogar unser Wirt hier hat ein Auge verloren, um...“

      „Davon muss hier jetzt nicht geredet werden,“ unterbrach Gordon ihn barsch.

      Der Alte hielt mitten im Satz inne.

      Leise meinte er: „Wie du meinst. Ich dachte nur, der Junge...“

      „Das ergibt sich schon!“ knurrte Gordon.

      Norbert wusste nicht, wovon die Rede war.

      Sarah kam an den Tisch und setzte sich neben Norbert. Mit einer schnellen Kopfbewegung warf sie ihren Pferdeschwanz über die Schulter zurück. Sie betrachtete Norberts dreckige Wolljacke und rümpfte ganz leicht die Nase.

      Eine blöde Bemerkung von dir kann ich jetzt gerade gebrauchen! dachte Norbert wütend.

      Aber sie sagte: „Mark war hier, bis vor zwei Stunden. Er hat auf dich gewartet.“

      „Aha? Ja, schade, dass ich ihn nicht mehr getroffen hab.“

      Norbert war nicht in der Stimmung, über irgendwas zu plaudern.

      „Er hat berichtet, der Markgraf verlangt, dass du auf die Burg kommst. Spätestens morgen. Der Markgraf will mit dir sprechen.“

       Stern meiner Geburt! Der Markgraf!

      Norbert war erst zweimal oben auf der Burg gewesen. Beim ersten Mal, als er auf eigene Faust den Burgschmied aufsuchte, war ihm vom Anblick der Geschundenen im Burghof, des in einem Käfig aufgehängten zum Tode Verurteilten, der bei lebendigem Leib von Krähen gefressen wurde, dermaßen übel geworden, dass er sich nach seiner Rückkehr zum Turm erbrechen musste. Beim zweiten Mal sollten Dreyfuß und er in einem Gerichtsverfahren vor dem Markgrafen die Schuld oder Unschuld einer Angeklagten beweisen. Die Gefolterte konnte nicht mehr stehen, als die Kerkerknechte sie hereinschleppten. Sie starb noch während der Gerichtsverhandlung an den Folgen der Folter.

      Und jetzt befahl der Markgraf Norbert, vor ihn zu treten! Nach der Katastrophe, den Verwüstungen und den unzähligen Toden, die sein Lehrmeister in der Stadt verursacht hatte! Erschreckt starrte Norbert auf seinen Bierhumpen.

      „Aha. Danke, dass du's mir ausgerichtet hast.“

      Sarah bemerkte seine Wortkargheit und stand auf. Sie machte die Andeutung eines Schnupperns und rümpfte noch einmal die Nase.

      Im Weggehen bemerkte sie: „Ich hab in der Waschkammer eine Kerze brennen lassen. Das Waschwasser ist noch warm. Wenn du Lust hast, kannst du dich waschen, bevor du ins Bett gehst. Keine Sorge, du hast die Kammer garantiert für dich allein. Jetzt stört dich da niemand!“

      Norbert kochte innerlich.

       Aufspringen, das Schwert rausreißen und ihr mit einem Kriegsschrei den Pferdeschwanz abschlagen!

      Gordon und die Harfenspielerin sprachen miteinander über irgendetwas. Ihren unbeteiligten Gesichtern nach zu urteilen schienen sie nicht zugehört zu haben.

      Die Bardin rückte vom Tisch ab, setzte die Harfe auf ihren Schoß und spielte leise ein paar Klänge, die sich zu einer verhaltenen Melodie über dunklen, tiefen Akkorden entwickelten. Immer wieder wollten die tiefen, schweren Klänge die schüttere Melodie übertönen, doch bei jedem Aufbranden dunkler Akkorde wurde die Melodie deutlicher, stärker. Endlich mischte sich eine andere, rhythmisch voranschreitende, klare Melodie in das Spiel. Die beiden Melodien erhoben sich über die dunklen Klänge, verdrängten sie, wurden zu einem Lied voller Siegesgewissheit und Freude.

      Norbert lauschte mit geschlossenen Augen. Die Musik legte sich wie eine heilende Hand