Janet Borgward

Das Mädchen mit dem Flammenhaar


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überspült wurden. „Warum warst du in Kadolonné?“, bedrängte ich ihn, bevor er sich mir wieder verschloss. Einen Moment senkte er die Augenlider, als wolle er einfach nur die erfrischende Kühle des Stroms genießen. „Weil ich erfahren wollte, wer ich bin. In Amarotts und meinen Adern fließt das gleiche Blut – wenn unsere Väter auch nicht dieselben waren.“ „Und? Hast du bei den Javeérs die Antworten gefunden, nach denen du suchtest?“ Meine Stimme klang belegt. „Ein Mönch wusste zu berichten, was ich jahrelang aus meinem Gedächtnis ausgesperrt hatte: Lord Mahilo-Esch, der ein Faible für junge Frauen hatte, lernte meine Mutter kennen, da war sie gerade sechzehn. Sie hingegen erwiderte seine Liebe nicht. Zum damaligen Zeitpunkt wusste Mahilo-Esch nicht, dass sie bereits ein Kind von meinem Vater erwartete – mich.“ Skylers Augen verdüsterten sich. „Als er sie also für sich beanspruchte und mein Vater ihm dabei im Weg war, verbannte er ihn kurzerhand in die Ellar Hills, darauf hoffend, dass er dort sein Ende fand. Schon bald dämmerte ihm, dass ich nicht ihr gemeinsames Kind sein konnte. Kaum, dass ich geboren war, ließ er mich irgendwo aussetzen. Der Zufall wollte es, dass mich eine kinderlose Frau aus Timno Theben fand und bis zu meinem fünften Lebensjahr aufzog.“ Ich sah ihn an und las den Schmerz in seinen Augen über das, was nun folgte. „Mahilo-Esch behandelte meine Mutter wie eine Leibeigene, wie man mir erzählte. Sie hatte ihm zu Diensten zu sein, wann, wo und wie er wollte. Dabei ging er – sehr experimentell vor. Sie war die erste Frau, die zu den gefürchteten Gelblingen mutierte.“ Skylers Stimme veränderte sich und nahm einen schroffen Tonfall an. „Auf irgendeine Weise musste meine leibliche Mutter davon Kenntnis erhalten haben, wo die Frau lebte, die mich aufzog. Sie hat sie getötet und mich – na ja, die Narben dürften dir nicht verborgen geblieben sein.“ Narben, die sein kunstvolles Tattoo auf der Brust, eine geflügelte Schlange, durchtrennten. „LeBronn, der Bruder meiner Ziehmutter und selbst ein ehemaliger Mönch der Javeérs war es schließlich, mit dem ich nach Greenerdoor ging. Gerade mal eine Hand voll Männer schlossen sich uns an. Den Rest der Geschichte kennst du ja.“ „Aber was ist dann mit Amarott? Ich denke, er ist dein Halbbruder?“ „Er war das letzte Kind unserer Mutter, bevor sie vollends mutierte.“ Es entstand eine unangenehme Pause, in der ich ihm Zeit gab, sich zu sammeln. Dennoch brannte mir eine Frage unter den Nägeln. „Es tut mir leid für dich, dass du so traurige Nachrichten erfahren musstest. Was hat dich trotzdem dazu bewogen, so lange bei den Javeérs zu bleiben?“ „Du gibst heute wohl keine Ruhe mehr, was?“ Sein Gesicht wirkte noch angespannt, doch den Worten fehlte die Schärfe. „LeBronn hatte mir einst geraten, ich solle sie aufsuchen, wenn er von dieser Welt ging. Er war einer von ihnen. So bat ich die Javeérs, mich zu lehren, wozu sie fähig sind. Dies im Einzelnen aufzuzählen würde jetzt den zeitlichen Rahmen sprengen. Wie du sicherlich schon bemerkt hast, verfüge ich bereits über die ein oder andere Begabung“, setzte er voraus. „Falls du damit andeuten willst, dich anzuschleichen, ohne dabei das geringste Geräusch zu machen, so musst du noch daran arbeiten.“ „Ich wollte dich nicht erschrecken.“ Er brachte ein Lächeln zustande, bei dem mir augenblicklich warm ums Herz wurde. „Es sind überwiegend kämpferische Fähigkeiten. Da die Zeit drängt, setzten sie dort an, wo vorhandenes Potenzial nur verfeinert werden musste. Doch reicht dies bei Weitem nicht aus.“ Schweigend verarbeitete ich das soeben Gehörte, bevor ich ihn fragte: „Warum soll ich mit dir nach Kadolonné gehen?“ „In dir ruhen bereits all ihre Gaben, wodurch du viel schneller über die gesamte Leistungsfähigkeit verfügen wirst. Die Javeérs werden erwecken, was in dir steckt. Es ist an der Zeit, dass du deine Magie überlegen einzusetzen lernst.“ Er strich mir sachte übers Gesicht. „Und – weil es mein Wunsch ist, dass du statt meiner die Ausbildung bei ihnen aufnimmst.“ „Ich werde darüber nachdenken.“ So einfach wollte ich mich nicht geschlagen geben. Ich ließ ihn stehen und marschierte zurück.

      Aufbruch nach Kadolonné

      „Was soll ich denn jetzt machen?“, fragte ich Jodee, während wir in ihrer Behausung bei einem erfrischenden Becher Kräutertee saßen. Unschlüssig starrte ich auf die darin schwimmenden Ingwerstückchen, als hätten diese für mich eine Lösung parat.

      Nach den unfassbaren Enthüllungen meines Vaters war ich nicht mehr gewillt, mit ihm unter einem Dach zu leben. Skyler widerstandslos zu folgen gefiel mir hingegen genauso wenig.

      „Hm“, brummte Jodee, als ich meinen Bericht beendet hatte. „Wozu raten dir denn die Karten?“

      „Ich nehme sie nicht mehr zu Hilfe“, antwortete ich verbittert. Früher konnte ich aus ihnen die Zukunft lesen, doch das Massaker in Gullorway hatte ich nicht darin gesehen.

      „Dann eben deine innere Stimme, bei den Göttern! Was sagt sie dir?“ Theatralisch flogen ihre kleinen Hände in die Luft ob meiner Begriffsstutzigkeit.

      Seufzend ließ ich die Luft entweichen. „Auf welche von den tausend Stimmen soll ich denn hören? Einerseits will ich den Aufbau Gullorways weiter vorantreiben. Dann wieder will ich mich an den einfachen Dingen des Lebens erfreuen. Es erfüllt mich mit Stolz zu sehen, wie aus dem verdorrten Land fruchtbarer Boden entsteht.“

      „Es gibt genügend Männer hier im Ort, erfahrene Handwerker, die bei der Errichtung des Dorfes behilflich sein können. Und um dem kümmerlichen Korn beim Wachsen zuzuschauen kannst du auf die Feldarbeiter vertrauen.“

      „Du willst mich also auch loswerden“, warf ich gekränkt ein.

      Sie legte ihre kleine, dunkle Hand versöhnlich auf meine und drückte sie leicht.

      „Niemand will dich loswerden, Avery, und ich schon gar nicht. Glaube mir, ich sähe dich viel lieber als Heilerin denn als Kriegerin, aber Skylers Bedenken einer bevorstehenden Gefahr sind nicht von der Hand zu weisen. Er hat Recht, wenn er die Ansicht vertritt, dass wir uns nicht in Sicherheit wähnen sollten.“

      „Aber wir leben doch jetzt in friedlichen Zeiten.“ Inzwischen war ich aufgesprungen und durchwanderte aufgebracht den Raum. „Nach Jahrhunderten der Tyrannei sind die Menschen von Kandalar endlich ein freies Volk.“

      Jodee sah mich geduldig an, wie man zu einem Kind schaut, dass gerade seine Trotzphase durchlebt.

      „Und genau darin liegt die Gefahr. Es muss jemanden geben, der dieses Land führt. Die ersten Gesetzlosen durchbrechen bereits unsere unzureichend gesicherten Grenzen, um sich unter die breite Masse zu mischen. Selbst Timno Theben, die Goldene Stadt, erhöht ihre Schutzmauern, damit der Pöbel fernbleibt. Dabei handelt jeder Clanführer Kandalars nur im eigenen Interesse. Frieden, wie du ihn dir vorstellst, wird es niemals geben, Avery. Aber jetzt haben wir noch die Gelegenheit, ein lebenswertes Kandalar zu schaffen.“

      „Dachtest du an jemand bestimmten für diese Rolle?“

      Sie schüttelte lachend den Kopf und schenkte mir ein entwaffnendes Lächeln. „Politik ist nicht meine Berufung.“

      „Meine auch nicht und von kriegerischen Handlungen habe ich für den Rest meines Lebens genug. Warum sollte ich mich daher in etwas ausbilden lassen, dass ich nicht will?“

      „Niemand von uns kann stets tun und lassen, wonach ihm der Sinn steht.“ Der Humor in ihrer Stimme war einem scharfen Unterton gewichen. „Geh mit Skyler nach Kadolonné, Avery! Wenn dir seine Beweggründe auch nicht klar erscheinen, so besitzt er dennoch ein feines Gespür für die entscheidenden Dinge des Lebens.“

      Es ärgerte mich, dass stets andere zu wissen glaubten, was das Beste für mich ist.

      „Du hast mich gefragt“, sagte Jodee, als hätte sie meine Gedanken erraten.

      „Also nach Kadolonné?“

      Sie nickte bejahend.

      „Aber ich weiß doch erst so wenig über die Heilkunst. Hat es denn nicht Zeit bis …“

      „Bis wann, Avery? Bis du die Ausbildung zur Heilerin abgeschlossen hast? Das dauert Jahre. Und auch bei den Javeérs versteht man sich auf diese Kunst.“

      „Was ist, wenn die Zeit in Kadolonné aber nicht ausreicht mich auszubilden? So wie Skyler sich anhörte, steht Amarott – wenn er denn tatsächlich überlebt hat – schon mit einem Fuß auf Grund und Boden Kandalars.“

      „Dann hast du es zumindest versucht.“

      Kraftlos