Janet Borgward

Das Mädchen mit dem Flammenhaar


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dich hier finde.“ Seit wann war sie so geschwätzig? Ich schob mein Kinn grimmig vor, starrte weiter aufs Wasser. Fast erwartete ich, dass der wundersame Fisch wieder daraus auftauchte, um mich vor was auch immer zu warnen. „Also hat dein Vater es dir gesagt?“ Statt zu antworten, stellte ich eine Gegenfrage. „Woher wusstest du davon?“ „Dein Lesestein. Er enthält zahlreiche geheimnisvolle Geschichten.“ Skyler hatte ihn in Besitz genommen, als ich die Gefangene seines Clans war. Da war ich noch davon ausgegangen, dass er ein tyrannischer Wilder ist, der in den Bäumen lebt und nicht lesen kann. „Ich sollte mir wohl mal die Zeit nehmen, die Rätsel darin zu entschlüsseln.“ Mein Vater vertraute mir den Lesestein einst an, der das Wissen sämtlicher Bücher beinhaltete. Viel zu spät begriff ich, dass er mir den Stein auch geschenkt hatte, um all die Geheimnisse, die er bewahrte, nicht selbst erklären zu müssen. „Und wie lautet deine Geschichte?“, fragte ich ihn mürrisch. „Welche Geschichte?“ Er wirkte wachsam. „Heute ist so ein Tag dafür sie loszuwerden. Mein Vater hat den Anfang gemacht. Du könntest damit beginnen mir zu erzählen, warum du nicht mehr der Anführer der Bowmen bist.“ Er sog tief die Luft ein, bevor er antwortete. „Er konnte es wohl kaum erwarten, dir das zu berichten, was?“ „Ich will hier nicht stellvertretend für meinen Vater euren Streit fortsetzen. Was ich will, sind Antworten.“ Er fuhr sich mit der Hand durch die langen Haare. Eine Geste der Unsicherheit, wie ich sie von ihm nicht kannte. „Ich habe meine Führung an Woodrow abgegeben.“ „Einfach so?“ Sein Blick nahm mich ein und ließ mich wieder los, als er sich ein Stück von mir entfernt niedersetzte. „Es war ein Tausch.“ „Und was bekamst du dafür?“ Er sah mich prüfend von der Seite an. „Noch nichts.“ Aber ich verstand auch so. Bei meiner Gefangennahme war Woodrow unter den Jägern gewesen und ich nach ihren Gesetzen seine Beute. Er hatte sein Recht nie eingefordert – bis jetzt. „Und damit hat er sich zufriedengegeben?“ „Ja.“ Ich schwieg. Zog meinen Hut weiter nach unten, um meine Augen zu beschatten. „Du verträgst die Sonne nicht gut“, bemerkte er nach einer Weile. Wie scharfsinnig. „Nein. Gibt es in den Bergen mehr Schatten?“ Er sah mich fragend an. „In Kadolonné. Gibt es da mehr Schatten?“ Seine Miene hellte sich merklich auf. „Ja. Dafür sind die Nächte empfindlich kalt.“ „Warum hast du mich nicht gefragt, ob ich mit dir dahingehe?“ „Das wollte ich, aber du bist nicht gekommen. Und als ich heute Morgen bei euch war, bin ich zuerst mit deinem Vater aneinandergeraten. Kein guter Anfang.“ „Was hattest du erwartet? Du hast dir ein Jahr Zeit gelassen, nach Gullorway zu kommen. Jetzt soll ich dir bereitwillig folgen? Ich habe mein Dorf mit den eigenen Händen erneut aufgebaut und es ist längst noch nicht fertig. Wir brauchen eine Schule, mehr Heiler und jemanden, der die Rechte der Frauen stärkt.“ „Also jemanden wie dich?“ Ein säuerlicher Ausdruck kräuselte seine Lippen. „Ich bin kein Anführer, Skyler, ich stelle nur die Weichen. Ansonsten möchte ich nur ein normales Leben führen.“ Er stieß entrüstet die Luft aus. „Was ist für dich ein normales Leben?“ „Zu sehen, wie mein Dorf wächst, dass Frauen Berufe erlernen, die sie selbst gewählt haben, dass die Menschen in Frieden …“ Mit einer blitzschnellen Drehung war er über mir und zwang mich zu Boden. „Frieden? Bist du so naiv, Avery? Hat dich die Geschichte nichts gelehrt?“ Seine Augen funkelten angriffslustig. „Ist das friedlich, wenn ich dich zu Boden zwingen kann?“ Seine Hände umschlossen meine Unterarme wie Schraubstöcke. „Du tust mir weh!“, keuchte ich. „Dann wehr dich!“ „Was ist denn in dich gefahren, Skyler?“ Langsam machte mir sein Verhalten Angst. Er schien es zu bemerken und ließ mich los. Kaum hatte ich die Hände frei, holte ich aus und schlug ihm mit der Handkante gegen das Kinn. Ein bohrender Schmerz durchfuhr mich und ich ballte die Hand zur Faust. „Geht doch.“ „Du hast sie ja nicht alle!“ Ich zwang mich, ruhig zu atmen. „Was hat dir dein Vater über deine Herkunft erzählt?“ „Das geht dich nichts an.“ Mit Genugtuung registrierte ich, wie sich sein Kinn von meinem Schlag dunkelrot verfärbte. „Hat er dir über deine Mutter …“ Unbändige Wut stieg in mir auf. Ohne Vorwarnung schlug eine Salve Feuerkugeln aus meinem linken Zeigefinger so dicht neben seinem Oberschenkel ein, dass es ihm das Leder seiner Hose schwärzte. Erschrocken über meinen unkontrollierten Ausbruch wich ich zurück, mir die eiskalte Hand reibend. Eine Nebenwirkung, die meinen Arm nach solchen Einsätzen praktisch in einen gefühllosen, kalten Eisklotz verwandelte. „Du besitzt sie also noch, deine Kräfte. Gut. Aber du solltest lernen sie besser zu kontrollieren.“ Er stand auf und klopfte sich zerdrückte Grashalme von der Kleidung. „Du kannst natürlich in Gullorway bleiben und darauf hoffen, dass dich einer dieser einfältigen Burschen irgendwann zu seiner Zugesprochenen macht. Aber können sie dein Dorf auch vor einem erneuten Angriff bewahren?“ „Es wird keine Angriffe mehr geben. Die Herren von Kandalar sind tot. Und wenn du weiterhin den Wilden spielen willst, kannst du wieder zurück in deinen Dschungel gehen.“ Ich griff nach meinem Hut und wollte auf einem anderen Weg zurückgehen. Doch eine Bemerkung von ihm ließ mich innehalten. „Sie sind nicht tot.“ „Was redest du denn da? Du warst doch dabei als die Burg gestürmt und alle bis auf den letzten Mann getötet wurden. Selbst ihre grausigen Geschöpfe, die Gelblinge, habt ihr niedergemetzelt.“ „Es gibt Gerüchte.“ „Seit wann gibst du etwas auf das, was die Leute sagen?“ „Diesmal schon. Die Nachrichten kommen aus Perges – und, wir haben Amarotts Leiche nie gefunden.“ „Die Toten wurden verbrannt“, erinnerte ich ihn. „Aber erst nachdem wir sie gezählt und identifiziert hatten. Fünfhundertdreiundsechzig der Herren von Kandalar – und Amarott war nicht unter ihnen. Er muss einen Fluchtweg gefunden haben.“ Mir blieb fast das Herz stehen. Amarott, der Erbe Mahilo-Eschs und – Skylers Halbbruder. Das Letzte was ich von ihm sah, war der verzweifelte Versuch, in sein Haus hineinzugelangen, bevor er mit dem wütenden Mob verschmolz. Ich stand auf der anderen Seite der Tür, deren Eintritt ich ihm versperrte. Skyler strich mir sanft über den Arm. Die Berührung verursachte mir trotz der Mittagshitze eine Gänsehaut. „Das kann unmöglich wahr sein“, hauchte ich. „Ich war nochmals dort, auf der Burg von Kandalar. Dabei habe ich etwas entdeckt.“ Gespannt hielt ich den Atem an. „Einen unterirdischen Gang. Wusstest du davon?“ Statt einer Antwort nagte ich an meiner Unterlippe und dachte fieberhaft nach. Konnte es sein, dass Amarott diesen Weg gewählt hatte, um sich heimlich davonzustehlen? Und falls ja, wie war es ihm gelungen, zu der Insel Perges zu gelangen? „Die Burg hat zahlreiche geheime Gänge.“ „Du hast eine Weile dort gelebt. Vielleicht erinnerst du dich an einen …“ „Fängst du schon wieder damit an? Ich hatte mir die Gesellschaft nicht freiwillig ausgesucht.“ Er trat näher. „Entschuldige. Ich wollte dir nichts unterstellen.“ Abrupt wandte ich mich von ihm ab. „Nenn mir einen Grund, warum ich ausgerechnet mit dir nach Kadolonné gehen sollte“, maulte ich vor mich hin. „Weil es noch nicht vorbei ist. Die Bedrohung besteht nach wie vor.“ „Hast du dafür Beweise?“ „Mag sein, dass es nur ein Gerücht ist. Aber wenn wir auf Beweise warten wollen, könnte es zu spät sein!“ „Wir? Für dich steht also schon fest, dass ich mitkomme? Seit wann weißt du davon?“ „Spielt das eine Rolle?“ „Du weichst mir aus. Seit wann?“ „Seit einer Woche.“ „Und wenn du nie davon erfahren hättest?“ „Wäre ich trotzdem nach Gullorway gekommen, falls du darauf anspielst.“ Sanft drehte er mich zu sich um. In seinem Gesicht war ein innerer Kampf abzulesen. „Die Zeiten haben sich geändert, Skyler. Auch wenn ich euer Brandzeichen trage, bindet es mich nicht mehr an die Bowmen. Ich kann entscheiden, wie und wo ich leben möchte.“ Seine Hände gaben mich frei. Trotzig verschränkte ich die Arme vor der Brust, brachte wieder etwas Abstand zwischen uns. „Ich war in Kadolonné. Viele Monate“, begann er stockend, die Augen aufs Wasser gerichtet. „Fast hätte ich mich darin verloren aber …“ Für den Bruchteil einer Sekunde huschte ein ungewohnt scheues Lächeln über seine Gesichtszüge und verriet den Menschen hinter der harten Schale. „Erzähl mir davon“, ermunterte ich ihn ergeben, weil ich spürte, dass es wichtig war, was er mir zu sagen hatte. „Das Kloster Kadolonné haftet an dem Bergmassiv der Ellar Hills, als wäre es daraus entwachsen und nicht von Menschenhand erschaffen, den Javeérs. Vor hunderten von Jahren wurden von Perges aus dreizehn Mönche entsandt, um die bedrohte Kultur der Ya-Aks im Kampf zu unterstützen. Als Dank für ihre guten Dienste wurde das Kloster Kadolonné in den Ellar Hills errichtet und ihnen besondere Privilegien zugestanden. So kam es ihnen unter anderem zu, Mönche als Krieger auszubilden. Die Kampfkünste der Mönche wurden in unzähligen Varianten und Techniken ausgeübt. Doch als ihr Großmeister im Kampf gegen die Herren von Kandalar heimtückisch von einer unbekannten Macht getötet wurde, wussten selbst sie nichts dagegen auszurichten.