erfahren? Da war diese alte Truhe. Melanie hatte einmal heimlich mit dem Sohn des Ratsherrn hineingeschaut. Sie hatte ihm gesagt, was darin lag. Er hatte es sich nicht gemerkt. Was hatte er noch herausgefunden? Sein Kopf war leer. Er konnte das nicht, was Dreyfuß „recherchieren“ nannte. Er war unter Siedlern im Wald aufgewachsen. Er hatte nie eine Schule besucht. Recherchieren, das war das Wort! Aber das half ihm auch nicht weiter.
Seufzend stand er auf. Vor dem Küchenfenster lag die Nacht. Gegenüber im Fenster des Nebengebäudes brannte Licht. Die Dienstleute waren anscheinend nicht schlafen gegangen. Vermutlich saßen sie da drüben, wo sie sich in Sicherheit wähnten, und warteten darauf, wie das Ganze ausgehen würde. Norbert war es recht. Im Herrenhaus wären sie ihm nur im Weg gewesen. Dreyfuß hatte den Hausbewohnern immer streng verboten, auch nur in die Nähe einer Geisteraustreibung zu kommen.
Die Stille wurde von dumpfem Poltern unterbrochen, wie wenn oben im Haus ein schwerer Gegenstand zu Boden stürzte. Stiefelschritte hallten auf den Dielen.
Es ging los. Norbert holte tief Luft und schloss für einen Moment die Augen.
Stern meiner Geburt, steh mir bei!
Er löschte die Kerze, ging auf den Gang hinaus und schloss leise die Küchentür hinter sich. Mit einem Zauberspruch ließ er magisches Licht aufleuchten. Er wollte die Stiege zum Hochparterre hinaufsteigen, als er ein Knarren von der Küche her hörte. Leise ging er zurück und legte das Ohr an die Tür. Tatsächlich, es war das Knarren einer Tür - der Küchentür, der einzigen anderen Tür, die in die Küche führte. Geflüster drang aus der Küche hinüber. Das Dienstpersonal hatte offenbar doch nicht vor, die Sache im Nebengebäude abzuwarten. Sie hatten ihn nur glauben machen wollen, sie würden nicht im Haus sein! Vielleicht hatten sie auch nur vermeiden wollen, dass er ihnen Fragen stellte. Norbert richtete er sich auf. Langsam, die Hand am Schwertgriff, ging er den Gang entlang zur Stiege. In diesem Haus waren alle verrückt! Es war ein Irrenhaus - ein von dämonischen Mächten heimgesuchtes Irrenhaus.
***
Die Kerzen im Hochparterre waren noch nicht heruntergebrannt und Norbert benötigte kein magisches Licht. Vor dem Heiligenbild in der Halle kniete die Hohenwarterin. Mit wiegendem Oberkörper und gefalteten Händen murmelte sie Gebete. Als Norbert durch die Halle schritt, fuhr sie zusammen und starrte ihm mit von Entsetzen verzerrten Gesichtszügen nach. Norbert versuchte, sie nicht zu beachten.
Im ersten Stock öffnete Norbert vorsichtig die Tür zum Kaminzimmer. Sehr wachsam und konzentriert trat er durch die Tür, die Hand am Schwertgriff, bereit, sofort einen Bannzauber zu wirken. Das Bild über dem Kamin war herabgestürzt und lag mit zerbrochenem Rahmen am Boden. Die Kerzen auf den Leuchtern neben dem Kamin flackerten in einem kalten Luftzug. Eisige Finger tasteten Norbert übers Gesicht, krochen ihm den Rücken herunter. Ein hohles Stöhnen drang wie von weit her an seine Ohren. Es hatte ihn bemerkt. Es wusste, dass er kam. Und sehr wahrscheinlich wusste es auch, wozu.
Hinter der Flügeltür knarrten schwere Schritte auf den Dielen, begleitet von einem Klirren, das Norbert nicht deuten konnte, weil er keine Stiefelsporen kannte.
Im Raum hinter der Flügeltür war niemand. Der ausgestopfte Bär gähnte verloren ins Leere. Die Tür zum Kabinett war geschlossen. Mit geschärften Sinnen trat Norbert durch die Doppeltür. Ein Hauch fuhr seine Wange entlang. Hohles Kreischen hallte durch das Stockwerk. In einem plötzlichen Windstoß erloschen die Kerzen. Norbert riss das Schwert aus der Scheide. Mit vorgehaltenem Schwert blieb er stehen. Mit aller Macht versuchte er, seinen Atem zu kontrollieren. Sein Puls raste. Die Schwertklinge strahlte hell auf. Schatten schienen im Raum zu tanzen.
Nicht ablenken lassen! Weiter! Zu spät, zu fliehen! Geh weiter!
Magisches Licht hervorzubringen hätte ihm nur die Konzentration geraubt. Auf alles gefasst, mit allen Sinnen auf jegliche noch so kleine Regung in der Dunkelheit achtend ging er weiter. Jeden Moment erwartete er den Angriff.
Da war es! Kehliges Grollen eines Raubtiers unmittelbar an seinem Ohr, übler Brodem eines aufgerissenen Mauls.
Er wirbelte herum, schrie den Bannzauber heraus: „Rhe!“
Sein Schwert blitzte auf. Scharfer Schmerz in seiner linken Schulter. Er fühlte warmes Blut herabrinnen. Im selben Atemzug schlug er zu. Ein krachender Lichtblitz leuchtete im Dunkeln auf.
Stille. Nichts war zu hören, außer Norberts eigenem, heftigem Atem, dem Pochen des Bluts in seinen Schläfen. Für den Moment hatte er es vertrieben, mit dem magischen Schwert und dem Bannzauber. Aber es konnte jeden Moment erneut losschlagen. Vorsichtig bewegte er die linke Schulter, dann den Arm, die Hand. Außer brennenden Schulterschmerzen war alles in Ordnung. Nur ein Kratzer! Die Lederjacke war zerfetzt, aber sie hatte das meiste abgefangen. Er ignorierte das in den Ärmel herabrinnende Blut und konzentrierte sich erneut auf seine Aufgabe.
Nicht nachdenken, du bekommst sonst Panik. Weiter! Weiter durch den Gang in den Raum gegenüber dem Erker, zur Truhe! Dort kannst du es stellen!
Vorsichtig, mit hellwachen Sinnen einen Fuß vor den anderen setzend, ging er mit vorgehaltenem Schwert voran. In der Tür zum Gang tanzte ein fahles Licht. Ein blutiges Schwert schwebte mitten in der Luft. Blut tropfte auf die Schwelle.
Nicht ablenken lassen! Geh weiter!
Die Erscheinung verschwand.
Im kalten, strahlenden Licht der Schwertklinge warfen alle Dinge unruhige Schatten durch den Raum. Durch die Fenster sickerte fahles nächtliches Halblicht. Von weit her drang Röcheln an Norberts Ohren wie von einem Sterbenden. Er trat über die Schwelle in den Gang. Das Röcheln wurde zum Brüllen. Ein heftiger Windstoß fuhr Norbert entgegen, steigerte sich zum Sturm. Fensterscheiben klirrten. Mit aller Macht stemmte Norbert sich gegen den Sturmwind, um nicht von den Füßen gerissen zu werden. Das Leuchten seiner Schwertklinge flackerte, als wollte es erlöschen.
„Rhe!“
Unendlich langsam schob er sich gegen den Sturm den Gang entlang. Es war, als müsse er eine unmögliche Steigung erklimmen. Der Sturm wollte ihm den Atem rauben. Norbert konzentrierte sich auf den Bannzauber. Um ihn her brüllte, orgelte die Luft.
Er hatte keinen Gedanken mehr, als: weiter! Geh weiter! Kämpfe es nieder!
Vor der Tür gegenüber dem Erker hörte der Sturm urplötzlich auf. Norbert stolperte vornüber und musste sich an der Wand abstützen. Sofort hatte er sich wieder gesammelt. Seine Schwerthand zitterte. Er versuchte, es zu ignorieren.
Das alles ist nur Vorspiel gewesen, nur Ablenkung. Jetzt beginnt der Kampf!
Und da war niemand, der ihm beistehen konnte.
Umkehren kam nicht in Frage. Er biss die Zähne zusammen, konzentrierte sich und öffnete die Tür.
Dunkelheit. Um die Truhe an der gegenüberliegenden Wand glühte blaues Anderweltleuchten. Vorsichtig betrat Norbert den Raum. Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt.
Ein scharfer Knall. Die Fensterscheiben explodierten. Die Luft war voller Glassplitter. Sie bohrten sich in Norberts Ledermontur, rissen ihm Hände und Gesicht auf. Stechender Schmerz raubte ihm die Konzentration.
Meine Augen!
Er spürte Panik von der Brust durch die Kehle aufsteigen. Überall im Gesicht und in seinen Händen brannten Schmerzen. Im nächsten Augenblick hatte er sich wieder unter Kontrolle. Er öffnete die zusammengepressten Augen.
Den Sternen sei Dank – sie waren unversehrt.
Blut rann ihm übers Gesicht.
Das blaue Licht um die Truhe wuchs. Norbert konzentrierte sich auf einen Beschwörungszauber.
Wolfsgrollen unmittelbar neben ihm ließ ihn aufmerken.
Lonnie!
Die Wölfin stand neben ihm, zum Sprung geduckt, mit aufgerissenem Rachen und hochgezogenen Lefzen. Mit gelb glühenden