Irene Dorfner

ENDSTATION


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in Gefahr und das durfte nicht sein, sonst wären die letzten Jahre voller harter Arbeit und Entbehrungen doch völlig umsonst gewesen.

      Verstand Martlmüller richtig? Hatte Brigitte Dickmann gerade mehrfach betont, dass sie auch nicht wisse, wo Esterbauer war? Er beobachtete sie genau. Sie vermied jeglichen Blickkontakt. War das Taktik, damit Thiel nichts mitbekam?

      „Keiner weiß, wo Uwe ist. Ich habe heute mit dem Chef der Mühldorfer Kripo gesprochen. Die tappen noch völlig im Dunkeln.“ Martlmüller startete einen letzten Versuch, von Brigitte Dickmann einen eindeutigen Hinweis zu bekommen. Endlich sah sie ihn an und schüttelte mit dem Kopf. Sie wusste es tatsächlich nicht! Konnte das wahr sein? Was war schiefgelaufen?

      „Mich wundert das nicht. Diese Provinz-Polizisten sind mit einem solchen Fall doch völlig überfordert.“, sagte Xaver Thiel. „Wir sollten München einschalten.“

      „Das liegt nicht in unserem Entscheidungsbereich. Ich vertraue auf die hiesige Polizei“, sagte Martlmüller, der keine Sekunde an die Fähigkeiten der Provinzler glaubte. Er kannte Krohmer aus Kindertagen und mochte ihn nicht. Mit ihm an der Spitze konnte die Mühldorfer Polizei nichts sein. In Martlmüllers Augen machten die sowieso nur Dienst nach Vorschrift und hinkten bei allem hinterher. Nein, die Ermittlungen waren bei den Mühldorfern genau richtig aufgehoben. Eine übereifrige Polizei, die überall ihre Nase reinsteckte, konnte er nicht brauchen.

      „Wir brauchen Esterbauer, ohne ihn sind wir aufgeschmissen.“

      Eine heftige Diskussion entbrannte, in der vor allem Thiel seinen Frust abließ. Bis zu den Wahlen war nicht mehr viel Zeit. Wie sollte es weitergehen? Sollten sie darauf warten, ob Esterbauer doch noch auftauchte und alles auf eine Karte setzen? Brigitte Dickmann betonte erneut, dass sie nicht an eine Rückkehr Esterbauers glaubte. Sie brauchten eine neue Strategie.

      „Wir müssen schnell handeln. Wir brauchen einen neuen Kandidaten und eine noch aggressivere Werbung, sonst haben wir nicht den Hauch einer Chance. Allein mit unserem Parteiprogramm kommen wir nicht weit. In Bayern haben wir viele Anhänger gewinnen können, auf Bundesebene wird das ungleich schwieriger. Wir brauchen ein charismatisches Zugpferd, der für unsere Partei brennt. Wen schlagt ihr vor?“ Brigitte Dickmann drängelte. Sie hatte wegen dieser Besprechung Termine verschieben müssen. Den Termin heute Nachmittag um 16.00 Uhr in ihrer Kanzlei musste sie unbedingt einhalten.

      „Wir haben nur einen einzigen Mann, der dafür geeignet ist und auch zur Verfügung steht: Dieter Marbach.“

      Brigitte Dickmann und Xaver Thiel verdrehten die Augen.

      „Ja, ich weiß. Marbach ist kein begnadeter Redner. Mir gehen seine dummen Witze und das ständige Räuspern auch auf die Nerven. Hierin könnten wir ihn sicher noch verbessern, wenn wir ihm Profis zur Seite stellen, die ihn dabei unterstützen. Wir haben keinen anderen Mann, wir müssen ihn nehmen.“ Kilian Martlmüller kannte Marbach schon seit vielen Jahren. Sie schätzten sich, mochten sich aber nicht besonders. Das war innerhalb einer Partei auch nicht wichtig. Hier galt es, gemeinsame Ziele zu verfolgen und nicht, Freundschaften zu schließen.

      „Willst du das nicht doch übernehmen, Kilian? Du bist ein Mühldorfer und jeder kennt und mag dich.“, versuchte es Thiel erneut. Schon seit Jahren bekniete er Martlmüller, diesen Job zu übernehmen.

      „Das kommt überhaupt nicht in Frage, das weißt du doch. Nein, ich bin der Falsche dafür. Dieter Marbach ist unser Mann.“

      „Ist der nicht sauer, dass wir ihn übergangen haben?“

      „Sicher ist er das. Wenn wir auf ihn zugehen, wird er zunächst ablehnen und den Beleidigten spielen. Wir alle kennen Marbach. Der Mann ist von Ehrgeiz zerfressen und wird letzten Endes annehmen.“, stöhnte Thiel, der keine Lust auf den Mann und seinen Marotten hatte. Aber außer Kilian Martlmüller, der sich vehement weigerte, stand neben Marbach kein adäquater Kandidat zur Verfügung, sie mussten wohl oder übel in den sauren Apfel beißen. Dass er oder die Dickmann den Job übernahmen, stand außer Frage. Sie waren politisch interessiert und waren Feuer und Flamme für ihre Ziele, aber keiner wollte an die Front, ebenso wenig wie Martlmüller. Für diesen Job musste man sehr viel mehr mitbringen, dafür war keiner von ihnen geeignet oder bereit.

      „Lasst uns das Gespräch mit Marbach hinter uns bringen. Je eher wir mit der Umstrukturierung beginnen können, desto besser.“, entschied Thiel und rief Marbach an. Das Gespräch dauerte nicht sehr lange. Thiel hatte den Eindruck, als hätte Marbach auf den Anruf gewartet.

      „Wusste ich’s doch“, schmunzelte Marbach, als er aufgelegt hatte. Er saß immer noch mit seiner Frau beim Mittagessen. Er wusste ja, dass die Krisensitzung der Chefs stattfand – und er musste nur warten. Mehrfach hatte seine Frau Klara ihn auf den Grund des Essens angesprochen, aber er hatte nicht darauf geantwortet. Warum sollte er sich den Spaß nehmen lassen, ihr die Neuigkeit zu präsentieren, wenn er darum gebeten wurde? Noch lag alles in der Schwebe, noch hatte ihn die Parteispitze nicht auf den Posten angesprochen.

      Klara Marbach wurde immer ungehaltener. Sie waren längst mit dem Essen fertig und sie drängte darauf, endlich zu gehen. Sie hatte keine Lust mehr, in der bürgerlichen Gaststätte, die ihr Mann ausgesucht hatte, ihre Zeit zu vergeuden. Sie fühlte sich deplatziert zwischen den anderen Gästen, die nicht ihrem Niveau entsprachen. Klara spürte, dass ihr Mann irgendetwas vorhatte. Seine Laune war heute ausgesprochen gut, aber ihren Fragen wich er ständig aus. Was war los mit ihm? Als sie das Telefonat verfolgte, verstand sie endlich: Ihr Mann war wieder im Rennen! Er hatte es doch noch geschafft, als Spitzenkandidat auf Bundesebene antreten zu dürfen. Klar lag das hauptsächlich an dem Verschwinden Esterbauers, von dem ihr Mann vorhin als Erstes gesprochen hatte und das sie schockierte. Auch der Tod seiner Frau traf sie sehr, denn sie kannten sich, auch wenn sie sich nicht mochten. Warum die Frau getötet wurde, war Sache der Polizei und ging sie nichts an. Der Grund, warum ihr Mann jetzt wieder ganz vorne mitspielte, war ihr völlig gleichgültig. Nachdem ihr Mann im letzten Jahr dem neuen Spitzenkandidaten unterlegen war, war sie enttäuscht gewesen. Die vielen Entbehrungen und Mühen waren alle umsonst gewesen. Aber jetzt hatte sich der Wind gedreht und ihr Mann war jetzt am Ruder. Sie sah ihn mit anderen Augen an und lächelte. Wenn er die erforderliche Hürde schaffen würde, und davon war sie überzeugt, dann waren ihre Tage in Mühldorf gezählt, dann stand dem Umzug nach Berlin nichts mehr im Weg. Endlich raus aus dem Muff der Kleinstadt in die große, weite Welt. Sie musste einkaufen gehen, denn für die bevorstehenden Auftritte und Empfänge hatte sie nicht genug zum Anziehen. Wem sie wohl in Zukunft alles begegnen würde?

      „Klara? Träumst du?“ Dieter Marbach hatte mehrfach versucht, mit seiner Frau zu sprechen, aber sie hörte ihm nicht zu. Er wurde wütend, denn die Neuigkeit, die er zu berichten hatte, war immens wichtig.

      „Ja, mein Lieber, ich träume. Von Berlin und den vielen Auftritten, die ich mit dir gemeinsam haben werde“, strahlte sie.

      Marbach musste lachen. Klara hatte bereits verstanden, worum es in dem Telefonat ging. Was hatte er nur für eine schlaue Frau an seiner Seite! Klaras Leben würde sich jetzt schlagartig ändern und das schien sie ebenfalls zu wissen. Er hatte sie schon lange nicht mehr so glücklich gesehen. Ja, sie war klug, hübsch und sehr gebildet. Außerdem sprach sie mehrere Sprachen. Ein Talent, das er nicht hatte. Mit ihr an seiner Seite hatte er einen fetten Pluspunkt, den Esterbauer mit seiner blassen, nichtssagenden Frau nicht gehabt hatte. Gedanklich wischte er seinen Kontrahenten beiseite, der war Geschichte. Marbach freute sich auf eine rosige Zukunft mit der klugen, hübschen Frau an seiner Seite.

      Als Thiel zum vereinbarten Treffpunkt mit Marbach davonfuhr, stieg Martlmüller aus seinem Wagen und setzte sich zu Brigitte Dickmann in deren Wagen, der weitaus größer und protziger war, als seiner.

      „Du sagst mir jetzt auf der Stelle, was los ist. Wo ist Esterbauer?“

      „Habe ich nicht oft genug betont, dass ich es nicht weiß? Das Ganze ist komplett aus dem Ruder gelaufen. So sollte das alles nicht ablaufen. Esterbauer und seine Frau sollten nur verschwinden, ich habe niemals von Mord gesprochen.“ Brigitte Dickmann schlug mit der Hand aufs Lenkrad.

      „Was ist passiert?“

      „Das weiß ich nicht. Ich