aus dem Haus stehlen, um mich mit Skyler bei den Stallungen zu treffen. Kaum hatte ich die Hand auf den Türknopf gesenkt, da vernahm ich die gekränkte Stimme meines Vaters.
„Wolltest du wirklich gehen, ohne dich von mir zu verabschieden, Avery?“
Erschrocken hielt ich in der Bewegung inne. Dann fasste ich mich wieder.
„Ich dachte, gerade du müsstest das verstehen.“
Eine knöcherne Hand, an der der Zeigefinger fehlte, legte sich auf meine Schulter und versuchte mich aufzuhalten. Unwirsch schüttelte ich sie ab und riss die Tür auf. Die Hand glitt von meiner Schulter, strich mir sachte über den Rücken, bis sie den Saum meines Umhangs zu fassen bekam, als wolle sie mich halten.
„Lebwohl, mein Kind. Du warst mein größtes Glück. Mögen die Götter mit dir sein.“
Ohne mich noch einmal umzudrehen, stapfte ich davon. Viel zu spät kam die Erkenntnis, dass er Lebwohl gesagt hatte, nicht auf Wiedersehen. Doch ich war zu verbittert, um ihm sein über die Jahre gehütetes Geheimnis zu verzeihen. Wie hätte ich auch ahnen sollen, dass wir uns zum letzten Mal sahen?
„Gab es Probleme?“, fragte Skyler, als ich in den Stall trat.
Zwei Pferde waren bereits gesattelt und ein Lapendor, ein zotteliges Lastentier, stand mit Proviant bepackt daneben.
„Nein. Alles gut“, log ich und hatte Mühe, das Zittern in der Stimme zu verbergen.
Er nahm mir den Lederbeutel ab, warf einen prüfenden Blick hinein, bevor er ihn zu dem übrigen Reisegepäck auf dem Lapendor festzurrte.
„Hast du dein Messer und den Lesestein?“, erkundigte er sich angespannt.
Ich rollte mit den Augen. Das konnte ja heiter werden.
„Bist du jetzt mein Vater?“, fuhr ich ihn unbeherrscht an.
„Zum Glück nicht“, knurrte er.
Kurzerhand entschied ich mich für den Fuchs, wand Skyler die Zügel aus den Händen und saß auf. Ich gab dem Pferd die Sporen und preschte voraus. Noch vor einem Jahr wäre dies undenkbar gewesen. Doch inzwischen hatte ich gelernt, mich im Sattel zu halten und auch Gefallen daran gefunden.
Es dauerte eine Weile, bis Skyler aufholte, das gutmütige Lapendor im Schlepptau. Er brachte sein Pferd an meine Seite, und zwang mich dadurch anzuhalten.
„Was?“, herrschte ich ihn immer noch aufgewühlt an.
„Bevor wir diesen Weg fortsetzen, lass uns reden, Avery!“
Mit einer fließenden Bewegung glitt er aus dem Sattel.
„Wozu? Für dich steht doch schon fest, wohin uns der Weg führt. Was sollte dich da meine Meinung interessieren?“
„Ich will jetzt hören, was du zu sagen hast, bevor wir den langen Weg auf uns nehmen und uns nur angiften.“
„Darf ich dich daran erinnern, dass es deine Idee war und nicht meine?“
„Ist es das, was dich stört?“ Eine Augenbraue schnellte spöttisch in die Höhe.
„Das und so vieles mehr!“ Ich spürte, wie ich mich in Rage zu reden begann und zwang mich zur Ruhe. Er sollte in mir nicht mehr das sechzehnjährige Mädchen sehen, das er gehen ließ, sondern eine erwachsene Frau.
„Dann lass mal hören“, forderte er mich mit samtiger Stimme auf, was mich nur noch höher brachte.
„Nun gut. Du bequemst dich nach einem Jahr hierher und erwartest, dass ich in Begeisterungsstürme ausbreche. Dass ich die Menschen zurücklasse, die mir etwas bedeuten. Du fragst mich nicht, wie es mir in dieser Zeit ergangen ist, aber ich soll dir in eine ungewisse Zukunft folgen, zu einer Gruppe verschrobener Mönche, die in der Abgeschiedenheit der Ellar Hills hausen. Selbst nur aufgeschnappte Gerüchte im Gepäck, glaubst du meine Ausrüstung hingegen kontrollieren zu müssen, wie du alles gern unter Kontrolle hast.“
Ich verschränkte die Arme vor der Brust zum Zeichen dafür, dass ich mir fürs Erste alles von der Seele geredet hatte.
Skyler wartete geduldig, ob ich meiner Tirade noch was hinzuzusetzen hatte. Jeglicher Spott war aus seinem Gesicht gewichen. Seine Stimme klang fest und bestimmt.
„Ich habe dir bereits erklärt, dass ich Zeit brauchte mich selbst zu finden, indem ich Antworten bei den Javeérs suchte. Ich wollte nicht, dass du etwas für mich empfindest, sollte in mir derselbe Dämon leben, wie in meinem Halbbruder Amarott.“ Seine Augen bemühten sich um Blickkontakt. Ich sah jedoch rasch an ihm vorbei, um klar denken zu können.
„Es betrübt mich, deinen Vater in die Enge gedrängt zu haben, womit das gut gehütete Geheimnis deiner Herkunft ans Tageslicht kam. Ich wollte euch nicht entzweien.“
Er trat in mein Blickfeld und zwang mich damit, ihn anzusehen.
„Durch deine Ausbildung bei den Javeérs bist du wertvoller für die Menschen, die dir am Herzen liegen, als wenn du mit ihnen einen steinharten Acker bearbeitest.“
Ich wollte protestieren, doch er hob gebieterisch die Hand.
„Allein die Javeérs sind in der Lage, deine Fähigkeiten zu ergründen und auszubilden.“
„Was macht dich da so sicher?“, unterbrach ich ihn und erntete ein zorniges Funkeln seiner Augen.
„Lass mich ausreden! Ich habe dich auch nicht unterbrochen!“
Ja, Meister. Wie du befiehlst, Meister. Ich hasste es, wenn er sich so aufspielte.
„Die mir zugetragenen Informationen über die gelungene Flucht Amarotts stammen nicht zuletzt von den Javeérs selbst, die über ein ausgezeichnetes Netz von Informanten verfügen. Und zu deiner letzten Frage: Es verging kein Tag, keine Nacht, an dem meine Gedanken nicht bei dir waren. Ich wollte dich in deinem Handeln nicht beeinflussen. Du bist jung, Avery, musst deinen Weg erst finden. Ein Leben im Dschungel von Greenerdoor wäre für dich, als würde man einen Tiger im Käfig einsperren.“
Er verstand sich gut darauf, zu argumentieren. Zweifelnd forschte ich in seinen markanten Zügen, ob seine Worte der Wahrheit entsprachen, wollte ihm gern glauben aber …
„Ich hatte mich bereits für Gullorway entschieden, für den Wiederaufbau. Dein Stolz jedoch verbot es dir, sich mir anzuschließen. Was immer es war, dass dich nach so langer Zeit bewog mich hier aufzusuchen, hat nichts mit Gefühlen für mich zu tun.“
Meine Schultern strafften sich in dem Bemühen, meinen Worten Nachdruck zu verleihen.
„Wärst du am Abend meiner Ankunft zu Jodee gekommen, auf ein gemeinsames Glas Kumbrael, hätte ich dir bewiesen, was mich sonst noch nach Gullorway geführt hat.“ Seine Stimme nahm einen rauchigen Unterton an.
„Ja, sicher. Gemeinsam hätten wir dem Alkohol zugesprochen, von dem du bei Weitem mehr verträgst als …“
Urplötzlich versiegelten seine weichen Lippen die meinen, saugten die restlichen Worte in sich auf, die daraufhin zu einem grollenden Gurgeln erstarben. Meine Knie wurden weich. Sonstige Rechtfertigungen fanden keinen Nährboden mehr. Feine Bartstoppeln kratzten mir übers Gesicht wie Brennnesseln, stimulierende Reize aussendend.
„Du hast mir gefehlt, Montai.“
„Warum jetzt?“, setzte ich zu einer letzten Gegenwehr an. Das Prickeln endete. Der Mund verzog sich zu einem warmen Lächeln.
„Weil die Zeit dafür gekommen ist.“
Elegant hob er mich aufs Pferd. Bevor wir aufbrachen, reichte er mir einen reich verzierten Bogen sowie einen gefüllten Pfeilköcher.
„Ein Ortegramm?“, mutmaßte ich in dem Bestreben, meine Emotionen wieder unter Kontrolle zu bekommen. Nur wenige waren in der Lage, ein Ortegramm herzustellen. Es ermöglichte dem, der es angefertigt hatte, die beschenkte Person überall zu orten.
Meine Finger fuhren über die kunstvollen Schnitzereien des Bogens. Skyler blieb mir die Antwort schuldig, folgte jedoch meinem prüfenden Ertasten, wie ein Händler, der wusste, dass seine Ware einzigartig ist.
Der Pfeilköcher, hergestellt aus gehärtetem Dschellaleder, wies die Insignien der Bowmen