Wilfried Stütze

Die ihre Seele töten


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„Erzähl mir schon, was du vorhast!“

      Michael, jetzt etwas ruhiger, setzte sich auf einen Baumstumpf und stützte seine Arme auf den Knien ab.

      „Ich will Kaufmann werden.“

      „Aber das bist du doch schon. Später wirst du bestimmt Prokurist wie ich“, kam es jetzt doch etwas erstaunt von Alfonso.

      „Nein, nein. Der Handel hier ist interessant, aber irgendwie … wie soll ich sagen? … Zu klein, zu eng. Fernhandel will ich treiben, selbstständig, weißt du? Dazu muss ich aber noch viel lernen.“

      Er sagt „will“ und „muss“. Das ist so gar nicht seine Art, dachte Alfonso. „Ja, viel Geld brauchst du für dein Vorhaben auch. Wie willst du dich sonst selbstständig machen?“

      Ach, das ist noch weit hin. Ich habe da so meine Pläne. Vielleicht kann mir Vater mein Erbteil vorzeitig auszahlen? Vielleicht leiht mir auch Don Alfonso etwas oder beteiligt sich sogar am Geschäft? Vielleicht beteiligt sich auch Hinrich? Das wird sich alles finden, ging es Michael durch den Kopf.

      „Ich schaffe das, Don Alfonso.“ Michaels Augenfarbe wechselten ins Stahlblaue. Es wirkte kalt.

      Es war bestimmend und wie abschließend, keinen Widerspruch duldend. Er hat sich verändert, sinnierte Alfonso etwas verblüfft. Vielleicht hat er auch einfach nur einen Entschluss gefasst und will ihn jetzt umsetzen. Er ist eben ein Mann geworden, aber seine Augen … „Du musst mit deinen Eltern reden, Michael. Mach dir keine Sorgen: Sie werden es verstehen. Wo willst du überhaupt hin?“

      „Nach Nürnberg. Ich hoffe, bei den Fuggern unterzukommen. Die Fugger handeln mit unglaublich vielerlei Waren und überall hin, sei es innerhalb oder außerhalb der Hanse. Man sagt, sie handeln auch mit Geld.“

      Seine Augen sind wieder wasserblau, stellte Alfonso für sich selbst fest. „Von deinem Vorhaben bist du jedenfalls begeistert“, kam es lächelnd über seine Lippen. „Und die Fugger handeln auch mit Informationen. Darüber sollten wir später noch einmal sprechen.“

      „Warum bist du eigentlich zuerst zu mir gekommen?“

      Michael schaute Don Alfonso leicht abwesend an. Wie wird es Mutter aufnehmen?

      Er wusste, dass er ihr Liebling war, obgleich sie sich immer alle Mühe gab, alle Kinder gleich zu behandeln. Er wusste auch, dass er sie über alles liebte wie sonst nichts und niemanden auf der Welt.

      Hinrich und Anna bleiben ja zu Hause, versuchte er seine Gedanken wieder in den Griff zu bekommen.

      „Es wird ihr wehtun, deinem Vater übrigens auch. Sie wissen aber, dass es der Lauf der Dinge ist. Sie werden dich ziehen lassen. Manche Menschen wollen nun mal hinaus in die Welt. Sie wollen wissen, was hinter den nächsten Bergen ist. Und wenn sie es gesehen haben, wollen sie wissen, was hinter den nächsten Bergen, den nächsten Wäldern, den nächsten Meeren ist. Du gehörst zu diesen Menschen, glaube ich. Erst war es deine Wissbegierde über die Lateinschule hinaus. Da konnte ich dir ein wenig helfen. Zusätzlich hast du dir von Camann Bücher geliehen.“

      Ich muss mich auch von ihm verabschieden, schoss es Michael durch den Kopf.

      „Dann wolltest du im Umgang mit Waffen unterrichtet werden. Und jetzt ist dir hier alles zu klein und piefig geworden. Auf zu neuen Ufern! Das bist du. Du willst dir deine Träume erfüllen.“

      Ja, Träume, die nur ich kenne, dachte Michael.

      „Vorher wollen wir aber mal zusammenpacken und nach Hause fahren.“

      Wenig später fuhren sie, schweigsam geworden, der Stadt entgegen. Die Silhouette des Zisterzienserklosters glänzte in der Abendsonne. Sie beachteten es nicht.

      3

      Ein paar Wochen später begleitete Michael seinen Vater zum Stammtisch, wie er es in der letzten Zeit schon manchmal getan hatte.

      Warum er das tat, konnte er sich nicht so richtig erklären. Vielleicht suchte er unbewusst die Nähe des eher verschlossenen Vaters, weil er bald die Familie verlassen würde. Die Mitglieder des Stammtisches hatten jedenfalls nichts gegen seine Anwesenheit, zumal er sich nur in die Gespräche einschaltete, wenn er gefragt wurde.

      Sie hätten, an der Martinikirche angekommen, den direkten Weg zum Wirtshaus „Haus zur Hanse“ einschlagen können, aber den kleinen Umweg über den Altstadtmarkt nahmen sie trotz des Regens gern in Kauf. Besonders Heinrich liebte diesen Platz, so wie er die ganze Stadt liebte. Hier in Braunschweig war er zu Hause, genau wie seine Eltern es gewesen waren, bis die Pest sie viel zu früh dahingerafft hatte.

      Der Altstadtmarkt zeigte sich wie immer prächtig. Halb auf der nördlichen Seite des Kirchenschiffes von St. Martini vorbei zeigte sich auf der linken Seite das größte und schönste Rathaus der Braunschweiger Weichbilder: das Altstadtrathaus. Ein paar Schritte weiter konnte Heinrich die Rechtwinkligkeit des Zweiflügelbaues erkennen. Als Büchsenschmied hatte er eine detaillierte Vorstellung von Genauigkeit und Schönheit, die daraus entstand.

      Sie gingen schräg über den Platz, am vor Wasser triefenden Marienbrunnen vorbei in Richtung Kohlmarkt. Rechts von ihm tauchte jetzt schemenhaft das Gewandhaus auf. Die Tuchmacher hatten ihre Lager darin und wickelten auch teilweise ihre Geschäfte im und vor dem Haus ab. Gleichzeitig diente es ihnen als Gildehaus, genau wie den Büchsenschmieden.

      Michael und Heinrich Schlachmann blickten sich noch einmal um. Der dünne Nieselregen überzog die ganze Szenerie mit einem diffusen Schleier und erzeugte eine eigenartige Stimmung. Zumindest Heinrich setzte seinen Weg noch nachdenklicher fort. Seine Gedanken waren bei Sarah, seiner Frau.

      Warum nur hat Sarah nach so langer Zeit wieder das Buch und den Brief hervorgeholt? Heinrich grübelte darüber nach und spürte deutlich den Wind, der immer stärker wurde. Sie hat mich kaum wahrgenommen, als ich aus dem Haus gegangen bin. Tief versunken hat sie an unserem großen eichenen Küchentisch gesessen. Ja, früher, in den ersten Jahren unserer Ehe, da hat sie die Unterlagen häufiger studiert –zum einen sicherlich, um die Erinnerung an ihren Vater zu pflegen, zum anderen aber auch, um hinter das Geheimnis zu kommen: Das Buch des Handelshauses Don Miguel sollte Informationen erhalten. So hatte ihr Vater es in seinem Abschiedsbrief mitgeteilt, die es ihrem Bruder Alfonso und ihr ermöglichen sollten, seine Geschäfte fortzuführen. Es ist schon merkwürdig, dachte Heinrich, dass bisher keiner aus meiner Familie das Geheiminis lüften konnte. Immerhin ließ Sarahs Interesse nach, als unser Sohn Hinrich geboren wurde, und erlosch völlig, als zwei Jahre später Michael zur Welt kam. Heinrich Schlachmann versuchte trotz des jetzt unangenehmen Regens ein Lächeln. Und dann kam auch noch unser Nesthäkchen Anna.

       Jetzt, nachdem ihr Vater seit mehr als zwanzig Jahren tot war, beschäftigt sie sich plötzlich wieder mit der alten Geschichte. Warum nur?

      Heinrich konnte sich keinen Reim darauf machen. Der Vater von Sarah und Alfonso, Don Miguel, war in Celle wegen angeblicher Zauberei verhaftet worden. Er wurde der sogenannten peinlichen Befragung unterzogen und starb während der Folter.

      Ein jüdischer Kaufmann mit Namen Ibrahim Maintz hatte seinerzeit die schreckliche Botschaft und den letzten Brief des Vaters überbracht und berichtet, was er sonst noch wusste.

      Am Anfang war es schwer für Sarah und Alfonso. Ihr Vater hatte Alfonso bei Andreas Duncker, der eine Druckerei betrieb, und Sarah im Hause des Büchsenschmiedes Heinrich Schlachmann untergebracht, beides solide, angesehene Familien in der Stadt.

      Obwohl es nur vorübergehend sein sollte, denn ihr Vater wollte sie nachholen, hatte besonders der Büchsenschmied dieser Vereinbarung nur zu gern zugestimmt. Durchaus nicht zur Schwermut neigend, war er doch oft einsam in dem großen Haus. Seine Mitarbeiter in der Schmiede und das Gesinde waren kein Trost für ihn.

      Mit der Nachricht vom Tod Don Miguels hatte sich alles für die Kinder geändert. Alfonso war es, der die Verantwortung spürte, die Initiative ergriff und letztlich eine Lösung herbeiführte. Er hatte vorgeschlagen, vorläufig in