Wilfried Stütze

Die ihre Seele töten


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statt, die nun wiederum Einfluss auf die Zusammensetzung des Rates hatten. Da wollte wohl einer das Wahlergebnis auf seine Weise beeinflussen.

      „Also der Tross wurde angegriffen: von Bauern. Sie waren die Einquartierungen, auf die Plünderungen und nicht selten Feuersbrünste und Vergewaltigungen folgten, leid und fingen an, sich zu wehren. Alle im Tross wurden erschlagen. Alle! Mit Dreschflegel und Sensen und was weiß ich noch. Später bei Stadtlohn, als Tilly den Halberstädter vernichtend schlug, hat Johann sich noch eine Kugel in den Unterschenkel eingefangen. Seitdem hinkt er. Unseres Herzogs Bruder, der tolle Halberstädter, wollte sich damals mit den Niederländern verbünden. Na, daraus wurde nichts – so viel zum Krieg, den wir alle nicht miterlebt haben. So sollte es auch bleiben.“ Aus der Stammtischrunde kam zustimmendes Gemurmel.

      „Warum hat sich Johann damals eigentlich anwerben lassen?“, wollte Andreas Duncker wissen. „Er war doch Büchsenschmied wie du.“

      „Du kennst die immer wiederkehrende Geschichte, Andreas.“

      „Ihr kennt sie alle“, mischte sich Camann ein. „Der Ältere übernimmt das Geschäft und der Jüngere will nicht als Geselle unter ihm arbeiten. Also geht er in die Fremde.“

      „Aber gleich in den Krieg?“, meinte der Wallmeister.

      „Jedenfalls haben die Feldzüge des Herzogs Christian, auch Bischof und Administrator von Halberstadt, unseres Herzogs Bruder, der tolle Halberstädter genannt … “

      „Caaamannn!!!“

      „Jedenfalls haben seine Feldzüge seinerzeit den Niedersächsischen Kreis mit in den Krieg hineingezogen. Der Kreis musste schließlich zu einem erheblichen Teil für Waffen und Ausrüstung sorgen. Und genau das kann uns wieder passieren!“

      Alle sahen Camann aus erstaunten Gesichtern an. Der setzte seine Justiziarmiene auf und fuhr auf die ihm eigene joviale Art fort.

      „König Gustav II., Adolf von Schweden hat offenbar Lust, die Kriegswirren noch zu vergrößern. Er ist ja nicht aus Spaß bei Peenemünde vor der Pommerschen Küste mit dreizehntausend Mann gelandet. Der hat seine eigenen Interessen.“

      Heinrich konnte nicht mehr an sich halten, sonst wäre er geplatzt. „Es kann mir keiner erzählen, dass es um den rechten Glauben geht, bestenfalls vordergründig. Dem Habsburger geht es um die Macht und um weiter nichts. Katholisch hin oder her. Er soll nur aufpassen, dass sein eigener Generalissimo Wallenstein ihn nicht unterbuttert. Man hört ja so einiges von den Fernhändlern. Gustaf Adolf ist auch nicht anders einzuschätzen, evangelisch hin oder her. Zu leiden haben immer die Bauern, Soldaten, Frauen und Kinder. Nein, wir alle!“

      Heinrich war ein ruhiger, besonnener Mann. Wenn er etwas sagte, hatte es Hand und Fuß. Das wussten alle. Sein Äußeres verstärkte möglicherweise den Respekt, den man ihm entgegenbrachte: seine stämmige, etwas gedrungene Figur etwa. Wenn seine Glatze, die er vorzuweisen hatte, einen Hauch von Haarkranz bekam, ließ er ihn sofort von Sarah abrasieren. Manchmal übernahm das auch Michael. Das wusste natürlich keiner.

      Der Ratsherr und Kämmerer Stender stolperte die Treppe vom „Haus zur Hanse“ herunter und stürzte fast, hätte ihn Camann nicht am Arm gepackt. „Was hast du eigentlich für Geschäfte, Ratsherr? Du bist doch unser Kämmerer. Geschäfte stehen da doch nicht an, oder?“ Stender riss sich los und meinte, deutlich nüchterner wirkend: „Ach was, war nur so ein Gerede. Habe wohl zu viel getrunken. Nichts für ungut, die Herren. Bis zum nächsten Stammtisch!“

      Leicht torkelnd entfernte sich der Kämmerer. Heinrich sah Camann an, sagte aber nichts. Man würde später bei einem privaten Besuch darüber sprechen.

      4

      Sarah schlug inzwischen das Buch zu. Sie kannte den Inhalt schon auswendig. Da waren die Informationen über die Führung eines Handelshauses, seine Struktur, Angaben über die Bearbeitung der Einnahmen und Ausgaben und vieles mehr. Dann kamen einige wichtige Texte zur Geschichte der Familie Don Miguel Francisco y Dominguez: etwa wie der Großvater für seine Verdienste um die spanische Krone die Hazienda und das Stadthaus bekommen hatte und in den Adelsstand erhoben wurde. Geschrieben stand auch, dass die Hazienda vererblich auf Ewigkeit der Familie Dominguez gehöre. An dieser Stelle hatte Sarah geflucht und keine Lust mehr, in dem Handelsbuch weiterzulesen.

      „Paah, die Ewigkeit hat nicht lange gedauert“, stieß sie hervor. Sie beruhigte sich augenblicklich wieder und gestand sich ein, dass sie bisher keinen Grund zur Klage hatte.

      Wie anders ist doch alles, wenn man jemanden liebt! Und es ist schön, geliebt zu werden, schmunzelte sie vor sich hin. Klar, ich denke schon manchmal an die unbeschwerte Kindheit, an die Sonne in Spanien und vor allem an die Pferde. Aber habe ich nicht eine prächtige Familie? Hinrich ist ein bisschen wild. Immer unterwegs und zu allerlei Unfug aufgelegt. Das legt sich bestimmt noch. Er wird mal ein guter Büchsenschmied und wird das Geschäft eines Tages übernehmen. Ein Tüftler wie Heinrich ist er allerdings nicht. Wieso der wohl schon seit Jahren an der Weiterentwicklung eines Verschlusses oder so ähnlich herumbastelt?, unterbrach sie sich selbst. Gut, wenn es ihm Spaß macht! Besonders die Jagdbüchsen haben es ihm angetan. Michael scheint sich bei Kaufmann Hermann Schrader auch wohlzufühlen. Er ist eher ein Denker. Na, und Anna schmeißt die Wirtschaft hier zu Hause mit mir, dass es eine wahre Freude ist. In letzter Zeit ist sie allerdings etwas durch den Wind.

      In Sarahs Gesicht zauberte sich unversehens ein glückliches Lächeln.

      Eine Schönheit mit ihrer schlanken Gestalt, den schwarzen Haaren, dazu die dunkelbraunen Augen, der bronzene Teint. Im Aussehen kommt sie wohl nach mir. Sarah errötete leicht. Im Wesen aber ist sie eher ruhig und kommt nach Heinrich. Eben eine natürlich wirkende junge Frau. Sie ist verliebt und denkt, ich merke das nicht. Heini hat jedenfalls noch nichts gemerkt. Männer!

      Sarahs Gedanken schwenkten plötzlich wieder zurück zum Buch.

      Das Geheimnis haben wir alle nicht herausbekommen. Als ob irgendetwas fehlt, kam es ihr in den Sinn. Sogar die schweren Holzdeckel haben wir an den Seiten aufgesägt, aber es war kein Hohlraum da. Es klang auch nicht hohl, wenn man in der Mitte auf den Deckel klopfte. Es muss wohl doch im Text verborgen liegen. Sei es drum! Wieso denke ich gerade heute so intensiv über alles nach?, sinnierte Sarah weiter. Es geht uns allen gut. Wir sind eine angesehene Familie. Heinrich gehört als Gildemeister zu den führenden Bürgern der Stadt, obwohl ihm das ziemlich egal ist. Auch dafür liebe ich ihn. Viele Frauen holen sich bei mir Rat, weil ich gelernt habe, mit Kräutern umzugehen. Manchmal kann ich bei Krankheiten helfen, dann ist die Freude groß. Sogar ein Pferd habe ich bei Freunden auf dem Land stehen. Na, und unser Haus hier am Meinhardshof kann sich sehen lassen. Die große Durchfahrt auf den Hof, die Fenster zur Gasse, nicht etwa mit Leinen oder Fischblasen ausgestaltet, sondern bleiverglast. Und …

      Sarah unterbrach ihre Gedanken.

       Die Zeitung AVISO, die wir seit Neuestem bekommen, hat von Krieg geschrieben. Vielleicht hängt es damit zusammen, dass ich in der Vergangenheit grabe. Der ist aber hoffentlich weit weg.

      Michael rauschte plötzlich in die geräumige Küche. „Du bist der reinste Wirbelwind“, mein Sohn. „Komm, hock dich hin. Es ist noch Suppe im Kessel.“

      „Ich sehe und rieche es. Dieser Duft! Du benutzt unseren alten Kamin mit dem eisernen Suppenkessel.“

      „Darin wird sie am besten.“

      „Warum bist du überhaupt noch auf, Mutter?“

      „Ach, mir war eben danach. Mir geht so manches durch den Kopf. Wo ist eigentlich Hinrich?“

      „In der Stadt natürlich. Der vergnügt sich ein bisschen.“

      „Vergnügt sich. Ich kann mir schon denken, wo der sich herumtreibt.“

      „Er ist alt genug, Mutter.“

      Beide schwiegen eine Weile, während Michael die Suppe löffelte und daran dachte, dass seine Mutter recht hatte. Hinrich ist tatsächlich im Bruch. Er wird es wohl