Thomas Hoffmann

Schatten der Anderwelt


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ließ sich treiben mit der Musik. Als die letzten Harfentöne verklangen, stand er auf, nickte Gordon noch einmal zu und verließ den Schankraum, um schlafen zu gehen.

      ***

      In der Waschkammer zog Norbert seine Sachen aus, benetzte seinen Körper mit Wasser und schrubbte sich Staub, Dreck und verkrustetes Blut von der Haut. Er schüttete sich warmes Wasser über den Kopf und massierte prustend sein Gesicht, als könnte er mit dem Schmutz der vergangenen Wochen auch die bösen Erinnerungen aus seinem Kopf spülen. Und es kam ihm wirklich so vor, als könnte er das noch immer an seiner Haut klebende Entsetzen von sich abwaschen und einen Schlussstrich ziehen unter das Vergangene: die Hölle von Darulans Haus, sein Sehnen nach Melanie und dem kleinen Zimmer bei Elena, die irrsinnigen Experimente und Anderweltfahrten im Gefolge seines Lehrmeisters. Als könnte er all diese Erinnerungen ein für alle Mal von sich abschütteln und neu anfangen.

      Er wusch sein Leinenhemd mit der Kernseife, die auf dem Rand des Waschbottichs lag, wrang es aus und zog es sich nass über den Leib, drückte die wollene Schlupfjacke im Wasser durch, presste das Wasser heraus und breitete sie auf der Bank zum Trocknen aus. Sie war an der Schulter arg zerfetzt, aber andere Sachen hatte er nicht. Von der Lederhose wusch er den Dreck ab, bevor er sie anzog. Die Stiefel waren ihm gleichgültig. Im Schlamm der Gassen blieben sie ohnehin nicht sauber. Seine Lederjacke hatte er im Schankraum vergessen. Er mochte nicht zurückgehen und sie holen. In Hose und Hemd ging er hinauf in sein Zimmer. Er stellte das Schwert ans Kopfende des Bettkastens – habe immer deine Waffe bereit! So sehr war er bereits vom Abenteurerdasein geprägt - und warf sich ins Bett.

      Er fand keinen Schlaf. Aufgewühlt von den Schrecken der vergangenen Tage warf er sich zwischen den Laken umher. Erst jetzt, da die fiebernde Anspannung nachließ, in der er sich befunden hatte, seit er auf der Landstraße die Rauchwolken über den Mauern Altenweils erblickt hatte, brach das Entsetzen über das Geschehene in ganzer Schwere über ihn herein.

      Noch vorgestern früh nach dem Morgenimbiss hatte er vor der Herberge in Köhlershofen gesessen und geglaubt, er habe alles Grauen hinter sich, hatte sich Pläne voller Hoffnung zurechtgelegt. Und nun... was war ihm geblieben?

      Visionen von splitterndem Glas und lodernden Flammen standen ihm vor Augen, dazwischen Schreie Verbrannter und das Kreischen von Dämonen. Das grässliche Geräusch, mit dem der Eisenleuchter sich haarscharf neben ihm in den Boden rammte.

      Elenas boshafte Greisenstimme: „Hat ihren Traumprinz gefunden, das dumme Mädchen!“

      Stöhnend vor Qual wälzte Norbert sich umher. Das nasse Hemd klebte ihm am Leib. Unvermittelt kam ihm Ruths entsetztes Gesicht in den Sinn, im nächsten Augenblick von seinem Schwert in einen Blutklumpen verwandelt. Ihr gurgelnder Schrei beim Sturz in den Abgrund. Norbert fuhr zusammen. Darulan! Würde der Hexer ihn nicht verfolgen? Würde er nicht Rache nehmen für den Mord, den Norbert verübt hatte, den Diebstahl des Ritualgesangs, die Flucht aus der Gefangenschaft in seinem Haus? Er hatte auch Lonnie verfolgt. Vor zwanzig Jahren in Köhlershofen hatte sie sich im Brunnen ertränkt, um nicht von dem Hexer in die Hölle zurückgeschleppt zu werden, der sie entkommen war. Erst vor wenigen Tagen hatte sie Norbert ihr Schicksal offenbart.

      Mit einem Ruck setzte Norbert sich auf. Durch das halbgeöffnete Pergamentfenster fiel bleiches Mondlicht ins Zimmer. Jeden Moment glaubte er, die Lederschwingen eines großen Flughunds vor dem Fenster auftauchen zu sehen. Mit einem Satz war er beim Fenster und schloss die Fensterflügel. Mit rasendem Puls kauerte er sich zurück aufs Bett, lehnte sich mit angewinkelten Beinen mit dem Rücken gegen die Wand. Der Hexenmeister war alles andere als dumm. Schon bei Norberts Ankunft in seinem Haus hatte Darulan ihn für einen Abenteurer gehalten. Er würde wissen, wo er nach Norbert suchen musste!

      Erst nach durchwachten Stunden, die Norbert wie eine Ewigkeit vorkamen, als das Licht des untergehenden Monds rötlich wurde, verwandelte sich das Entsetzen in Norberts Kopf in dumpfe Leere. Er legte sich zusammengekauert aufs Bett, tastete nach seinem Schwert und schloss die Augen. Irgendwo im Haus erklangen Harfentöne. Norberts Angst beruhigte sich. Er fiel in traumlosen Schlaf.

      ***

      Als er wach wurde, war der Morgen bereits angebrochen. Benommen schälte er sich aus den Laken und setzte sich auf. Es dauerte eine Weile, bis die bleierne Müdigkeit nachließ. Nach dem kurzen Schlaf zitterte sein Körper in der Morgenkälte. Er zog Rotz hoch, wischte sich die Nase mit dem Handrücken und streifte die Hand am Bettlaken ab. Dann massierte er sein Gesicht. Er schämte sich wegen der Angst in der Nacht.

      Im hellen, nüchternen Morgenlicht schienen alle Schrecken weit weniger bedrohlich. Es würden sich immer Wege finden, hatte Gordon ihm einmal gesagt. Der Hexenmeister mochte mächtig sein, aber letzten Endes war er doch nur ein Mensch. Und auch Norbert beherrschte Magie! Mit wütender Entschlossenheit biss er die Zähne zusammen. Ein Feind mehr, der ihm auf den Fersen war – was machte das schon aus? Im Gornwald würde Lonnie, die Wolfsbanshee, an seiner Seite sein. Zu zweit würden sie dem Hexer gewachsen sein, sollte er es wagen, in ihre Nähe zu kommen.

      Während er sich anzog, überlegte er, was er als nächstes tun sollte. Der Markgraf verlangte, dass er auf die Burg kam. Womöglich, um sich für die Katastrophe zu verantworten, die sein Meister verursacht hatte. Oder auch nur, weil der Markgraf ihn ausfragen wollte – ihn gar noch im Schindturm von seinen Folterknechten verhören lassen wollte. Besser, er ging gar nicht erst hinauf. In der Stadt konnte er sich gegen die Kriegsknechte zur Wehr setzen, sollten sie versuchen, ihn zu stellen. Oben auf der Burg war er in der Falle. Am besten, er verließ die Stadt so schnell wie möglich. Vielleicht borgte Gordon ihm Geld für einen Jagdbogen. Vermutlich wusste der Wirt des Schwarzen Raben, wo Norbert Jagdbogen und Pfeile auftreiben konnte.

      Er verließ das Zimmer und ging hinunter in den Schankraum.

      ***

      Aus der Waschkammer holte er seine wollene Schlupfjacke und streifte sie noch feucht über. In der Tür zum Schankraum schlug ihm Wärme entgegen. Ein Feuer prasselte auf der Feuerstelle. Der Schankraum war leer bis auf Gordon und die Bardin, die am Tisch bei der Feuerstelle zusammensaßen. Neben dem vierschrötigen, riesigen Wirt, dessen aufgekrempelte Kittelärmel sich über seinen Oberarmmuskeln spannten, sah die schlanke Frau in ihrer eng anliegenden, weichen Lederkleidung beinahe zierlich aus. Ihr blondes, offen über die Schultern herabfließendes Haar glänzte seidig. Sogar ihre Stiefel waren sauber, stellte Norbert mit Verwunderung fest.

      Es wäre ihm lieber gewesen, der Harfenspielerin nicht begegnen zu müssen. Aber sich in eine Ecke des Gastraums zu verdrücken kam nicht in Frage. Er setzte sich zu den beiden an den Tisch. Gordon nickte ihm zu. Norbert wusste, dass der harte Blick, den der Wirt ihm aus seinem gesunden Auge zuwarf, freundschaftlich gemeint war. Gordon stemmte die Arme auf den Tisch und stand auf.

      Mit einem geknurrten: „Frühstück ist fertig,“ ging er nach hinten zur Küche.

      Norbert blickte stumm auf die Tischplatte. Ihm fiel nichts ein, was er sagen könnte. Die blonde Abenteurerin – Bardin, Magierin oder was auch immer sie sein mochte – betrachtete ihn schweigend aus ihren hellen, seltsamen Augen, die Norbert nicht ansehen konnte, ohne irritiert zu sein. Sie war einen halben Kopf größer als Norbert, so dass er den Eindruck hatte, von oben herab von ihr angeschaut zu werden. Es war ihm peinlich, so stumm neben ihr zu sitzen, aber es wollte sich beim besten Willen kein Gedanke einstellen, den er hätte äußern können. Also schwieg er und nickte nur leicht mit dem Kopf in ihre Richtung, um nicht wie eingefroren dazusitzen.

      Es war die Bardin, die endlich das Schweigen brach: „Ich komme mit auf die Burg zum Markgrafen.“

      „Wie?“ Norbert blieb der Mund offen stehen.

      Völlig aus der Fassung gebracht stotterte er: „Ich wollte ja gar nicht... ich hatte gar nicht vor...“

      „Wir gehen zusammen hin,“ sagte sie.

      Ihr Gesicht war offen und freundlich aber da war etwas in ihrem Blick, das es Norbert unmöglich machte, ihr zu widersprechen.

      „Ja, danke,“ murmelte er, völlig überrumpelt von der neuen Wendung der Ereignisse.

      Gordon